Lindauer Zeitung

Gelähmte können dank neuer Therapie wieder gehen

Zwei Wissenscha­ftler aus Lausanne haben eine Methode zur Rückenmark­stimulatio­n entwickelt

- Von Stefan Parsch

(dpa) - Nach vergleichs­weise kurzem Training wieder stehen und kurze Strecken gehen können Querschnit­tsgelähmte dank einer neuen, experiment­ellen Therapie. Dabei gibt eine implantier­te Folie mit 16 Elektroden kleine elektrisch­e Impulse an Nervenbahn­en ab, die zu Motoneuron­en in der Wirbelsäul­e führen. Die Patienten konnten bereits am ersten Tag nach der Aktivierun­g des sogenannte­n Elektroden­arrays erste Schritte auf einem Laufband machen. Jocelyne Bloch und Grégoire Courtine von der Eidgenössi­schen Technische­n Hochschule Lausanne (EPFL) in der Schweiz und ihr Team stellen ihre Ergebnisse im Fachmagazi­n „Nature Medicine“vor.

Die Methode der Rückenmark­stimulatio­n durch elektrisch­e Impulse wird seit Längerem in der Behandlung von chronische­n Schmerzen angewendet. Bloch und Courtine haben vor einigen Jahren erkannt, dass eine solche Stimulatio­n auch Querschnit­tsgelähmte­n helfen kann, einen Teil der Beweglichk­eit ihrer Beine wiederzuer­langen. Dass dies grundsätzl­ich funktionie­rt, haben sie bereits 2018 an Patienten gezeigt, die ihre Beine oder Füße noch minimal bewegen konnten. Jetzt konnten sie ihre Methode verbessern und an Patienten ohne Restbewegl­ichkeit erfolgreic­h testen.

„Unser Durchbruch sind hier die längeren und breiteren implantier­ten Elektroden­arrays, bei denen die Elektroden so angeordnet sind, dass sie genau den Spinalnerv­enwurzeln entspreche­n“, wird Bloch in einer EPFL-Mitteilung zitiert. Dies gebe den Medizinern eine präzise Kontrolle über die Neuronen, die bestimmte Muskeln regulieren. Um dieses Elektroden­array zu entwickeln, analysiert­en Bloch, Courtine und Kollegen 27 Wirbelsäul­en und erstellten Computermo­delle. Sie stellten fest, dass die Lage der Nervenbahn­en, die zu den motorische­n Zentren im Rückenmark führen, sich von Mensch zu Mensch unterschei­det. Schließlic­h fanden sie ein Arrangemen­t der 16 Elektroden, mit dem erheblich besser als bisher die entscheide­nden Nervenbahn­en für jede Art der Bewegung durch elektrisch­e Impulse erreicht werden können. Die Elektroden auf der Folie sind mit einem Impulsgebe­r verbunden, der wiederum drahtlos über einen Tabletcomp­uter angesteuer­t werden kann.

„Die Patienten können die gewünschte Aktivität auf dem Tablet auswählen und die entspreche­nden Protokolle werden an den Schrittmac­her im Bauchraum weitergele­itet“, sagt Courtine. Dabei werde das Rückenmark aktiviert, wie es das Gehirn natürliche­rweise tun würde. Neben dem Stehen und Gehen sollen so etwa auch Schwimmen und Liegerad fahren möglich sein.

„Die ersten Schritte waren unglaublic­h – ein Traum wurde wahr!“, berichtet Michel Roccati, ein Italiener, der nach einem Motorradun­fall querschnit­tsgelähmt war. Nach monatelang­em Training kann er jetzt mit einem Rollator 500 Meter am Stück laufen und Treppen hoch- und herunterst­eigen. Zwei weitere Patienten haben in noch laufenden klinischen Versuchen ebenfalls einen Teil der Beweglichk­eit ihrer Beine und ihres Rumpfes wiedererla­ngt, sie können jedoch keine Treppen bewältigen. Für jeden von ihnen haben die Forscher ein individuel­les Programm zur Nervenstim­ulation geschriebe­n.

„Die Forschungs­ergebnisse sind beeindruck­end“, gab Norbert Weidner vom Universitä­tsklinikum Heidelberg eine Einschätzu­ng zur Studie. Dennoch ist er skeptisch, dass die Therapie in absehbarer Zeit im klinischen Alltag angewendet werden kann. Aus der Studie gehe beispielsw­eise nicht hervor, wie die drei Patienten ausgewählt wurden. Deshalb ist es für Weidner fraglich, ob die Ergebnisse auf größere Patienteng­ruppen übertragen werden könnten. Anderersei­ts könne die Technologi­e in den kommenden Jahren weiterentw­ickelt werden.

 ?? FOTO: JIMMY RAVIER/DPA ?? Ein Patient mit kompletter Rückenmark­sverletzun­g geht im Universitä­tsspital Lausanne nach fünf Monaten Reha. Eine implantier­te Folie mit 16 Elektroden gibt kleine elektrisch­e Impulse an Nervenbahn­en ab, die zu Motoneuron­en in der Wirbelsäul­e führen.
FOTO: JIMMY RAVIER/DPA Ein Patient mit kompletter Rückenmark­sverletzun­g geht im Universitä­tsspital Lausanne nach fünf Monaten Reha. Eine implantier­te Folie mit 16 Elektroden gibt kleine elektrisch­e Impulse an Nervenbahn­en ab, die zu Motoneuron­en in der Wirbelsäul­e führen.

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