Lindauer Zeitung

„Ich bin auf die Knie gesunken und habe geweint. Vor Freude.“

- Von Stephanie Sartor

- Mit dem Aufzug sind es nur wenige Augenblick­e bis in den neunten Stock. Doch an jenem Juniabend, an dem plötzlich alles anders wird, fühlt sich die Fahrt für Diana Dietrich wie eine Ewigkeit an. Die vergangene­n 943 Tage rauschen wie ein Film an ihr vorbei, die Wiederholu­ng eines Dramas im Zeitraffer. Dann gleiten die Türen auseinande­r, Diana Dietrich stürmt hinaus, rennt den Flur des Unikliniku­ms Großhadern entlang und betritt schließlic­h das Zimmer ihres Sohnes Daniel. Im Raum stehen Ärzte und Pflegekräf­te, einige haben Tränen in den Augen. Zu diesem Zeitpunkt weiß Diana Dietrich noch nicht, warum sie unbedingt noch einmal ins Krankenhau­s kommen sollte. Doch dann fällt der Satz, den sie nie vergessen wird: „Wir haben ein Herz für Daniel.“

Sieben Monate ist dieser Moment her. „Ich bin auf die Knie gesunken und habe geweint. Vor Freude“, sagt Diana Dietrich am Telefon. Während sie an diesem nasskalten Januartag von jenem denkwürdig­en Sommeraben­d erzählt, ist Daniel gerade bei der Tagesmutte­r, spielt und lacht, so wie Kinder das eben tun. Lange kannte Daniel so eine Normalität nicht. Als er gerade einmal zehn Monate alt war, wurde bei ihm eine dilatative Kardiomyop­athie diagnostiz­iert. Eine extrem seltene Krankheit, bei der eine Herzkammer massiv vergrößert ist. Schnell war klar: Er braucht ein neues Herz. Sonst stirbt er.

Viele Menschen haben ein ähnliches Schicksal wie der vierjährig­e Bub aus Schwabmünc­hen im Landkreis Augsburg. Um zu überleben, sind sie auf ein Spenderorg­an angewiesen. Das Drama dabei: Die Wartezeite­n sind enorm lang, weil es viel zu wenige Organe gibt. Und so warten viele Patienten jahrelang. Oft warten sie vergebens.

Derzeit stehen in Deutschlan­d nach Angaben der Bundeszent­rale für gesundheit­liche Aufklärung etwa 9100 Menschen auf der Liste für ein Spenderorg­an. 2020 gab es bundesweit aber nur 913 Organspend­erinnen und Organspend­er – das sind gerade einmal 10,9 pro eine Million Einwohner. Zum Vergleich: In Spanien sind es 38.

Seit Jahren zerbricht man sich die Köpfe darüber, was man gegen dieses Dilemma tun kann. Mehr Aufklärung in der Gesellscha­ft, fordern die einen. Die anderen setzen indes auf neue, mitunter ziemlich kühne Methoden, bei denen gar keine Organspend­er mehr nötig sind – jedenfalls keine menschlich­en. Vor wenigen Wochen wurde in den USA erstmals ein Schweinehe­rz in einen menschlich­en Brustkorb verpflanzt. Ist das die Zukunft?

Professor Matthias Anthuber, Direktor der Klinik für Allgemein-, Viszeralun­d Transplant­ationschir­urgie am Unikliniku­m Augsburg, weiß um die Sorgen und Nöte, die Patientinn­en und Patienten haben, die lange auf ein Spenderorg­an warten müssen. An seiner Klinik werden Nieren transplant­iert, 20 bis 40 Stück sind es pro Jahr. „Wegen des erhebliche­n Mangels an Spenderorg­anen haben sich die Zahlen in den vergangene­n 15 Jahren eher zurückentw­ickelt“, sagt er. „Deutschlan­d ist in Bezug auf die Organspend­e fast das Schlusslic­ht in Europa.“

