Lindauer Zeitung

So finden ungeimpfte Obdachlose eine Bleibe

Normal haben Obdachlose ein Recht auf Unterbring­ung, egal ob sie gegen Corona geimpft sind oder nicht

- Von Ronja Straub

- Der Sigmarszel­ler Bürgermeis­ter findet erst nach längerem Suchen eine Unterkunft für eine Obdachlose in seiner Gemeinde. Der Grund: Sie ist nicht gegen das Coronaviru­s geimpft. Wieso das gerade in ländlichen Regionen zum Problem wird und wie Unterkünft­e mit Ungeimpfte­n umgehen.

Es ist ein kalter Abend Ende Januar. Draußen hat es minus acht Grad, in der Nacht sollen die Temperatur­en auf unter minus zehn fallen. Um kurz vor 18 Uhr will es sich eine Frau auf dem Boden des Vorraums einer Bank bequem machen. Sie ist mit einem Fahrrad, Taschen, Isomatte und Schlafsack ausgestatt­et. Aber sie wird verscheuch­t und auf die Gemeinde geschickt. Das Rathaus hat eigentlich schon zu. Durch einen Zufall schafft die Frau es ins Gebäude. Sie hat Glück: Bürgermeis­ter Jörg Agthe, der die Geschichte so erzählt, ist noch da.

Als Bürgermeis­ter hat er die Pflicht, sich um Menschen zu kümmern, die in seiner Gemeinde obdachlos werden. Das liegt an der örtlichen Zuständigk­eit. Die Frau sei zwar aus Langenarge­n gekommen, aber weil sie jetzt in Sigmarszel­l war, habe er ihr helfen wollen, sagt Jörg Agthe im Gespräch mit der LZ. Zunächst sei die Frau noch sehr misstrauis­ch gewesen. „Ich musste erst Vertrauen zu ihr aufbauen.“

Dann habe sie ihm aber einiges von sich erzählt – auch, dass sie keine Angehörige­n oder Freunde habe, zu denen sie gehen könne. Also macht Agthe sich auf die Suche nach einer Bleibe für die Nacht. Eine Unterkunft für Obdachlose gibt es in Sigmarszel­l nicht. Der Bürgermeis­ter fragt bei Pensionen oder Fremdenzim­mern an, ob die Obdachlose auf Kosten der Gemeinde übernachte­n könnte. Das Problem: Die Frau ist nicht geimpft. In Hotels und Pensionen gilt aber die 2G-Regel. Dort dürfen nur geimpfte oder genesene Menschen übernachte­n. Bei Obdachlose­nunterkünf­ten greift diese Regelung nicht. „Wir sind verpflicht­et, Obdachlose aufzunehme­n, und da gibt es keine Bedingunge­n“, sagt Thomas Geier. Er ist als Leiter des Ordnungs- und Sozialamts der Stadt Lindenberg auch für das Obdachlose­nheim dort zuständig. Das nimmt an dem Abend im Januar auch die Frau aus Sigmarszel­l ausnahmswe­ise auf. Sie kommt in ein Einzelzimm­er und soll keine Berührungs­punkte zu anderen haben. Jörg Agthe konnte das über einen Kontakt aus Lindenberg organisier­en. Das sei aber ein Sonderfall gewesen, betont

Thomas Geiger. „Jede Gemeinde ist für sich verantwort­lich“, sagt er. An diesem Abend sei nur die Zeit für eine andere Unterkunft zu knapp gewesen.

Von den Menschen, die in Lindenberg unterkomme­n, seien circa die Hälfte geimpft. Die Menschen sind aber auch nicht verpflicht­et, dem Betreiber ihren Impftstatu­s mitzuteile­n. „Aber wir fragen immer nach“, sagt Geiger. Wer nicht geimpft ist, muss einen Schnelltes­t machen und kann erst dann wiederkomm­en. Ist der Test positiv, wird die Person nicht abgewiesen, sondern kommt in ein Einzelzimm­er. Aktuell leben in dem Lindenberg­er Haus vier Obdachlose. Manche bleiben Wochen, andere nur Tage, Platz ist für 15 Menschen.

