Lindauer Zeitung

„Die Notlage der Familien ist dramatisch“

Christian Schneider, Geschäftsf­ührer von Unicef Deutschlan­d, zur Situation der Menschen in Afghanista­n nach dem Abzug der Nato-Truppen

- Von Claudia Kling

- Der Geschäftsf­ührer von Unicef Deutschlan­d, Christian Schneider (Foto: Unicef), beschreibt die Lage in Afghanista­n Monate nach der Machtübern­ahme der Taliban als „humanitäre Katastroph­e“. Insgesamt seien 13 Millionen Kinder auf Hilfe angewiesen, sagt Schneider und fordert: „Wir dürfen der notleidend­en Bevölkerun­g nicht den Rücken zuwenden.“

Herr Schneider, Sie sind vor wenigen Tagen aus Afghanista­n zurückgeko­mmen. Welche Bilder sind Ihnen im Kopf geblieben?

Ich bin nach Afghanista­n gereist in dem Bewusstsei­n, dass ich viele Menschen in einer humanitäre­n Krisensitu­ation sehen werde. Aber nach meiner Rückkehr muss ich von einer humanitäre­n Katastroph­e sprechen – und ich greife normalerwe­ise nicht allzu schnell zu einem solchen Wort. Die Notlage der Familien, der Mütter, der Kinder in der Hauptstadt Kabul und in den Provinzen, die wir besucht haben, ist dramatisch. Wir haben verzweifel­te Mütter gesehen, die mitten auf der Straße betteln, und Kinder, die so schwer mangelernä­hrt sind, dass sie im Krankenhau­s behandelt werden müssen.

Warum hat sich die Situation so dramatisch verschlech­tert?

Nach der Machtübern­ahme der Taliban haben die westlichen Staaten die internatio­nalen Gelder, die mehr als 70 Prozent des afghanisch­en Haushalts ausmachten, eingefrore­n. Das hatte natürlich Auswirkung­en auf das Gesundheit­ssystem und die Einkommen der Menschen in Afghanista­n. Sie dürfen nicht vergessen: Die Bevölkerun­g dort hat vier Jahrzehnte Krieg hinter sich, und im vergangene­n Jahr gab es eine schwere Dürre. In einer solchen Situation leiden vor allem die Schwächste­n, die Kinder. Sie müssen nicht nur Hunger und Mangelernä­hrung ertragen, sondern auch den extrem kalten Winter mit Temperatur­en bis runter auf minus 15 Grad.

Sterben Kinder in Afghanista­n an Hunger und Kälte?

Die traurige Nachricht ist: ja. Aber ich kann Ihnen nicht genau sagen, wie viele es sind, weil wir nicht wissen, wie viele Familien die Krankenhäu­ser überhaupt erreichen. Ich weiß aber, dass beispielsw­eise auf einer Station für neugeboren­e und zu früh geborene Babys in Kabul im Januar 30 Kinder gestorben sind. Viele Schwangere sind selbst mangelernä­hrt, deshalb kommen ihre Babys schon sehr schwach auf die Welt und schaffen es dann nicht.

Was fehlt in Afghanista­n am dringlichs­ten?

Wir haben einen immensen finanziell­en Bedarf, um in diesem Winter, der bis März anhalten wird, die tödliche Spirale aus akuter Mangelernä­hrung, mangelndem Zugang zu sauberem Wasser und den eisigen Temperatur­en zu durchbrech­en. Wir brauchen für die Kinder warme Decken und Kleidung, es fehlt an Heizmateri­al für Klassenräu­me, und wir müssen vor allem diejenigen unterstütz­en, die in akuter Gefahr sind: 1,1 Millionen lebensbedr­ohlich mangelernä­hrte Kleinkinde­r. Insgesamt sind 13 Millionen Kinder auf humanitäre Hilfe angewiesen. Das sind fast so viele Kinder wie in Deutschlan­d leben. So erklärt sich, warum wir mit einem Bedarf von zwei Milliarden US-Dollar rechnen, um über das Jahr 2022 zu kommen.

Sie haben gerade Klassenräu­me angesproch­en. Was ist denn aus den Bildungsmö­glichkeite­n für Mädchen geworden, die der Westen unterstütz­t hat?

In den Dörfern haben wir erlebt, dass die Ältesten und auch die Eltern sehr daran interessie­rt sind, alle Kinder, auch die Mädchen, zur Schule zu schicken. Angesichts der humanitäre­n Notlage im Land war dies ein Hoffnungss­chimmer. Wir haben in kalten, schlecht beheizten Klassenzim­mern Mädchen angetroffe­n, die inmitten dieser Not eifrig gelernt und sich den Traum bewahrt haben, Ärztin oder Ingenieuri­n zu werden. Der Unterricht in vielen weiterführ­enden Schulen liegt derzeit brach – auch wegen der Corona-Pandemie. Das bedarf einer großen Anstrengun­g, um auch diese Schulen für alle Kinder wieder zu öffnen.

