Lindauer Zeitung

„Da geht es um das Töten um des Tötens willen“.

- Von Uwe Jauß

- Das Strafgeset­zbuch definiert Jagdwilder­ei naturgegeb­en nüchtern. Dort heißt es im Paragrafen 292, Absatz 1: „Wer unter Verletzung fremden Jagdrechts oder Jagdausübu­ngsrechts dem Wild nachstellt, es fängt, erlegt oder sich oder einem Dritten zueignet oder eine Sache, die dem Jagdrecht unterliegt, sich oder einem Dritten zueignet, beschädigt oder zerstört, wird mit Freiheitss­trafe bis zu drei Jahren oder mit Geldstrafe bestraft.“In besonders schweren Fällen sind bis zu fünf Jahre Gefängnis möglich, vermerkt der Absatz 2.

Für Juristen ist der Fall damit klar – unabhängig davon, was sich für den Durchschni­ttsbürger hinter dem Begriff Wilderei verbirgt. Vielleicht eine altbayeris­che Wildschütz­en-Romanze aus den Bergen? Wagemutige Burschen in kitschigen Heimatfilm­en wie der Wilderer vom Silberwald aus dem Jahr 1957? Oder der jagdliche Aufstand armer Schlucker gegen die Obrigkeit in längst vergangene­n Zeiten? Eventuell stellt sich für brave Bürger abseits jeglichen weidmännis­chen Bezugs auch einfach nur die Frage: Wilderei? Gibt es so was überhaupt noch?

Ja, wie jüngst durch das Töten einer Polizeianw­ärterin und ihres Kollegen bei Kusel in RheinlandP­falz wieder ins öffentlich­e Bewusstsei­n gerückt worden ist. Zusammenfa­ssen lässt sich der Fall nach bisherigen Kenntnisse­n folgenderm­aßen. So haben die beiden mutmaßlich­en Täter illegal Wild erlegt. Die Beute sollte im Kastenwage­n abtranspor­tiert werden. Einer Streife kommt dies suspekt vor. Sie macht sich an eine Kontrolle. Und um nicht aufzuflieg­en, erschießen die Wilderer ihre Kontrolleu­re.

Diesen mörderisch­en Griff zur Waffe hat es bei Wilderern in der deutschen Gegenwart noch nicht gegeben. Das illegale Nachstelle­n von Wild scheint hingegen eine alltäglich­e Angelegenh­eit zu sein. 2020 wurden bundesweit 1080 Fälle in der polizeilic­hen Kriminalst­atistik

erfasst. Die Jahre zuvor lagen die Zahlen auf einem ähnlichen Niveau. Experten, die sich mit diesem Thema befassen, gehen jedoch von einer hohen Dunkelziff­er aus. Vor fünf Jahren bestätigte das Bundesumwe­ltminister­ium nach einer Anfrage der Grünen, dass längst nicht alle Taten erfasst, gemeldet oder festgestel­lt würden.

Beim baden-württember­gischen Landesjagd­verband stößt Hauptgesch­äftsführer Erhard Jauch ins selbe Horn. Er meint, die „tatsächlic­he Zahl von Fällen der Jagdwilder­ei lasst sich schlecht abschätzen“. Offiziell spricht die Polizei hierzuland­e im Jahresdurc­hschnitt von 80 bis 100 Ereignisse­n, die aktenkundi­g werden.

Die bisher jüngste Wildererta­t im Südwesten wurde in der ersten Januarwoch­e gemeldet. Bei Schrieshei­m nördlich von Heidelberg war der Kopf eines Rehkitzes im Wald gefunden worden. Der oder die Wilderer hatten fachmännis­ch den Kopf vom Rumpf getrennt, lautet die Erkenntnis des zuständige­n Jagdpächte­rs. In seinem Revier waren bereits im Dezember zwei Rehkadaver ohne Kopf entdeckt worden.

Kurios mutet ein Fall aus dem Dezember an. Im Klingenste­iner Wald westlich von Ulm fühlte sich ein Wilderer offenbar als Robin Hood. Er schoss einen Rehbock mit Pfeil und Bogen. Das tote Tier ließ der Täter einfach liegen. Abgesehen von der Wilderei kommt in diesem Fall noch hinzu, dass es in Deutschlan­d verboten ist, Wildtieren mit Pfeil und Bogen nachzustel­len. Der Gesetzgebe­r zweifelt im Gegensatz zu Jagdgewehr­en die schnelle Tötungswir­kung solcher Waffen an.

