Vom Bürgerschreck zum Altmeister
Regisseur Hans Neuenfels gestorben – Seine weißen Ratten in Bayreuth wurden Kult
(dpa) - Die Inszenierungen von Hans Neuenfels standen für Provokation und Kontroverse. Am Sonntagabend ist Hans Neuenfels, einer der großen und prägenden Regisseure des deutschen Theaters, im Alter von 80 Jahren in Berlin gestorben, wie seine Familie am Montag über ihren Anwalt mitteilte.
Als der „Lohengrin“von Hans Neuenfels 2015 Abschied von der Bayreuther Festspielbühne nahm, tobten die Besucher vor Begeisterung. Die bei der Premiere 2010 noch ausgebuhte Inszenierung bei den Richard-Wagner-Festspielen, mit dem Chor in putzig-bedrohlichen Rattenkostümen, hatte da längst Kultstatus erreicht.
Wieder einmal hatte der einstige Bürgerschreck, längst zum Altmeister gereift, das Publikum auf seine Seite gebracht. Als Regisseur von Schauspiel und Oper, als Dichter, Schriftsteller und Filmemacher treibe er „die zeitgenössische Weiterentwicklung der darstellenden Künste vehement voran“, hieß es 2016, als Neuenfels den Theaterpreis „Der Faust“für sein Lebenswerk erhielt. „Mit seinem Wirken inspiriert er ganze Generationen von Schauspielern, Sängern und Regisseuren.“Neuenfels gilt als einer der Protagonisten des gesellschaftlichen und ästhetischen Aufbruchs der Theater nach 1968. Immer wieder hat er sich für Uraufführungen und zeitgenössische Werke eingesetzt. Der am 31. Mai 1941 in Krefeld geborene Neuenfels studierte Regie am Max Reinhardt Seminar in Wien, wo er auch seine spätere Ehefrau Elisabeth Trissenaar kennenlernte. Sie spielte häufig große Rollen in seinen Inszenierungen. Der gemeinsame Sohn Benedict ist als Kameramann erfolgreich („Mahler auf der Couch“).
Neuenfels begann seine Laufbahn als Regisseur am Wiener Theater am Naschmarkt. Im Laufe seiner jahrzehntelangen Karriere inszenierte er unter anderem am Schauspiel Frankfurt, in Stuttgart, Hamburg, Berlin, München, Zürich und
Wien. Von 1986 bis 1990 war er Intendant der Freien Volksbühne Berlin. Neuenfels drehte auch Filme, etwa über Heinrich von Kleist oder Jean Genet. Und er war ein leidenschaftlicher Autor: 2011 erschienen seine Memoiren mit dem Titel „Das Bastardbuch – Autobiografische Stationen“.
Die größte öffentliche Aufmerksamkeit galt aber Neuenfels’ Arbeiten am Musiktheater. Dreimal wurde er zum „Opernregisseur des Jahres“gewählt. Sein Regiedebüt an der Oper hatte er 1974 mit Giuseppe Verdis „Troubadour“in Nürnberg gegeben. Mit Verdis „Aida“ließ er 1980 in
Frankfurt einen Theaterskandal folgen. Seine Aida trat dort als Böden schrubbende Putzfrau auf. Skandal auch 2001 bei den Festspielen in Salzburg. In der letzten Saison des umstrittenen Festspielchefs Gerard Mortier zerlegte Neuenfels die „Fledermaus“von Johann Strauß, ließ den Prinzen Orlofsky Kokain statt Champagner konsumieren und eine Sadomaso-Orgie feiern.
Und auch am Kulturskandal des Jahres 2006 war Neuenfels beteiligt: Die Absetzung seiner Inszenierung der Mozart-Oper „Idomeneo“an der Deutschen Oper in Berlin sorgte für weltweite Schlagzeilen. Knackpunkt war die Szene, in der König Idomeneo die abgeschlagenen Häupter von Buddha, Mohammed, Jesus und Poseidon auf vier Stühle legt. Wegen angeblicher islamistischer Bedrohungen wurde die Inszenierung vom Spielplan genommen.
Das Theater der Gegenwart sei oft „zu ängstlich und sehr bescheiden, sehr zurückhaltend und auf sich selbst bezogen“, meinte er einmal in einem Interview. Im Alter wurde Neuenfels versöhnlicher, 2018 ließ er in Salzburg mit klassisch-altmeisterlicher Sicht von Peter Tschaikowskys „Pique Dame“die einstigen Theaterskandale vergessen. „Ohne Theater und Oper hätte ich ein für mich nicht gelungenes Leben geführt, sie waren meine Rettung und mein Glück“, resümierte Neuenfels 2010.