Konnten Sie sich bei Ihrem Besuch in Afghanista­n frei bewegen? Unicef ist seit 70 Jahren in Afghanista­n, unsere Arbeit ist bekannt, die vielen nationalen Kollegen haben ein gutes Netzwerk und kennen das Land. Das gilt auch für die Zusammenar­beit mit den de-facto-Machthaber­n, den Taliban. Sie wissen genau, was Unicef für die Wasservers­orgung und die Ernährung der Kinder auf dem Land leistet, deshalb ermögliche­n sie uns den Zugang zu allen, auch abgelegene­n Provinzen. Aber natürlich sind Sicherheit­svorkehrun­gen vonnöten – wir können uns nur in Koordinati­on und Kooperatio­n mit den Taliban im Land bewegen.

Unicef hat schon vor Monaten vor einer humanitäre­n Katastroph­e in Afghanista­n gewarnt. Haben Sie darauf keine Resonanz bekommen? In Deutschlan­d gibt es sehr stark die Wahrnehmun­g, dass man Afghanista­n nach der Machtübern­ahme der Taliban nicht mehr helfen sollte oder kann. Mein wichtigste­s Anliegen ist deshalb, deutlich zu machen, dass unser Team und andere humanitäre Organisati­onen die Hilfe sogar ausweiten konnten, weil wir Provinzen und Krankenhäu­ser erreichen, die für uns lange Zeit wegen der Konflikte im Land unzugängli­ch waren. Wir können beispielsw­eise in Gegenden, wo Kinder seit vielen Jahren nicht mehr geimpft wurden, Polioimpfu­ngen organisier­en.

Was sagen Sie zu dem Argument, dass die Islamisten nur noch fester in den Sattel rutschen, wenn man Afghanista­n hilft?

Dazu möchte ich zwei Dinge sagen: Erstens muss man den politisch-diplomatis­chen Umgang mit den defacto-Machthaber­n im Land trennen von dem immensen Bedarf an humanitäre­r Hilfe. Wir dürfen der notleidend­en Bevölkerun­g nicht den Rücken zuwenden, sondern wir müssen die Unterstütz­ung ausweiten – und das ist möglich. Zweitens können Organisati­onen wie Unicef gezielt Hilfe leisten. Das geht nicht über den staatliche­n Apparat, sondern indem wir Kindern und Familien direkt helfen.

Die Bundesregi­erung steht wegen der schleppend­en Rettung von Ortskräfte­n, aber auch von gefährdete­n afghanisch­en Mitarbeite­rn internatio­naler Organisati­onen in der Kritik. Können Ihre Mitarbeite­r ohne Risiko in Afghanista­n arbeiten?

Bei aller Sorge um die Menschen, die in Afghanista­n gefährdet sind und das Land dringend verlassen müssten, kann ich mit Blick auf unser Team sagen: Wir haben mehr als 400 Mitarbeite­r in Afghanista­n im Einsatz, die meisten von ihnen sind Afghaninne­n und Afghanen. Im Moment sind wir mit Hochdruck dabei, weitere Mitarbeite­r ins Land zu bringen. Die Taliban haben begriffen, wie wichtig unsere humanitäre Arbeit ist. Deshalb haben sie uns entspreche­nde Sicherheit­sgarantien gegeben. Auch unsere afghanisch­en Kolleginne­n sind nach einer Unsicherhe­itsphase infolge des Umsturzes wieder im Einsatz.

Mit Blick auf die Lage, die Sie in Afghanista­n erlebt haben: Was fordern Sie von der internatio­nalen Gemeinscha­ft, um das Leid zu lindern?

Die Hilfen für das Land müssen wieder fließen. Die Weltbank hat im Herbst über Unicef und andere UNOrganisa­tionen die ersten Gelder wieder freigegebe­n, um den öffentlich­en Gesundheit­sdienst zu unterstütz­en. Davon konnten die Löhne von Ärzten und Pflegern bezahlt werden, die seit dem Sommer selbst kein Geld mehr gesehen hatten und kaum mehr für ihre Familien sorgen konnten. Das ist ein Beispiel dafür, wie gezielt humanitäre Hilfe geleistet werden kann. Wenn das Gesundheit­ssystem wegbricht, sterben noch mehr Kinder.

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FOTO: UNICEF/UN0583106/KAHMANN Eine Mutter mit ihrem Kind in einem Krankenhau­s in der afghanisch­en Provinz Paktia. Afghanista­n erlebt eine der schwersten humanitäre­n Krisen seit den 1970erJahr­en.
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