„Selbst das Oberhaupt der katholischen Kirche hatte nicht die Absicht, Kinder zu schützen.“
- Wenn Klaus Nadler über seine Motorradreisen spricht, begeistert von den vielen Kilometern auf kurvenreichen Strecken berichtet, dann leuchten seine Augen. Dann ist der 72-Jährige aus Weingarten ganz bei sich. Im breiten Badener Tonfall erzählt er über die geselligen Treffen mit anderen Bikern. Ein zufriedener Rentner, der den Ruhestand genießt, könnte man meinen. Doch plötzlich, mitten im Gespräch, wird Nadler ernst, seine Hände fangen an zu zittern. Denn das Gesprächsthema wechselt, diskutiert wird der Missbrauchsskandal in der katholischen Kirche. Was wusste der emeritierte Papst Benedikt XVI.? Nadler ist einer der Betroffenen. Zwischen 1956 und
1964 wurde er von drei Geistlichen dort missbraucht, wo er sich am sichersten fühlte: in Sakristeien, Pfarrhäusern, Zeltlagern, Ferienheimen. Aufgrund der psychischen Belastung musste der gelernte Zahntechniker mit 49 Jahren in Frührente gehen. Das Erzbistum Freiburg hat Nadlers Leid anerkannt, heute erhält er monatlich 350 Euro Zuwendung, außerdem bekam er 15 000 Euro. Doch die Geldleistungen können über die seelischen und finanziellen Belastungen nicht hinweghelfen: „Jedes Mal, wenn im Fernsehen ein neuer Beitrag gesendet wird, kommt alles wieder hoch“, sagt der Mann mit dem Schnauzbart, „jedes Mal habe ich einen neuen Schmerz.“
Die Vorsitzende des Freiburger Betroffenenbeirats, kennt Abwehrreaktionen wie jene, die Klaus Nadler sichtbar mitnehmen: „Jedes neue Gutachten triggert bei den Betroffenen des Missbrauchsskandals die Erlebnisse wieder an“, sagt die 45-Jährige, die unter dem Pseudonym Sabine Vollmer die Interessen der Missbrauchsopfer vertritt. Denn sie, selbst Missbrauchsopfer, erlebt noch ganz andere Reaktionen: Von Menschen, die den Missbrauchsskandal bis heute leugnen, werden Betroffene weiterhin als angebliche Nestbeschmutzer angesehen und stigmatisiert. „Darum will ich meinen wirklichen Namen nicht in der Zeitung lesen“, erklärt sie. Zum Münchner Gutachten sagt Vollmer: „Für die Betroffenen ist dieses Gutachten Erschütterung und Erlösung zugleich. Nun lässt sich nicht mehr leugnen: sexueller Missbrauch wurde auf allen Ebenen der Kirche vertuscht. Wer noch auf ein Signal von ganz oben hoffte, weiß nun, warum es niemals kam. Selbst das Oberhaupt der katholischen Kirche hatte nicht die Absicht, Kinder zu schützen.“Nach jedem neuen Gutachten melden sich nach Vollmers Worten weitere Betroffene: „Sie haben zum Teil jahrzehntelang geschwiegen.“So wie Klaus Nadler.
Klaus Nadler wird als zweitältestes von sechs Kindern 1949 geboren, „in prekäre Verhältnisse hinein“, wie er sagt. Die Familie wohnt in Freiburg im Breisgau in Unterkünften eines ehemaligen Arbeitslagers der Nazis. An jedem Weihnachtsfest feiert der damalige Erzbischof, Hermann Schäufele, die Mette mit den Bewohnern. Nach der Erstkommunion wird der damals siebenjährige Klaus Messdiener. Sein Leidensweg beginnt. Im Zeltlager in Lenzkirch missbraucht ihn einer der Leiter, ebenso in einem Ferienlager bei Heidelberg: „Dort bekamen wir Prügel ohne Ende und mussten uns alte Hitlerjugend-Hemden überstreifen.“Damit nicht genug: Jahrelang vergeht sich der Pfarrer einer Freiburger Pfarrgemeinde an dem Jungen. „1964, als ich schon in meiner ersten Lehre zum Bäcker war, kam ein Abgesandter des Erzbistums zu mir und wies mich quasi an, nichts zu erzählen, der Pfarrer werde in eine andere Gemeinde versetzt“, erinnert Nadler sich.