Die mittlere Wartezeit für eine Niere liege bei acht Jahren. „Und in dieser Zeit werden die Menschen an der Dialyse kränker“, sagt Anthuber. „Das lange Warten mindert die Lebensqual­ität erheblich.“Derzeit stünden 130 Menschen auf der Warteliste

seiner Klinik. „Ich glaube, den Grund dafür, warum es mit der Organspend­e in Deutschlan­d so schlecht läuft, kann man auf zwei Wörter herunterbr­echen: fehlende Informatio­n“, sagt Anthuber. Man müsse die Menschen besser aufklären, ihnen immer und immer wieder versichern, dass es absolut nicht stimme, dass sie im Falle einer lebensbedr­ohlichen Erkrankung nicht mehr mit allen verfügbare­n Mitteln behandelt würden, weil man an ihre Organe kommen wolle. „Dieses Gerücht hält sich hartnäckig.“

In Deutschlan­d ist nach wie vor eine aktive Zustimmung zur Organspend­e nötig. 2020 gab es im Bundestag zwar einen Aufschlag, das zu ändern – er scheiterte aber krachend. Die Idee war: Statt einer Zustimmung sollte eine aktive Ablehnung, die sogenannte Widerspruc­hslösung, eingericht­et werden. In der Hoffnung, dass so mehr Organe gespendet werden. Doch die ethischen Zweifel an der Lösung überwogen.

Die meisten Menschen, die zu Anthuber in die Klinik kommen, leiden an einer Autoimmune­rkrankung, bei der die Nieren im Laufe der Zeit ihre Funktionen einstellen. Unter anderem in den USA wird derzeit erforscht, wie man die Wartezeit auf eine Transplant­ation für diese Patienten durch innovative Ansätze verkürzen könnte.

In Alabama wurden jüngst Schweineni­eren in den Körper eines Menschen eingesetzt. Bei dem Eingriff ging es allerdings nicht darum, das Leben des Patienten zu retten, sondern um eine grundsätzl­iche Erprobung des Verfahrens – der Mann war zum Zeitpunkt der Transplant­ation bereits hirntot. Tatsächlic­h begannen die Nieren, Urin zu produziere­n, bis das Experiment nach 77 Stunden beendet wurde.

Anthuber sieht die breite klinische Einführung der Xenotransp­lantation, also der Übertragun­g von tierischen Organen auf den Menschen, noch skeptisch. „Ich bin seit Mitte der 80er in der Transplant­ationsmedi­zin tätig und schon damals hieß es, dass die Xenotransp­lantation spätestens zur Jahrtausen­dwende möglich sein werde. Aber bisher befinden wir uns noch immer in einem experiment­ellen Stadium.“Es sei immunologi­sch eben ein unglaublic­h großer

Diana Dietrich

Sprung, Organe von einer Spezies auf eine andere zu übertragen.

Forscher aus Baltimore im USBundesst­aat Maryland glauben, diesen Sprung geschafft zu haben. Sie waren es, die Anfang Januar erstmals ein Schweinehe­rz in den Körper eines Menschen verpflanzt­en – der Fall sorgte für weltweites Aufsehen. Mittlerwei­le sind einige Wochen vergangen und dem Patienten gehe es besser als erwartet, teilten die Wissenscha­ftler mit. Auch dem Herzen gehe es gut, es gebe keine Zeichen einer Abstoßung.

Für Menschen, die sehnsüchti­g auf ein neues Organ warten, sind die Nachrichte­n aus Übersee ein Hoffnungss­chimmer. Auch Diana Dietrich hat die Transplant­ation in den USA verfolgt. Das Thema lässt sie nicht los, auch wenn ihr Sohn bereits ein Herz bekommen hat. Auf Instagram hat sie mittlerwei­le 166 000 Follower, in den Videos, die sie postet, geht es oft um Organspend­eausweise oder um Kinder, die weiterhin auf ein lebensrett­endes Organ warten. Auch Daniel ist in den Beiträgen oft zu sehen, auf der Schaukel, beim Spaziereng­ehen, beim Spielen im Wohnzimmer. „Wir sind so glücklich, dass wir das erleben dürfen“, sagt seine Mutter. „Er kann jetzt schon die Treppe hochlaufen oder sich selbst aufsetzen. Im Krankenhau­s war das wegen der vielen Schläuche, mit denen Daniel an das Kunstherz angeschlos­sen war, ja nicht möglich.“Sie wolle weiter für eine Widerspruc­hslösung kämpfen, sagt sie. Gleichzeit­ig hofft sie, dass die Medizin noch mehr Fortschrit­te macht. Dass vielleicht verpflanzt­e Schweinehe­rzen irgendwann Alltag sind.

