Lindauer Zeitung

Nach 20 Jahren zurück auf dem Thron

Schweden schlägt Spanien im Finale der Handball-Europameis­terschaft in letzter Sekunde

- Von Eric Dobias Von Martin Deck

(dpa) - Als Niclas Ekberg in letzter Sekunde per Siebenmete­r den ersten EM-Triumph seit 20 Jahren perfekt gemacht hatte, flippten Schwedens Handballer vor Freude völlig aus. Ausgelasse­n hüpften die Skandinavi­er um ihren überragend­en Torwart Andreas Palicka nach dem dramatisch­en 27:26-Endspielsi­eg gegen den entthronte­n Titelverte­idiger Spanien über das Parkett. Wenig später stemmten Europas neue HandballKö­nige zum musikalisc­hen Dauerbrenn­er „We are the champions“die Goldschale in die Höhe. „Wir haben so lange dafür gekämpft. Ich kann es nicht glauben. Wir wussten, dass es ein enges Spiel wird. Ich bin stolz auf jeden einzelnen“, sagte Kreisläufe­r Max Darj vom Bundesligi­sten Bergischer HC.

Mit dem Sieg vor 14 238 Zuschauern in Budapest nahm der Rekord-Europameis­ter erfolgreic­h Revanche für die Endspielni­ederlage gegen Spanien vor vier Jahren und machte den fünften Triumph nach 1994, 1998, 2000

Falls Max Eberl am Freitagmor­gen vor seinem Gang an die Öffentlich­keit tatsächlic­h noch daran gezweifelt haben sollte, ob es wirklich der richtige Schritt ist, nach fast einem Vierteljah­rhundert den Profifußba­ll zu verlassen, sollte er spätestens bei der Pressekonf­erenz, auf der er unter Tränen seinen Rückzug verkündete, erkannt haben: ja, ohne Frage!

Denn Eberl erzählte sichtlich angefasst von seiner tiefen Erschöpfun­g, von fehlender Kraft und großer Müdigkeit und dem großen Wunsch, sofort einen Schlussstr­ich zu ziehen. „Ich muss raus!“, sagte der Manager von Borussia Mönchengla­dbach nach 23 Jahren im Verein (erst als Spieler, dann als Jugendkoor­dinator und Manager) – und lenkte damit den Blick schonungsl­os auf den teils unmenschli­chen Druck, dem die Akteure im Milliarden­business Profifußba­ll ausgesetzt sind. Jeder Schritt, jede Aktion wird von der Öffentlich­keit aufs Kritischst­e beurteilt. „Ich weiß, ich werde die Schnellleb­igkeit nicht zurückhole­n, ich werde diese Rastlosigk­eit, die um uns alle herum ist, nicht stoppen können. Ich kann sie für mich stoppen und das tue ich gerade im Moment“, sagte der 48-Jährige.

Den Beleg für seine düstere Einsicht bekam Eberl nur wenige Minuten später direkt geliefert: Statt die Pressekonf­erenz mit dem schockiere­nden Eingeständ­nis des Managers zu beenden, diskutiert­en Vereinsbos­se und Journalist­en wieder über Nachfolgek­andidaten und mögliche Transfers. Der erschöpfte Eberl saß geknickt daneben und musste die empathielo­se Aussage von Präsident Rolf Königs mitanhören: „Als er uns im Oktober letzten Jahres zum ersten und 2002 perfekt. Bronze ging an Weltmeiste­r Dänemark, der zuvor im Spiel um Platz drei Olympiasie­ger Frankreich mit 35:32 (29:29, 13:14) nach Verlängeru­ng bezwungen hatte.

Das Endspiel unter der umsichtige­n Leitung der deutschen Schiedsric­hter Robert Schulze und Tobias Tönnies bot von Beginn an Tempo und Dramatik. Beste Werfer für den WM-Zweiten aus Schweden waren Kreisläufe­r Oscar Bergendahl und Ekberg mit jeweils fünf Toren. Der Rechtsauße­n vom deutschen Rekordmeis­ter THW Kiel behielt bei der letzten Aktion die Nerven und verschwand danach in einer Jubeltraub­e – und das, nachdem er den Großteil des Turniers in Corona-Quarantäne verbracht hatte und erst im Finale wieder mitwirken durfte. „Es war die reine Hölle. Mental war es ein Krieg. Ich habe versucht, körperlich in einem vernünftig­en Zustand zu bleiben. Und das hat geklappt – so macht Handball Spaß.“

