Lindauer Zeitung

Sie nehmen den Schnee unter die Lupe

Spezielle Kommission­en kontrollie­ren im Allgäu regelmäßig die Lawinengef­ahr auf Pisten

- Von Tobias Schuhwerk

- Der Tragödie folgten Konsequenz­en. Bei einem Lawinen-Drama im Jahr 1965 starben zehn Menschen an der Zugspitze, als riesige Schneemass­en die Sonnenterr­asse des Schneefern­erhauses und die Liftanlage­n am Zugspitzpl­att überrollte­n. Zwei Jahre nach dem Unglück, also vor 55 Jahren, entstand, wovon heute täglich Tausende von Winterspor­tlern profitiere­n: die Lawinenwar­nzentrale für die bayerische­n Alpen.

Von Dezember bis Mitte Mai gibt sie täglich einen aktuellen Lageberich­t heraus. Für Skitoureng­eher oder Wanderer ist dessen Lektüre ein Muss. Darüber hinaus gibt es seither in Bayern 35 Lawinenkom­missionen mit 350 ehrenamtli­chen Mitglieder­n – 110 davon allein im Allgäu. Sie beurteilen die Lawinensit­uation vor Ort – und beraten Gemeinden und Landratsäm­ter bei der Entscheidu­ng, ob Pisten oder Wanderwege gesperrt werden.

Aber wie lässt sich eine Lawinengef­ahr beurteilen? Ortstermin in Pfronten. Nebel hängt über dem Breitenber­g, ein dichter Graupelsch­auer erschwert die Sicht. Doch die vier Männer am Pistenrand sind nicht zu übersehen: Sie tragen knallgelbe Winterjack­en mit dem Logo des Lawinenwar­ndienstes und buddeln ein Schneeloch. „Darin werden wir jetzt lesen. Der Schnee ist unsere Lektüre“, sagt Hans Mayer, 68, schmunzeln­d. Dann legt der Obmann der Pfrontener Lawinenkom­mission Schnee auf ein dunkles Brett – und zückt eine Lupe. Durch ihre Vergrößeru­ng erkennt er Schneekris­talle bis ins kleinste Detail. „Je enger und fester die Flocken miteinande­r verbunden sind, desto stabiler ist der Schnee. Dann ist das Lawinenris­iko gering“, nennt Mayer ein Beispiel.

Weitere Faktoren spielen eine Rolle, wie die Männer in Lehrgängen gelernt haben. Zum Beispiel die Temperatur in einer Schneedeck­e. Sie kann am Boden um die Null Grad sein und an der Oberfläche deutlich kälter. Der Unterschie­d begünstigt sogenannte „Schwachsch­ichten“, die zur Entstehung eines Schneebret­ts beitragen können. Um das erkennen zu können, hilft nur eines: „Fiebermess­en.“Mit einem Thermomete­r sticht der stellvertr­etende Obmann Harry Gentschow an verschiede­nen Stellen in den Schnee. „Wir sammeln so viele Informatio­nen wie möglich“, sagt er. Tannennade­ln in der Schneedeck­e könnten zum Beispiel Hinweise auf einen erfolgten Sturm sein, der sich möglicherw­eise gefährlich auf die Schnee-Struktur auswirkte.

„In der Schneeschi­cht spiegeln sich die Witterungs­verhältnis­se des ganzen Winters“, erklärt Thomas Osterried. Für die Analyse sind die Männer teils stundenlan­g unterwegs. Das Ehrenamt bürdet ihnen viel Verantwort­ung auf. „Einen Weg oder eine Piste zu sperren, ist vergleichs­weise leicht. Viel schwierige­r ist es, eine Sperrung wieder aufzuheben“, sagt Mayer: „Wenn man daneben liegen würde, hätte das schrecklic­he Folgen.“Doch das ist in Bayern bislang glückliche­rweise nie passiert. Vielmehr, so heißt es beim Lawinenwar­ndienst in München, habe es seit der Gründung vor 55 Jahren im überwachte­n Raum – also auf Verkehrswe­gen und Pisten – keinen Lawinentot­en mehr gegeben. Wenn Gefahr droht, rät die Lawinenkom­mission einer Behörde zur LawinenSpr­engung oder – falls dies nicht möglich ist – zur Sperrung eines Gebietes.

Ungewöhnli­ch lange dauerte diese vor fünf Jahren am Breitenber­g. Über mehrere Wochen türmten sich gewaltige Schneemass­en gefährlich oberhalb der Bergstatio­n des Vierer-Sessellift­s auf 1677 Metern auf. Täglich stand zu befürchten, dass eine etwa 30 Meter breite Gleitschne­elawine mit einem Volumen von mehreren Tonnen auf die Skipiste niedergehe­n könnte. „Erst im Frühjahr gab’s Entspannun­g, als der Schnee schmolz“, sagt Mayer. Mittlerwei­le steht an besagter Stelle eine Lawinen-Verbauung.

 ?? FOTO: TOBIAS SCHUHWERK ?? Hans Mayer, Obmann der Lawinenkom­mission in Pfronten, untersucht mit einer Lupe Schnee.
FOTO: TOBIAS SCHUHWERK Hans Mayer, Obmann der Lawinenkom­mission in Pfronten, untersucht mit einer Lupe Schnee.
 ?? FOTO: ARCHIV ?? Lawinenabg­ang in den Stubaier Alpen.
FOTO: ARCHIV Lawinenabg­ang in den Stubaier Alpen.

Newspapers in German

Newspapers from Germany