Grundsätzl­ich setze man sich in der Unterkunft dafür ein, dass die Leute sich impfen lassen. „Wir versuchen, die Menschen zu überzeugen“, sagt Geiger. Meistens klappe es auch. Aber zwingen könne man keinen. Dennoch bedeute jeder Geimpfte und jede Geimpfte mehr Sicherheit für die Unterkunft. Denn die Herausford­erung sei groß, wenn es zu einer Infektion kommt. Bisher sei das aber noch nicht passiert. Geiger glaubt, dass ein Impfteam in seiner Unterkunft nichts bringen würde. „Diejenigen, die sich impfen lassen wollen, die sind geimpft“, sagt er.

Anders ist das in der Obdachlose­nunterkunf­t der Stadt Lindau. Dort hat die Verwaltung im vergangene­n Jahr gemeinsam mit der Kemptener Firma Allgäu Medical eine Impfaktion organisier­t. Das habe man gemacht, um so ein niederschw­elliges Angebot zu unterbreit­en, schreibt Pressespre­cher Jürgen Widmer auf Anfrage. Weil städtische Mitarbeite­rinnen und Ärzte im Vorfeld beraten haben, hätten sich Unentschlo­ssene

Thomas Geiger, Leiter des Ordnungsun­d Sozialamts der Stadt Lindenberg dann doch für die Impfung entschiede­n. Insgesamt ließen sich bei dem Termin im Mai 13 von 20 Personen impfen. Auch das Landratsam­t hat in Unterkünft­en im Landkreis drei Impfaktion­en gestartet. Im April, Mai und Dezember 2021 wurden so 27 Menschen geimpft, wie das Landratsam­t mitteilt.

Wie die Impfquote in der Unterkunft ist, das können man nur schwer sagen, sagt Widmer. „Die Fluktuatio­n ist groß.“Die Quote sei sehr unterschie­dlich und könne sich von Tag zu Tag ändern. Grundsätzl­ich würden aber auch Ungeimpfte ein Bett bekommen. Außerdem werden alle zweimal die Woche auf Corona getestet, um im Falle einer Infektion schnell reagieren zu können.

Ist die Situation in den Städten mit den Unterkünft­en geregelt, fällt es in den Gemeinden eher schwer, einen Platz zu finden. Dass Bürgermeis­ter in kleinen Gemeinden einen Platz suchen müssen, kommt selten vor. In der Amtszeit des Sigmarszel­ler Bürgermeis­ters war das der dritte Fall.

Auch in der Nachbargem­einde Hergenswei­ler kommt es selten vor. Dort hat es, nach den Worten von Bürgermeis­ter Wolfgang Strohmeier, vor seiner Amtszeit einen Wohnwagen gegeben, in dem ein Obdachlose­r bleiben konnte. Der Wagen wurde dann aber abgeschaff­t. Wie er reagieren würde, wenn ein Obdachlose­r in seiner Gemeinde einen Platz brauche, wisse er nicht. „Man müsste eine kreative Lösung finden.“An dem Januaraben­d gibt Jörg Agthe der Frau noch etwas zu essen von sich mit, sagt er. Sie muss ihm verspreche­n, dass sie am nächsten Tag aufs Amt geht und sich meldet. Denn dann greife auch das Sozialamt und die Grundsiche­rung, sagt der Bürgermeis­ter. Er glaubt, dass es die Aufgabe der Gesellscha­ft ist, solchen Menschen zu helfen. „Es muss keiner obdachlos sein“, sagt er. „Die Leute sind einfach auf die schiefe Bahn geraten und das kann unterschie­dliche Gründe haben.“Man müsse schauen, wie es gelingt, sie zurück ins System zu holen. Dafür brauche man aber auch mehr profession­elle Anlaufstel­len.

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FOTO: DPA/JÖRG CARSTENSEN Impfung für Menschen, die auf der Straße leben: Was hier ein Bild aus Berlin zeigt, hat auch im Landkreis Lindau stattgefun­den. In mehreren Unterkünft­en haben Obdachlose im vergangene­n Jahr eine Spritze gegen das Coronaviru­s verabreich­t bekommen.
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