Die Angaben des 72-Jährigen, die die Erzdiözese im Jahr 2011 bestätigt hat, decken sich mit einer leicht nachvollziehbaren Recherche: Auf den landeskundlichen Seiten des Landes Baden-Württemberg im Internet ist bis heute nachzulesen, dass jener Pfarrer vom Erzbistum
Freiburg nicht nur mit dem Titel „Geistlicher Rat ehrenhalber“ausgezeichnet wurde, sondern auch noch das Bundesverdienstkreuz bekam. Mehrere Male versetzte ihn sein Arbeitgeber ins Ausland – auch dies eine damals übliche Vorgehensweise, um Missbrauchstäter zu schützen. In den 1970er-Jahren wirkte der Mann wieder in Baden als Pfarrer, offensichtlich unbehelligt. Er starb Anfang der 1990erJahre.
„Die fehlerhaften Strukturen der Vergangenheit lässt die Erzdiözese Freiburg derzeit aufarbeiten“, sagt Marc Mudrak, der Pressesprecher der Erzdiözese: „Die unabhängige AG Aktenanalyse untersucht seit dem Jahr 2018 den früheren Umgang mit Missbrauchsfällen und erstellt dazu voraussichtlich im ersten Halbjahr 2022 eine Studie.“Ehemalige Kriminalbeamte und Juristen decken die Machtstrukturen im Erzbistum Freiburg in jenen Jahren auf und werden anhand von annähernd zwanzig exemplarischen Fällen, die auch das Handeln der Bistumsverantwortlichen der vergangenen Jahrzehnte betreffen, die systemischen Bedingungen für Missbrauch in das Zentrum der Betrachtung rücken, etwa autoritäre Strukturen und gruppenspezifische Mentalitäten.
Um der damaligen Wirklichkeit auf die Spur zu kommen, dürften bislang weit mehr als 200 Gespräche mit Betroffenen, Beteiligten und Beschuldigten geführt worden sein – nicht zuletzt mit dem vormaligen Erzbischof Robert Zollitsch: „Wir erwarten ein weiteres Erdbeben, denn Zollitsch war ja nicht nur Erzbischof von Freiburg, sondern auch zwischen 2008 und 2014 Vorsitzender der Deutschen Bischofskonferenz“, sagt Sabine Vollmer, die Vorsitzende des Freiburger Betroffenenbeirats. Sie fordert von der Bischofskonferenz:
„Sie muss sich positionieren, falls der ehemalige Vorsitzende als Vertuscher genannt wird.“Vollmer wünscht sich, „dass die Vertuscher sich schon vor der Veröffentlichung schuldig bekennen. Das wäre mal ein echtes Zeichen von Reue.“
Sabine Vollmer, Betroffenenbeirat Freiburg
Zurück zu Klaus Nadler. Ende der 1990er-Jahre ist Nadler mittlerweile verheirateter Vater zweier Kinder, hat umgeschult und arbeitet seit über 20 Jahren als gut verdienender Zahntechniker. Doch plötzlich wird er psychisch krank. Weder in einer psychiatrischen Klinik wird die richtige Diagnose gestellt, auch ambulant tätige Psychiater können ihm nicht helfen: „Nach Missbrauch hat keiner gefragt, da kam niemand in jener Zeit auf die Idee“, erinnert sich Nadler heute. Einer der Psychiater rät der Frau seines Patienten: „Gehen Sie, Ihr Mann macht alles kaputt.“Zeitgleich zerbrechen Ehe und Karriere. Der Frührentner schlägt sich jahrelang als Begleiter von Schwertransporten durch.
2011 macht der Jesuitenpater Klaus Mertes als damaliger Rektor des Berliner Canisius-Kollegs Fälle von sexuellem Missbrauch durch Priester, Ordensleute und Diakone publik und stößt so eine bundesweite Aufdeckungswelle an: „Schlagartig wurde mir klar: Der Missbrauch, das war’s, das hat meine psychische Krankheit ausgelöst“, berichtet Nadler. Seiner zweiten Frau sagt er, als Betroffene reden: „Und ich war einer davon.“
Nadler meldet sich beim Erzbistum Freiburg, das seinen Fall anerkennt und im August 2011 5000 Euro und später weitere 10 000 Euro überweist: „Als Anerkennung ihrer Leiden“, wie es in dem Schreiben der Missbrauchsbeauftragten heißt.
