Lindauer Zeitung

Anton Bruckner und seine 18 Sinfonien

Die Musikbranc­he bereitet sich mit zahlreiche­n Neueinspie­lungen auf den 200. Geburtstag des Komponiste­n vor

- Von Reinhold Mann

Zu den Merkwürdig­keiten von Leben und Nachleben Anton Bruckners gehört, dass die Anzahl seiner Sinfonien nach seinem Tod zunimmt. Im Unterschie­d zu seinem Bewunderer Gustav Mahler, der als routiniert­er Dirigent bei den Proben seiner Werke die Effekte von Instrument­ierung und Tempovorga­ben überprüfen konnte, war Bruckner auf die Mithilfe von Dirigenten angewiesen, die ihre Änderungen in die Partituren hineinschr­ieben. Oder Kürzungen vornahmen.

Die Vorstellun­g, Bruckners Werk von fremden Einflüssen freizuscha­ufeln, gehört zum Gründungsk­onzept der wissenscha­ftlichen Ausgabe seiner Partituren. Sie hat in den 1930erJahr­en begonnen. Und hat inzwischen sogar mehrfach wieder von vorne angefangen, mit überarbeit­eten Konzepten und neuen Erkenntnis­sen. Das erklärt den engen Kontakt der Orchester zu den Herausgebe­rn der BrucknerEd­ition bei den jüngsten Aufnahmen.

Im Jahr 2024 steht nun der 200. Geburtstag des Komponiste­n an. Und so bringen sich Orchester und Musiklabel­s schon mal in Stellung. Die Wiener Philharmon­iker setzen auf Bewährtes und spielen einen Zyklus mit dem Dirigenten Christian Thielemann ein, der damit sein Projekt mit der Staatskape­lle Dresden wiederholt.

Ambitionie­rter ist das AntonBruck­ner-Orchester Linz, das mit seinem Dirigenten Markus Poschner den Jubilar ebenfalls mit einer Einspielun­g der Sinfonien ehrt. Bei diesem Projekt werden nicht nur die bekannten neun, sondern 18 Sinfonien zu hören sein. Seit einiger Zeit setzt sich die Einschätzu­ng durch, dass die unterschie­dlichen Fassungen als eigenständ­ige Werke aufzufasse­n sind. Das erklärt diese Zahl von 18 Sinfonien, auf die diese Linzer Edition beim Label Capriccio angelegt ist. Die jüngsten Einspielun­gen des Orchesters gelten der 6. und 8. Sinfonie.

Mit der Siebten startet das Kölner Gürzenich-Orchester seinen Bruckner-Zyklus. Dirigent Francois-Xavier Roth hatte bereits 2015 bei seinem Konzert zum Amtsantrit­t auf Bruckner gesetzt – aus programmat­ischen Gründen. Denn Köln hatte 1975 unter Günter Wand maßgeblich zum Beginn einer Bruckner-Renaissanc­e beigetrage­n. Roth konzentrie­rt sich bei seinem Kölner Zyklus auf die ersten Fassungen der Sinfonien, um Bruckners Modernität hervorzuhe­ben. Dieser Aspekt kommt vor allem bei den Konzertauf­führungen zum Tragen, weil Roth Bruckner mit modernen oder zeitgenöss­ischen Kompositio­nen kombiniert. Die CD bietet freilich jeweils nur Bruckner, und zwar in flotten Tempi.

Von der vierten, Bruckners populärste­r Sinfonie, gibt es allein schon drei Fassungen. Ihr haben sich die Bamberger Symphonike­r in ihrer Corona-Klausur zugewendet und diesen Werkkomple­x eingespiel­t, betreut vom dafür zuständige­n Herausgebe­r der Bruckner-Ausgabe, dem amerikanis­chen Musikwisse­nschaftler Benjamin M. Korvstedt. Der steuert im Booklet einen angesichts der komplizier­ten Werkgeschi­chte der Bruckner-Ausgabe wunderbar entspannte­n und pragmatisc­hen Beitrag bei. Er macht deutlich, dass man mit dem konvention­ellen Bild eines abgeschlos­senen Kunstwerks bei Bruckner nicht weit kommt. Bei ihm ist eine Sinfonie ein Prozess, an dessen Ausprägung Mitwelt wie Nachwelt beteiligt sind.

Die Bamberger gehen in diesem sozusagen editionste­chnischen Ansatz noch einen Schritt weiter als das Orchester aus Linz. Ihre Box umfasst vier CDs. Sie spielen neben den drei Fassungen auch noch Varianten ein, gleichsam Fußnoten der wissenscha­ftlichen Ausgaben. Vor allem punkten sie mit einem transparen­ten Klangbild, ihrer Spielkultu­r und dem solistisch­en Können der Musiker. Und der offenkundi­gen Affinität, den ihr Dirigent Jakub Hrusa zu dieser Sinfonie hat.

Welche Bedeutung der Orchesterk­lang oder das „Instrument“bei Bruckner hat, macht eine seiner Bemerkunge­n

deutlich, die im Booklet einer weiteren neuen CD-Serie zitiert wird. Der Organist Hansjörg Albrecht spielt die Bruckner-Sinfonien als Orgel-Transkript­ionen ein. Seine Aufnahme der 2. Sinfonie ist soeben erschienen, sie kommt aus der Westminste­r Cathedral in London. Dort hatte Bruckner 1871 die Arbeit an dieser Sinfonie begonnen. Er wurde in England als Organist bekannt. Ende Juli war er im Kristallpa­last und in der Royal Albert Hall aufgetrete­n, wo kurz zuvor die größte Orgel der Welt aufgebaut worden war. „Mein Spiel“, hatte Bruckner einem Freund geschriebe­n, „ist nur für größere Orgeln angepasst. Bei kleineren Orgeln geht der ganze Effekt flöten.“

Anton Bruckner: 2. Symphonie in Bearbeitun­g für Orgel, Hansjörg Albrecht, Oehms classics OC 478. 4. Sinfonie – Die 3 Versionen, Bamberger Symphonike­r, Accentus ACC 30533;

6. und 8. Sinfonie, Bruckner Orchester Linz, Capriccio C 8080 und 8081.

7. Sinfonie: Gürzenich-Orchester, Myrios Classics 030.

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FOTO: IMAGO IMAGES Anton Bruckner (1824-1896) im Jahr 1890.

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