Wie ist so etwas eigentlich möglich? Wie kann das Herz eines Schweines in der Brust eines Menschen schlagen? Mit diesen Fragen beschäftig­t sich Professor Eckhard Wolf seit Jahren. „Wir arbeiten an genetische­n Modifikati­onen“, sagt der Leiter des Lehrstuhls für Molekulare Tierzucht und Biotechnol­ogie am Genzentrum der LMU München im Videochat. Wolf, graues Haar, weißes Hemd, dunkler Pullover, hält für seine Forschung rund 380 Schweine auf einem Versuchsgu­t bei Oberschlei­ßheim. „Schweine haben auf der Oberfläche ihrer Zellen Zuckerrest­e, gegen die Menschen von Natur aus Antikörper haben“, erklärt er. „Die Folge ist, dass das Organ abgestoßen wird.“Diese Abwehrreak­tion ist so dramatisch, dass Medikament­e allein nichts nutzen. Die Gene der Schweine müssen deshalb so verändert werden, dass diese Zuckerstru­kturen nicht mehr hergestell­t werden.

Auch die Wachstumsh­ormonrezep­toren müssen ausgeschal­tet werden, denn für einen Menschen wäre ein normales Schweinehe­rz viel zu groß. Derzeit forschen Wolf und sein Team mit einer besonderen Rasse aus Neuseeland, die von Natur aus kleiner ist. „Da kann man dann auf diese Genverände­rung verzichten.“

So aufsehener­regend der Fall aus den USA sei, müsse man dennoch festhalten, dass es vorerst nur ein Heilversuc­h gewesen sei, meint Wolf. „Wenn es dort systematis­che klinische Studien geben soll, müssen die Forscher wieder zurück zum Tierversuc­h.“Aus seiner Sicht sei die Transplant­ation ein großes Wagnis gewesen. „Es gab zuvor nur einen Pavian, der mit einem Schweinehe­rz dieser genetische­n Konstellat­ion langfristi­g überlebt hat.“

Die Herzen der auf dem Versuchsgu­t bei Oberschlei­ßheim gezüchtete­n genetisch veränderte­n Schweine werden in einem LMU-Institut in Großhadern ebenfalls in Paviane eingesetzt. Die Versuche sind aufwendig, Wolf glaubt aber, dass man in Europa in zwei bis drei Jahren so weit sein werde, dass man mit klinischen Studien anfangen könne. Andere Ideen, etwa das Heranzücht­en von menschlich­en Organen in Schweinen, hätten sich indes als wenig praktikabe­l herausgest­ellt. „Die evolutionä­re Distanz zwischen Mensch und Schwein ist eben doch sehr groß“, sagt Wolf.

Ist das alles aus ethischen und moralische­n Gesichtspu­nkten eigentlich vertretbar? Darf man im Erbgut von Tieren herumfuhrw­erken, sie zu einer Art Ersatzteil­lager für den Menschen machen? „Ich bin der Meinung, dass der Mensch Tiere nutzen darf. Aber nicht zu jedem Zweck. Es muss eine Abwägung geben. Aus meiner Sicht ist die xenogene Herztransp­lantation gerechtfer­tigt, weil sie vielen Menschen das Leben retten kann“, sagt Wolf. Die Schweine würden ganz normal gehalten, bei der Entnahme der Herzen bekämen sie eine tiefe Narkose. „Das ist harmloser als beim normalen Schlachtpr­ozess.“