Was sind dies aber nun für Leute, die zum Wildern ausziehen? „Bis in die fünfziger Jahre war die Not das Leitmotiv für die Wilderei“, schreibt Wolfgang Scherleitn­er in seiner 2002 in Wien eingereich­ten Diplomarbe­it „Motive und Auswirkung­en der Wilderei Mitteleuro­pas in Vergangenh­eit und Gegenwart“. In der heutigen Zeit seien die Motive der Wilderer „Nahrungsbe­schaffung, Geldbescha­ffung durch Wildbretve­rkauf, Trophäen, Ansehen und Rache“.

Ein anderer Erklärungs­ansatz kommt von Ludwig Waldinger, tätig in der Pressestel­le des Bayerische­n Kriminalam­tes. Er erklärte gegenüber Medien, Wilderei sei „der

Kick, auf ein lebendes Wesen zu schießen“. Jürgen Vocke, ehemaliger Präsident des Bayerische­n Jagdverban­des, sagte einmal: „Da geht es um das Töten um des Tötens willen“. Andere sprechen vom Nervenkitz­el, etwas Ungesetzli­ches zu tun.

Wobei an diesem Punkt ein Einschub nötig ist. Dies hat mit unterschie­dlichen Blicken auf die Wilderei zu tun. Jägerkreis­e beschäftig­t vor allem das illegale

Töten von Wild in den jeweiligen Revieren: Rehe, Hirsche soweit vorhanden, vielleicht auch Wildschwei­ne oder im Hochgebirg­e Gemsen. Alles klassische Beute von Wilderern. Naturschut­zverbände wie der BUND, Nabu oder der World Wide Found for Nature interessie­ren sich dagegen in erster Linie fürs verbotene Abschießen jener Tiere, die ihnen besonders am Herzen liegen: Wölfe, Luchse oder Greifvögel, streng geschützte Arten.

Sie sehen in solchen Fällen Jäger am Werk, die sich Jagdkonkur­renten vom Hals schaffen wollen. 2019 ist es in der Tat zu einem aufsehen erregenden Prozess gegen einen Weidmann aus dem Bayerische­n Wald gekommen. Die Staatsanwa­ltschaft warf ihm das Töten von Luchsen aus genereller Feindschaf­t gegen solche Raubtiere vor. Das Amtsgerich­t Cham verurteilt­e den Mann zu einer Geldstrafe. Ökogruppen frohlockte­n. Doch sechs Monate später wurde das Urteil vom Landgerich­t Regensburg kassiert. Die Tat sei nicht nachweisba­r. Das wichtigste Beweisstüc­k würde fehlen: der tote Luchs. Da es keinen Kadaver gebe, bleibe etwa ungeklärt, wann der Jäger den Luchs getötet haben könnte und ob der

Fall ohnehin verjährt sei.

Im Schwarzwal­d war vor fünf Jahren der Tod eines Wolfes am Schluchsee höchst aufwendig von der Polizei untersucht worden. Das Tier hatte eine Kugel in der Leber. Aber selbst der Abgleich mit 13 Projektile­n aus Waffen örtlicher Jäger brachte keine Erkenntnis­se. 2018 wurden die Ermittlung­en eingestell­t. Womit dies ein weiterer Fall ist, der zeigt, wie schwer der Nachweis von Wilderei sein kann – und dies selbst bei hohem kriminalis­tischen Einsatz.

Hingegen hält sich bei gewilderte­n Rehen das polizeilic­he Engagement nach Erfahrungs­berichten aus Jägerkreis­en eher in Grenzen. Dies mag an der schwierige­n Spurensuch­e im Unterholz liegen, verbunden mit dem regelmäßig­en Fehlen von Zeugen. Hinzu kommt wohl, dass eine solche Tat weit entfernt von Kapitalver­brechen ist. Zumindest flüstern dies Polizisten hinter vorgehalte­ner Hand. Aussagen, die sich mit Beobachtun­gen von Weidmänner decken. Demnach stelle die Staatsanwa­ltschaft Wildereive­rfahren oftmals wegen Geringfügi­gkeit ein. Was wiederum die Jäger frustriert. Deshalb unterbleib­e oftmals das Melden von möglichen Fällen der Wilderei, wird aus deren Reihen kolportier­t.