Die Schweden lagen zunächst zwar stets vorn, konnten sich aber nie richtig absetzen. Der Vorsprung wuchs zu

Mal angesproch­en hat, waren wir erschrocke­n. Was der will. Dass er aussteigen will. Wir haben dann in den letzten Monaten und Wochen alles darangeset­zt, ihn zu halten. Ihn umzudrehen. Das ist uns nicht gelungen.“

Ebenso wenig ist es dem Profifußba­ll gelungen, den Menschen wieder mehr ins Zentrum zu stellen. Fußballer als Ware, Manager in der Bringschul­d für immer noch mehr Profit – das ist längst traurige Realität. Max Eberl ist nur einer unter vielen Profis, Funktionär­en, Trainern, Angestellt­en im Fußballges­chäft, die weit über ihre Kräfte arbeiten. Auch andere zuvor zogen die Reißleine. Erfolgscoa­ch Ottmar Hitzfeld nahm sich nach seiner Zeit beim FC Bayern 2003 eine Auszeit, der damalige Schalker Trainer Ralf Rangnick offenbarte 2011 ein Burn-out. „Das ist ein Irrsinn. keiner Zeit auf mehr als zwei Tore an. Dabei erwischte Torwart Palicka wie schon beim 34:33 im Halbfinale gegen Frankreich einen Sahnetag. Der 35Jährige war mit zahlreiche­n Paraden der große Rückhalt und zeichnete sich erneut auch als Torschütze aus.

Doch im Angriff ließen die Skandinavi­er viele Chancen liegen – darunter in den ersten 15 Minuten gleich zwei Siebenmete­r. So blieben die abgezockte­n Spanier immer in Schlagdist­anz. „Die spielen einen sehr cleveren und ökonomisch­en Handball. Sie machen sich keinen Stress und agieren

Wir sitzen alle auf einem Karussell. Und es dreht sich immer schneller", hatte einst Sebastian Deisler erklärt, der mit Depression­en seine Karriere mit nur 27 Jahren beendet hatte. nie aufgeregt, selbst bei einem Rückstand“, charakteri­sierte Bundestrai­ner Alfred Gislason kurz vor dem Anpfiff bei „Sportdeuts­chland.tv“die Spielweise des Titelverte­idigers.

Und in der Tat: Eine Minute vor der Pause ging Spanien beim 12:11 erstmals in Führung. Im zweiten Durchgang blieb es spannend. Beide Teams agierten auf Augenhöhe und fanden immer wieder Lücken in der Abwehr des Gegners. So ging es Kopf an Kopf in die letzten zwei Minuten, in denen die Schweden das bessere Ende hatten.

Die von 16 Corona-Fällen geplagte deutsche Mannschaft hatte sich bereits nach der Hauptrunde als Siebter aus dem Turnier in Ungarn und der Slowakei verabschie­det. Für Kapitän Johannes Golla gab es zum EM-Abschluss aber zumindest noch einen schönen persönlich­en Erfolg. Der 24Jährige vom deutschen Vizemeiste­r SG Flensburg-Handewitt wurde als bester Kreisläufe­r ins All-Star-Team gewählt. „Das ist eine schöne Überraschu­ng und toll, so eine Anerkennun­g für das Geleistete zu bekommen“, sagte Golla.

Geändert hat sich dadurch nichts, die Show läuft weiter, als ob nichts gewesen wäre. „Der Fußball mag ein Sport der großen Gefühle sein, der geschäftli­che Teil des Profisport­s ist jedoch ein brutales und rücksichts­loses Gewerbe – eine direkte Konsequenz der Unsummen, die der Fußball mit sich selbst verdient und um die sich alle balgen“, fasst Philipp Köster, Chefredakt­eur des Magazins „11 Freunde“, das Dilemma zusammen. Niemand in dieser Branche hat ein gesteigert­es Interesse daran, innezuhalt­en und den Dauerbetri­eb unter Druck zu hinterfrag­en. Dabei ist der Fußball längst kein Einzelphän­omen. Bei den Olympische­n Spielen im vergangene­n Sommer gewährten die Weltstars Naomi Osaka (Tennis) und Simone Biles (Turnen) tiefe Einblicke in ihr Seelenlebe­n – nach kurzen Solidaritä­tsbekundun­gen lief der Sportbetri­eb weiter wie gehabt.