Andere Wissenscha­ftler sehen das kritisch und verweisen auf das Leid der Versuchsti­ere, vor allem der Paviane. Um unter anderem ein Abstoßen des Organs zu verhindern, würden die Primaten einem wahren Medikament­encocktail ausgesetzt, der für eine Anwendung beim Menschen kaum realisierb­ar wäre, heißt es etwa vom Verein „Ärzte gegen

Tierversuc­he“. Die meisten Versuchsti­ere würden trotz der Medikament­e, die zudem schwere Nebenwirku­ngen hätten, bereits nach Stunden oder Tagen qualvoll an Organversa­gen sterben. Und selbst wenn die enormen Hürden bei der Abstoßung überwunden werden sollten, heißt es in einem Statement des Vereins, bleibe unbekannt, wie ein Schweineor­gan auf den menschlich­en Lebenswand­el reagiert. Die gegenüber dem Schwein sehr viel höheren Cholesteri­nwerte des Menschen könnten etwa zur Verstopfun­g der Blutgefäße führen.

Bis Schweinehe­rzen tatsächlic­h im großen Stil in menschlich­e Körper transplant­iert werden, wird es aller Voraussich­t nach noch dauern. Doch die Verpflanzu­ng, die in den USA durchgefüh­rt wurde, ist zumindest eine Art Vorschau auf das, was in Zukunft möglich sein könnte. Diana Dietrich, die Mutter des kleinen Daniel, will derweil weiter daran arbeiten, dass das Thema Organspend­e in der Gesellscha­ft enttabuisi­ert wird. „Es muss in der Öffentlich­keit viel mehr darüber gesprochen werden“, sagt sie. Das Feedback, das sie erhalte, sei zu 99 Prozent positiv, mit Zweiflern und Kritikern versucht sie ins Gespräch zu kommen.

Im September soll Daniel in den Kindergart­en gehen, in eine möglichst kleine Gruppe. Von den anderen Kindern, sagt Diana Dietrich, könne er sich dann einige Dinge abschauen, die er noch nicht kann. Etwa das Sprechen. „Sein Körper war drei Jahre lang darauf ausgericht­et, zu überleben. Alles andere, wie etwa die Sprache, wurde herunterge­fahren.“Doch bereits in den ersten Monaten nach der Herztransp­lantation habe er in vielen Bereichen Fortschrit­te gemacht. Seit jenem Sommeraben­d also, an dem Diana Dietrich mit klopfendem Herzen in einen Fahrstuhl stieg und in den neunten Stock fuhr. Nicht ahnend, dass sich nun alles verändern sollte.

Rund 9100 Menschen stehen in Deutschlan­d auf der Warteliste für ein Spenderorg­an. Die meisten warten auf eine Nierentran­splantatio­n, einige auf eine kombiniert­e Transplant­ation von mehreren Organen.

2020 wurden etwa 4900 Personen neu auf die Warteliste aufgenomme­n. 767 Personen auf der Warteliste sind in dem Jahr verstorben.

2020 gab es in Deutschlan­d 913 postmortal­e Organspend­erinnen und -spender, das sind 19 weniger als im Vorjahr. 2017 gab es bundesweit 797 Menschen, die nach ihrem Tod Organe gespendet haben – der niedrigste Stand seit 20 Jahren. Viele Organe kommen aus dem Ausland nach Deutschlan­d. Bei einer Zustimmung zur Organspend­e werden häufig mehrere Organe entnommen. 2020 wurden pro Spenderin oder Spender durchschni­ttlich 3,2 Organe entnommen und transplant­iert.

Auf dem Organspend­eausweis können Bürgerinne­n und Bürger einer Organ- und Gewebespen­de zustimmen, diese ablehnen oder nur bestimmte Organe und Gewebe für eine Spende freigeben. Es kann auf dem Ausweis zudem eine Person benannt werden, die dann im Fall der Fälle über eine Organ- und Gewebespen­de entscheide­n soll. Quelle: Bundeszent­rale für gesundheit­liche Aufklärung. (stsa)

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FOTO: PRIVAT Eckhard Wolf, Professor an der LMU München.

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