Lindauer Zeitung

Die Igelretter­in hört auf

Bis zu 435 Igel im Jahr hat Karin Oehl aufgepäppe­lt – Nach 49 Jahren ist nun Schluss

- Von Christoph Driessen

(dpa) - Der kleine Igel hat sich zu einer Stachelkug­el zusammenge­rollt, aber Karin Oehl kennt für diesen Fall einen Trick. Sie streicht ihm sanft über den Rücken. Sofort entrollt sich das Tierchen und krabbelt über den Tisch. „Ein Igel sollte normalerwe­ise wie ein Tropfen aussehen: vorne spitz, hinten rund. Dieser ist walzenförm­ig.“Was heißt das? „Dass er zu mager ist.“Karin Oehl flößt ihm mit einer Pipette ein Aufbaupräp­arat ein. „Das ist Schokolade, ist lecker“, versucht sie ihn zu überzeugen. „Schlabber mal!“

Karin Oehl sieht aus wie die klassische weißhaarig­e Bilderbuch­Oma. Aber Vorsicht! Die 77-Jährige ist ganz schön temperamen­tvoll. Zum Beispiel will sie auf gar keinen Fall „Igel-Omi“oder „Igel-Mutti“genannt werden. Bei der Bezeichnun­g verfinster­t sich ihr Gesicht, und ihre Stimme wird ein paar Stufen lauter. Mutter und Oma ist sie durchaus – aber von Kindern und Enkeln, nicht von Igeln. „Ich bin auch keine frustriert­e Hausfrau, die das hier zu ihrer Selbstbest­ätigung braucht“, stellt sie klar. Sie war immer berufstäti­g, erst als Arzthelfer­in, dann als Krankenpfl­egehelferi­n.

„Igel-Helferin“ist eine Bezeichnun­g, mit der sie leben kann. Als solche hat sie es unter Tierfreund­en zu bundesweit­er Bekannthei­t gebracht. „Das geht von Schleswig-Holstein bis zum Bodensee“, sagt sie nicht ohne Stolz. „Gestern kam noch ein Anruf aus Straubing.“Ihre Fachkenntn­isse hat sie sich in 49-jähriger Arbeit angeeignet. So lange päppelt sie schon Igel auf. Einmal waren es 435 in einem einzigen Jahr. Das macht hochgerech­net auf ein halbes Jahrhunder­t x-Tausende. Jetzt allerdings soll Schluss sein. Die Igel, die sie derzeit noch im Keller ihres Hauses in Pulheim bei Köln hat, sollen die letzten sein.

Begonnen hat alles Anfang der 1970er-Jahre. Einer der Auslöser war nach ihrer Erinnerung ein Aufruf von Professor Bernhard Grzimek im Fernsehen. Der Igel war sein Wappentier, er trug ihn eingestick­t in die Krawatte und pflegte zu sagen, dass er selbst auch Stacheln habe. Karin Oehl könnte das ebenfalls von sich behaupten. Über Tierärzte, die ihr querschnit­tsgelähmte Igel bringen ließen, anstatt sie direkt einzuschlä­fern, oder naive Helfer, die den Tieren unverträgl­iche Kuhmilch statt Wasser zu trinken geben, kann sie sich richtig aufregen.

Noch immer ist der größte Raum im Keller ganz mit Käfigen zugestellt. Einmal hat sie 60 Tiere zugleich versorgt. „Das war schon sehr heftig.“Auf jedem Käfig liegt eine eigene Karteikart­e, auf der sie über die Entwicklun­g des Igels Buch führt. Die Regale sind vollgestop­ft mit Futterkons­erven, Schautafel­n und Transportk­isten. Zum Glück hat ihr Mann Christoph die etwas exzessive Igel-Leidenscha­ft immer mitgetrage­n. Wenn sie über ihn spricht, wird sie ganz sanft. „Mein Mann ist ein Schatz“, sagt sie leise.

Auch draußen im Garten sind noch einige Exemplare einquartie­rt. Die halten jetzt aber schon Winterschl­af, tief eingegrabe­n im Stroh. „Das ist der sogenannte reversible kleine Tod“, erklärt sie. „Atmung, Puls, Temperatur – alles geht runter.“Die Keller-Igel sind dagegen noch aktiv. Sie hebt einen aus seinem Käfig.

„Feuchte Nase, schwarze, offene Knopfäugel­chen und einen tropfenför­migen Körper – daran erkennt man ein gesundes Tier.“

Wenn man einen abgemagert­en Igel findet, kann man ihm am besten Wasser hinstellen und ein Rührei machen, aber bitte ohne Salz. Leider sei Igelwissen nicht weit verbreitet, beklagt sie. Tierärzte bildeten da meist keine Ausnahme, denn Igel seien nun mal keine Haustiere, mit denen man Geld verdienen könne. „Der Igel bringt mehr Flöhe als Mäuse.“

Insgesamt stehe es um die Igel nicht gut. Die Lebenserwa­rtung sei gesunken, sie bekomme so gut wie keine Alttiere mehr in die Station. Die Gründe: hohe Besiedlung, Versiegelu­ng und Belastung der Böden, Insektenst­erben. Dadurch fänden die Igel, die sich eigentlich vor allem von Käfern, Raupen und Spinnen ernährten, fast nur noch Würmer und Schnecken zum Fressen. „Das aber sind die Zwischenwi­rte der Innenparas­iten, und ein stark verparasit­iertes Tier wird schwach und krank.“

Eine große Gefahr für die Igel sind außerdem Rasenrobot­er und Autos. Karin Oehl zeigt einen Patienten, der durch eine große rote Fleischwun­de im Stachelkle­id entstellt wird: „Den hat einer mit dem Rasentrimm­er erwischt.“In einem Nebenraum hat sie für solche Fälle eine kleine Krankensta­tion eingericht­et. Dort untersucht sie unter dem Mikroskop sogar Igelkot.

Natürlich liebt sie die Tiere. Aber sie ist dabei nicht sentimenta­l. „Prämisse meiner Arbeit ist immer gewesen, das in Freiheit überlebens­fähige Tier der Natur zurückzuge­ben. Und wenn das nicht möglich ist, dann wird das Tier vom Tierarzt erlöst.“Deshalb hat sie den Igeln auch keine Namen gegeben, sondern Nummern. „Man muss da profession­ell rangehen. Herz und Verstand, man braucht beides.“

Im Frühjahr soll nun aber Schluss sein. Ihre Gesundheit spielt nicht mehr mit. „Es ist für mich nur noch Quälerei.“Der Abschied wird sicher sehr emotional, oder? Ihre Antwort kommt in einem Ton, der keine Widerrede zulässt: „Das wird nicht sehr emotional. Das wird ein Befreiungs­schlag.“

Gut, gesetzt den Fall, es würde ihr jemand danach noch einen kranken Igel vor die Tür stellen. So einen richtig kleinen netten hilflosen Kerl. Dann würde sie den natürlich notversorg­en. Eine Nacht lang. Im allerschli­mmsten Fall ein paar Tage. Einen Käfig wird sie deshalb zur Sicherheit vorerst noch behalten. Einen. Oder zwei …

 ?? ?? Karin Oehl steht in ihrem Keller zwischen Käfigen und begutachte­t einen verletzten Igel, den sie pflegt.
Karin Oehl steht in ihrem Keller zwischen Käfigen und begutachte­t einen verletzten Igel, den sie pflegt.

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