Der Cavazzen baut Barrieren ab
Lindauer Stadtmuseum ist mitten im Umbau – Historische Durchfahrt wird zum Eingang
- Bei der Sanierung des Cavazzen gibt es einige harte Nüsse zu knacken. Das fängt schon bei der Frage an, wie das markante und denkmalgeschützte Gebäude aus dem 18. Jahrhundert barrierefrei erschlossen werden kann. Denn Barrierefreiheit ist weit mehr als ein ebenerdiger Eingang, vor allem für das Lindauer Stadtmuseum, das ein Ort für alle Menschen sein will.
„Die Architekten des 18. Jahrhunderts haben nicht barrierefrei gebaut und wir kommen jetzt mit neuen Nutzungsinteressen auf das Haus zu“, sagt Museumsleiterin Barbara Reil bei einem Rundgang mit knapp zwei Handvoll Besucherinnen und Besuchern. Die erleben dabei, dass ein Helm allein sie vor den Gefahren einer Baustelle nicht schützt. Auch Kabel, Baugerüste, und Löcher im Boden können zur Stolperfalle werden. In ihrem jetzigen Zustand sind die Räume alles andere als barrierefrei.
Bei der Planung war die erste Herausforderung die Frage, wie man den Cavazzen überhaupt betreten kann, wenn man auf einen Rollstuhl oder eine Gehhilfe angewiesen ist oder einen Kinderwagen schiebt. Der Haupteingang am Marktplatz befindet sich im Hochparterre und ist über eine Treppenanlage erreichbar. Die Idee, dort eine Rampe zu installieren, habe der Denkmalschutz abgelehnt. Denn der habe befürchtet, dass eine Rampe die Fassadenwirkung stark beeinträchtigen würde. Doch auch die Idee eines Aufzugs, der den Keller mit dem Hochparterre verbunden hätte, sei wieder verworfen worden.
Schließlich hat die Stadt ein Planungsbüro aus Berlin zu Rate gezogen, das die entscheidende Idee hatte: Eine historische Gebäudedurchfahrt zur Cramergasse wird wieder geöffnet. Dieser barrierefreie Eingang ist direkt von der Fußgängerzone aus erreichbar und die ursprüngliche Substanz des Cavazzen wird dabei erhalten. Nur dass der Zugang künftig nicht mehr den Kutschern und ihren Pferden vorbehalten ist, sondern von jedermann genutzt werden kann.
Bisher konnten Menschen mit Behinderung den Cavazzen über einen Seiteneingang in den Innenhof betreten, wo sich auch das Café befand. Dieser Zugang bleibe erhalten, sodass es in Zukunft drei Eingänge gebe. Aber er habe eben den Charakter eines Händler- oder Nebeneingangs, erläutert Barbara Reil. „Ein Zugang ist nicht barrierefrei, wenn er nicht den gleichen Rang hat wie der Haupteingang“, sagt sie.
Anton Ziegler, Beauftragter für Menschen mit Behinderung des Landkreises Lindau, kann nicht nachvollziehen, dass die Rampe zum früheren Haupteingang vom Denkmalschutz abgelehnt wurde. Seiner Ansicht nach wäre das die beste Lösung gewesen, sagt er beim Rundgang
über die Baustelle. Die Lösung mit dem zweiten Haupteingang in der Cramergasse findet er dennoch akzeptabel. „Das ist kein Hintereingang und auch kein Nebeneingang, sondern ein gleichwertiger Haupteingang“, sagt er.
Der neue Zugang spielt bei der barrierefreien Erschließung des Gebäudes eine zentrale Rolle. Aber nicht nur einfach als Tür, die ebenerdig eingebaut ist. Denn direkt dahinter finden die Besucher Anschluss an ein barrierefreies Leitsystem durch das historische Gebäude und seine Ausstellungen. „Um den Durchgang aufzuwerten, wird die alte Remise zu einem Foyer aufgewertet“, sagt Reil. Dort wird ein tastbares Stadtmodell des heutigen Lindau installiert. Es wird das heutige Lindau zeigen, weil die Besucherinnen und Besucher mit der historischen Stadt und ihrer Entwicklung
Anton Ziegler, Beauftragter für Menschen mit Behinderung des
Landkreises Lindau
ANZEIGE
noch im Lauf ihres Rundgangs mehrfach in Kontakt kommen.
