„Ich trank heimlich und allein“
Im Unterallgäuer Legau steht eine Fachklinik für suchtmittelabhängige Frauen
- Wenn Anna, 49, noch einmal von vorne anfangen könnte, käme ein Mensch in ihrem Leben nicht mehr vor: ihr Ehemann. Als gewalttätigen Narzissten beschreibt sie den beruflich erfolgreichen Selbstständigen, der sie ihren Worten nach demütigte, verspottete und attackierte, bis ihr Selbstwertgefühl nur noch so klein war wie eine Maus. „Ich fühlte mich in unserem Haus auf dem Land wie gefangen. Ich empfand keine Glücksgefühle mehr – außer, wenn ich Alkohol getrunken hatte.“Oft leerte sie mittags das erste Glas Wein; am Abend waren meist eineinhalb Flaschen weg. Die einstmals fröhliche und energiegeladene Mutter eines fast erwachsenen Kindes versank in Lethargie.
„Jede Sucht macht einsam. Irgendwann gibt es nur noch das Date mit der Flasche. Auf Frauen trifft das besonders zu. Sie rutschen oftmals im Verborgenen in die Sucht ab“, sagt Thomas Richter, Therapeutischer Leiter der AWO-Fachklinik für suchtmittelabhängige Frauen in Legau (Unterallgäu).
Die idyllisch am Ortsrand gelegene Einrichtung mit 45 Plätzen ist die einzige dieser Art in Schwaben. Auch Mütter mit Kindern finden hier Voraussetzungen, um in einem mehrwöchigen Aufenthalt den Teufelskreis der Abhängigkeit zu durchbrechen. Einzel- und Gruppentherapien, Sportmöglichkeiten oder begleitende Behandlungen, beispielsweise von Traumaerfahrungen oder Depressionen, helfen dabei. Bezahlt wird die Therapie von Krankenkassen, Rentenversicherungen oder Sozialhilfeträgern. „Bei Alkoholsucht denken viele an einen Mann mit Säufernase. Doch das sind Klischees“, sagt Richter. Etwa
ein Drittel der Alkoholabhängigen in Deutschland seien Frauen. Legau ist für viele ein Wendepunkt im Leben: 4500 Patientinnen wurden dort seit der Eröffnung der Fachklinik vor 45 Jahren behandelt. Die Erfolgsquote bezeichnet Richter mit „50:50“.
An der Eingangstür stehen zwei Wörter auf einem gelben Schild. „Respekt“lautet das eine. Das andere: „Gewalt“. Es ist mit roter Farbe durchgestrichen. „Viele Patientinnen haben Gewalt durch Männer erfahren. Sei es in der Kindheit oder in ihrer Beziehung“, sagt Richter. Gerade für sie sei es wichtig, dass keine Männer zu den Patienten gehören. „Man fühlt sich hier sicher und geborgen. Das ist ganz wichtig, um sich und sein Leben zu überdenken. Kraft geben auch die anderen Patientinnen. Wir sind in Wohngemeinschaften untergebracht, reden viel miteinander, helfen uns, hören zu“, sagt Rita, die in einer 15-wöchigen Therapie ihre Alkoholsucht bekämpft. Zuvor
hat sie unter medizinischer Aufsicht entgiftet. Die zuletzt alleine lebende Bibliotheksassistentin, Anfang 60, litt besonders unter der Corona-Krise. „Die Einsamkeit wurde noch größer. Ich hatte selbst im Büro kaum Kontakt zu Kollegen – und wenn, dann nur per Video.“Als sie von den Chefs gebeten wurde, selbst ins Homeoffice zu gehen, erlitt sie einen Nervenzusammenbruch: „Ich war völlig überfordert, hatte keine Ahnung von der Technik, konnte nicht mehr.“Ihren Kummer ertränkte sie im Wein: „Ich trank heimlich und allein.“Die Wende brachte eine klare Ansage ihres erwachsenen Sohnes: „Mama, so geht es nicht weiter!“In der Fachklinik will Rita genau wie die anderen Frauen den Grundstein für ein Leben ohne Sucht legen. „Das erfordert Mut“, sagt Therapeut Richter. „Nämlich den Mut zur Veränderung.“
Auch Anna ist bereit dafür. Von ihrem Mann will sie sich genauso trennen wie vom Alkohol.