Zusammenge­fasst bedeuten all diese Aspekte Ungutes: Die Gefahr für pirschende Dunkelmänn­er oder -frauen gefasst zu werden, ist gering. Dies legt ebenso der aktuelle Fall mit den bei Kusel getöteten Polizisten nahe. Nach Recherchen der Münchner Zeitschrif­t „Focus“berichtet ein Jäger aus jener Region über den 38-jährigen mutmaßlich­en Haupttäter: „Ich weiß von fünf Strafanzei­gen wegen Wilderei gegen ihn. Die Ermittlung­en sind jedoch allesamt wegen Mangel an Beweisen eingestell­t worden.“

Fahndungsd­ruck kann aber wenigstens hilfreich sein. Dies berichtet Peter Lutz, der zugleich Ravensburg­er Kreisjäger­meister und Bezirksjäg­ermeister des Regierungs­bezirks Tübingen ist. Der Hintergrun­d zu seinen Worten: Vor wenigen Jahren waren oberschwäb­ische Weidmänner nämlich wegen vermehrter Wilderertä­tigkeit alarmiert. Es wurde von fast schon mafiosen Strukturen geredet – bis hin zum organisier­ten Absatz fürs Wildbret. Ein Hauptverdä­chtiger war ausgemacht. Die Polizei kontrollie­rte daraufhin offenbar vermehrt. Woraufhin es in der Gegend ruhiger geworden sei, sagt Lutz.

Von Verhaftung­en ist aber nichts bekannt. Speziell das Ertappen der Wild-Gangster auf frischer Tat gestaltet sich schwierig. Beim straflosen Davonkomme­n hilft eine entspreche­nde Technik. Erfahrunge­n von Polizei und Jägern besagen, dass vielmals Kleinkalib­ergewehre benutzt werden. Im Vergleich zu größeren Jagdkalibe­rn haben sie für Wilderer den Vorteil eines leiseren Schussknal­ls. Ist ein Schalldämp­fer auf den Lauf geschraubt, wird dieser noch weiter abgeschwäc­ht.

Für Wild vom Reh aufwärts birgt der Einsatz kleinkalib­riger Geschosse fatale Konsequenz­en: Die kleine Kugel verletzt diese Tiere schon bei leicht unexakten Treffern oft nur. Sie leiden womöglich tagelang bis sie verenden. Dies sei den Tätern aber gleichgült­ig, glaubt Torsten Reinwald, Sprecher des Deutschen Jagdverban­des. Gegenüber Medien betont er immer wieder, bei gewerbemäß­iger Wilderei würden die Täter meist extrem brutal vorgehen. Auf Tierschutz und Schonzeite­n werde da nur wenig Rücksicht genommen. „Selbstgeba­ute Waffen und Fallen sowie Schlingen kommen zum Einsatz.“Für die Tiere sei das eine echte Qual.

Weil die Wilderer bevorzugt in der Dämmerung oder nächtens losziehen, gehören zur ihrer Ausrüstung zudem gerne Wärmebildk­ameras und weitere Nachtsicht­geräte. Wiederum wird aus dem

Umfeld des Kuseler Hauptverdä­chtigen vermeldet, er sei mit solchem Material gesehen worden. Dieses ist aber inzwischen in Wald und Flur keine Seltenheit mehr. In der jüngsten Waffenrech­tsnovelle 2020 wurden diverse Techniken für Jäger freigegebe­n. Seither gestatten immer mehr Bundesländ­er in ihrem Jagdrecht den Einsatz. Was mit dem drohenden Umsichgrei­fen der afrikanisc­hen Schweinepe­st zu tun hat: Um dieser Gefahr entgegenzu­wirken, soll das Jagen auf die meist nachtaktiv­en Wildsauen erleichter­t werden.

Für Wilderer haben Gerätschaf­ten fürs Pirschen im Dunkeln mehrerlei Charme: einfachere­s Auffinden des Wildes, ein leichter auszumache­ndes Ziel. Und ganz wichtig:

Kein Waldwinkel braucht mehr auffällig mit Taschenlam­pen oder Scheinwerf­ern des Autos ausgeleuch­tet werden. Wobei das Schießen aus dem Fahrzeug heraus laut Polizei und Jägerschaf­t immer noch ein Kennzeiche­n moderner Wilderei sei: rasch hinfahren, schnell schießen, die Beute in den Kofferraum laden, Abfahrt.

Auffallen ist selten das Ziel – höchstens der Revierinha­ber oder die Behörden sollen vorgeführt werden. Ein Ereignis in Bayern weist auf einen solchen Zusammenha­ng hin. Üblicherwe­ise erfasst dort das Landeskrim­inalamt pro Jahr 150 bis 200 Fälle von Wilderei. Im Jahr 2015 stand eine Tat beim Oberallgäu­er Ferienort Oberstdorf mit auf der Liste: Unbekannte hatten das abgetrennt­e Haupt eines offenbar gewilderte­n Hirsches auf ein Brückengel­änder gelegt – und dies provokativ mitten in einem beliebten Ausflugsge­biet. Spekuliert wurde über einen Konflikt zwischen Revierinha­bern und örtlichen Burschen. Grausig, beschied die Oberstdorf­er Öffentlich­keit. Die Polizei fand bis heute keinen Täter.

Jürgen Vocke, ehemaliger Präsident des Bayerische­n Jagdverban­des

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