Von dem tastbaren Stadtmodell ausgehend starten die Rundgänge durch das Stadtmuseum. Taktile Elemente wie beispielsweise Rillen, aber auch Handläufe oder Induktionsschleifen für Menschen mit Hörgeräten helfen bei der Orientierung. „Die Idee ist, dass Menschen mit Unterstützungsbedarf zuerst in den Shop geleitet werden“, sagt Reil. Dort erhalten sie Mediaguides, die speziell für die inklusive Vermittlung entwickelt wurden. Gearbeitet wird etwa mit Videos mit Gebärdensprache oder mit Audiodeskription, also einer akustischen Bildbeschreibung der Räume. Es gibt außerdem einen Orientierungsplan zum Tasten und induktive Hörschleifen für Menschen, die Hörgeräte tragen.
Damit unten mehr Platz ist, wandern die Sonderausstellungen im Gebäude nach oben. Außerdem wurden Wände, die später eingezogen wurden, zurückgebaut, um Raum für Empfangszentrum, Garderobe und Sanitäranlagen zu schaffen. Der Cavazzen erhält außerdem einen Aufzug, der bis ins erste Dachgeschoss führt. „Der schmerzt den Denkmalschutz am meisten, weil wir dafür historische Decken durchbrechen mussten“, sagt Barbara Reil. Der Dachstuhl selbst wird nicht barrierefrei erschlossen. Das wäre baulich nicht möglich gewesen, erläutert sie. Außerdem wäre der Aufzugschacht sonst über das Dach hinaus geragt.
Doch weil gerade der Dachstuhl so besonders ist, werden Glaselemente eingebaut, damit auch die Menschen einen Blick auf das Gebälk werfen können, die nicht hinaufgelangen können. „An dieser Stelle haben wir einen Kompromiss geschlossen, um allen das Erlebnis zu ermöglichen, aber manchen nur in dieser bestimmten Form“, sagt sie. Die Museumsleiterin freut sich, dass der Dachstuhl nicht gedämmt wird und der Charakter eines Speichers erhalten bleibt. Schließlich sei das dreigeschossige Mansarddach eine bemerkenswerte Konstruktion, die heute noch Architekten und Ingenieuren die Tränen in die Augen treibe.
Nicht nur das Gebäude selbst soll barrierefrei werden, sondern auch die Ausstellung. „Wir wollen möglichst viele Menschen erreichen“, sagt Reil. Deshalb soll pro Raum mindestens eine Station nach dem Mehr-Sinne-Prinzip funktionieren. Dort sollen sich die Besucherinnen und Besucher die zentralen Aspekte des Raums erschließen können. In einem der oberen Stockwerke ist ein Medienkubus geplant, ein Raum im Raum. Dort sollen Multivisionsshows die Lindauer Geschichte der vergangenen Jahrtausenden darstellen.
Was alle Besucherinnen und Besucher nach der Sanierung des Cavazzen erstmals sehen werden, ist das Kellergewölbe. Bevor das Haus eine Großbaustelle wurde, war dort das Depot des Stadtmuseums untergebracht. „Wir haben unsere Objekte hier unter recht schwierigen Umständen gelagert“, sagt Reil. Ein Problem war Schimmel. Aber der ist schon entfernt worden. Obwohl der historische Sandsteinboden derzeit mit Spanplatten abgedeckt ist und Eimer und Werkbänke noch für Baustellenflair sorgen, wird schon deutlich, welch eine schöne Atmosphäre das bisherige Museumsdepot bietet.
Künftig wird es dort Veranstaltungen geben, zum Beispiel Konzerte oder Kleinkunst. Denkbar sind auch private Feiern. Dank angeschlossener Catering-Küche können die Gäste im Museumskeller bewirtet werden. Das Depot ist jedenfalls schon vor Beginn der Bauarbeiten in den Neubau im Lehmgrubenweg umgezogen. Für Barbara Reil ist auch der Keller ein Beispiel dafür, dass der Denkmalschutz eine entscheidende Rolle dabei spielt, dass ein wertvolles Baudenkmal wie der Cavazzen mit seinem besonderen Charakter und seiner Atmosphäre erhalten bleibt. „Davon werden alle Besucher des Cavazzen profitieren – nicht zuletzt kommen viele ja wegen des schönen Gebäudes.“Bis es soweit ist, dauert es aber noch ein bisschen. Die Eröffnung des neu umgebauten Museums ist im Lauf des Jahres 2023 geplant.
Museumsleiterin Barbara Reil
Online gibt es ein Video von dem Rundgang über die Baustelle: www.schwäbische.de/ cavazzen