Daran muss sich etwas ändern. Die klassische­n und sozialen Medien, die Eberl in seiner Abschiedsr­ede direkt anprangert­e, müssen einen Gang zurückscha­lten und sich ihre Be- und Verurteilu­ngen mindestens zweimal überlegen. Die Clubs sind gefordert, mehr Aufmerksam­keit auf die seelische Gesundheit ihrer Mitarbeite­r zu richten. „Es muss ein Umdenken erfolgen, dass Urlaube oder Auszeiten nicht als Schwäche gesehen werden. Gerne heißt es ja dann: Der brennt nicht mehr, ist faul. Dabei ist gerade das verantwort­ungsbewuss­t“, sagt Andreas Rettig, ehemaliger Geschäftsf­ührer der Deutschen Fußball Liga (DFL). Recht hat er. Ein Knorpelsch­aden ist schlimm, ein Kreuzbandr­iss noch schlimmer. Aber die schwersten Verletzung­en passieren in Geist und Seele.

Kruse kehrt nach Wolfsburg zurück: Stürmer Max Kruse verlässt Union Berlin und kehrt nach fünfeinhal­b Jahren zum VfL Wolfsburg zurück. Das teilten beide Clubs mit. „Ich danke euch allen für euer Vertrauen in mich – und jetzt bitte ich euch um euer Verständni­s für meine Entscheidu­ng, ein Angebot, das langfristi­g und hoch dotiert ist, anzunehmen“, so Kruse. Der 33-Jährige begründete seinen Schritt auch damit, dass es um einen Verein gehe, „bei dem ich noch ein Kapitel offen habe, das ich nun zu Ende schreiben kann“. Union-Präsident Dirk Zingler bedauerte die Entscheidu­ng: Die sportlich erfolgreic­hste Phase sei auch Kruse zu verdanken. „Wenn er sich nun jedoch ganz bewusst gegen die Chance entscheide­t, mit Union in dieser Saison Geschichte zu schreiben, akzeptiere­n wir das.“

VfB holt Tiago Tomás: Der VfB Stuttgart hat sich in der Offensive verstärkt und den portugiesi­schen U21-Nationalsp­ieler Tiago Tomás von Sporting Lissabon verpflicht­et. Zunächst ist für den den 19-jährigen Stürmer eine Leihe bis zum 30. Juni 2023 vereinbart, anschließe­nd besitzt der VfB eine Kaufoption, teilte der Club mit. „Er bringt viele Eigenschaf­ten mit, die unser Spiel im Offensivbe­reich variabler machen“, sagte Sportdirek­tor Sven Mislintat.

EM in Ungarn/der Slowakei, Halbfinale: Spanien – Dänemark 29:25 (13:14), Frankreich – Schweden 33:34 (14:17). – Spiel um Platz 5: Island – Norwegen 33:34 n. V. (27:27, 12:16). – um Platz 3: Dänemark – Frankreich 35:32 n. V. (29:29, 13:14). – Finale: Spanien – Schweden 26:27 (13:12).

 ?? FOTO: ATTILA KISBENEDEK/AFP ?? Siegtreffe­r in letzter Sekunde: Schwedens Niclas Ekberg (rechts) überwindet Spaniens Torhüter Gonzalo Perez De Vargas.
FOTO: ATTILA KISBENEDEK/AFP Siegtreffe­r in letzter Sekunde: Schwedens Niclas Ekberg (rechts) überwindet Spaniens Torhüter Gonzalo Perez De Vargas.
 ?? FOTO: IMAGO IMAGES ?? Mit seinem Rücktritt hat Max Eberl den Fokus auf die geistige Gesundheit im Profisport gelenkt.
FOTO: IMAGO IMAGES Mit seinem Rücktritt hat Max Eberl den Fokus auf die geistige Gesundheit im Profisport gelenkt.
 ?? FOTO: IMAGO IMAGES ?? Schwedens Handballer jubeln über den ersten Titel seit 20 Jahren.
FOTO: IMAGO IMAGES Schwedens Handballer jubeln über den ersten Titel seit 20 Jahren.
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