Die Sphinx aus Berlin
Der Antrittsbesuch des Kanzlers ließ auf sich warten. Fast zwei Monate vergingen, ehe Olaf Scholz im Weißen Haus auftauchte. Nach amerikanischem Geschmack zu lange und auf jeden Fall lange genug, Zweifel an der Verlässlichkeit des neuen Regierungschefs zu nähren. Gemessen an den Problemen, die Scholz zu Beginn der Ampel-Regierung auf die Füße fielen, ist das gewiss nicht ganz fair. Und substanziell gibt es keinen wirklichen Anlass, die Bündnistreue infrage zu stellen. Der Kanzler hat recht, wenn er dies als „Unsinn“zurückweist.
Die Regierung hat die bestehenden Absprachen zu Nord Stream 2 aus dem vergangenen Sommer niemals infrage gestellt. Waffenlieferungen an die Ukraine hätte es auch mit Angela Merkel nicht gegeben. Und ja, Wladimir Putin darüber rätseln zu lassen, was Russland an Sanktionen erwartet, wenn es in die Ukraine einmarschiert, macht Sinn. Aber sich mit „strategischer Ambiguität“herauszureden, während der US-Präsident an seiner Seite klare Worte zur Pipeline findet, macht das Verhalten des Kanzlers zum Rätsel. Mit einer deutlichen Aussage zu Nord Stream 2 hätte er jede Skepsis über die Kontinuität deutscher Außenpolitik ausräumen können. Aber Scholz präsentierte sich als Sphinx aus Berlin. Er blieb auch im CNN-Interview bei seinem unergründlichen Entschluss, den Namen nicht zu erwähnen. Ironischerweise sorgte er mit der verbalen Vermeidungsakrobatik dafür, dass sich der Blick der Öffentlichkeit voll auf die Röhrenleitung richtete.
Damit ging verloren, dass Scholz vieles andere richtig gemacht hat. Es gibt eine funktionierende Arbeitsteilung mit den USA in der UkraineKrise, bei der Deutschland seine Stärken einbringt. Biden übernahm eine Reihe an Punkten, die Berlin seit Tagen betont. Etwa die deutschen Hilfen für die Ukraine, den Beitrag zur Nato und die Leistungen auf diplomatischer Ebene. Und deutsche Experten arbeiten seit Wochen eng mit den Amerikanern bei der Vorbereitung eines Sanktionsmenüs zusammen. So geriet sein Antrittsbesuch im Weißen Haus zu einer Mission mit Schönheitsfehler.