2014 wird Stefan Burger zum Erzbischof in Freiburg gewählt. Im Breisgau richtet er den Blick auf die Missbrauchsopfer: „Burger unternimmt viel, um den Missbrauchsopfern zu helfen,“sagt Sabine Vollmer vom Betroffenenbeirat. Das bestätigt auch Klaus Nadler: „Ich habe mit dem Erzbischof gesprochen, er hat sich mein Klagen angehört.“Offensichtlich haben diese Gespräche der Bistumsleitung die Wahrnehmung der Institution Kirche
auf die Betroffenen verändert. Pressesprecher Mudrak zählt auf: „Betroffene können sich heute bei der externen Missbrauchsbeauftragten der Erzdiözese melden und von ihren Erfahrungen berichten. Es findet dann zeitnah ein Gesprächstermin mit dem Büro der Beauftragten statt. Das Gesprächsprotokoll ist die Basis für einen Antrag auf Anerkennungszahlungen.“
Weiter wurde in Freiburg eine „Unabhängige Fachstelle für Unterstützung“eingerichtet. Weiter bietet eine Psychotherapeutin traumatherapeutische Beratungen an und vermittelt die Opfer je nach Bedarf in einen Pool von Psychotherapeuten, der jederzeit ansprechbar ist. 20 Personen haben sich nach Auskunft der Erzdiözese seit Anfang 2020 bis heute mit der Bitte um Unterstützung an die Fachstelle gewandt. Denn nicht jede oder jeder Betroffene kann sich selbst helfen: Viele von ihnen sind als Folge des Missbrauchs von Obdachlosigkeit, Straffälligkeit, Arbeitsunfähigkeit oder Suchterkrankungen bedroht oder haben dies am eigenen Leib erfahren. Aber viele können dank monatlicher Hilfen zwischen 200 und 800 Euro ein Leben in Würde führen, das ihnen ohne dieses Geld verwehrt wäre. Klaus Nadler beispielsweise erhält seit 2020 350 Euro pro Monat: „Damit kann ich meine Rente, das sind 950 Euro, aufstocken.“
Mit dem Erzbistum Freiburg hat Nadler seinen Frieden geschlossen – nach Jahrzehnten, in denen er um seine Rechte kämpfen musste: „Und das so lange Jahre erfolglos.“
Ohne sichtbare Empathie gestalten sich dagegen die Verhandlungen mit der Deutschen Bischofskonferenz. Der Briefwechsel liegt der „Schwäbischen Zeitung“vor. Eine Antwort aus dem Sekretariat der Bischofskonferenz vom Mai
2014 auf den Brief Nadlers an den Missbrauchsbeauftragten der Bischöfe, den Trierer Bischof Stephan Ackermann, ist ernüchternd. Das Erzbistum Freiburg habe bereits gezahlt: „Weitere Zahlungen sind im Rahmen der Anerkennungsleistungen leider nicht möglich.“Dass Nadler, das anerkannte Missbrauchsopfer und bis heute Mitglied der katholischen Kirche, um Hilfe für eine Reise nach Israel gebeten hatte („Möchte unbedingt die Stellen von Jesus besuchen. Kann mir dies mit meiner bescheidenen Rente nicht ermöglichen.“), wird ebenso abschlägig beschieden: „Keine Hilfeleistung im Sinne des Ergänzenden Hilfesystems“.
Vier Jahre später: Im Herbst 2018 macht die katholische Kirche die sogenannte MHG-Studie und damit Zahlen zu sexuellem Missbrauch öffentlich. Demnach sind bundesweit in den Personalakten von 1946 bis 2014 insgesamt 1670 Kleriker wegen sexuellen Missbrauchs Minderjähriger beschuldigt worden. Es gab 3677 Opfer. Seit Anfang 2021 können Missbrauchsopfer nach einer Neuregelung der Anerkennungszahlungen höhere Summen beantragen. Der Beschluss der deutschen Bischöfe vom September 2021 sieht finanzielle Leistungen von bis zu 50 000 Euro vor. Allein im Jahr 2021 gehen bei der katholischen Kirche 1509 Anträge auf Zahlungen für Opfer sexuellen Missbrauchs ein. Über 519 davon entscheidet die Unabhängige Kommission für Anerkennungsleistungen (UKA) bis Ende 2021.
Auch Nadler macht sich Hoffnungen auf weiteren Ausgleich: „Meine finanziellen Verluste, da ich zwischen 1999 und dem normalen Renteneintritt 2014 nicht arbeiten konnte, betragen mehr als 500 000 Euro“, rechnet er vor, „ich hätte als Zahntechniker 4000 Euro brutto im Monat verdient.“Er stellt erneut einen Antrag auf weitere Geldleistungen, der im Januar dieses Jahres beschieden wird – wieder negativ: Die UKA habe sich an Entscheidungen staatlicher Gerichte in vergleichbaren Fällen zu halten, heißt es in dem Schreiben, das der „Schwäbischen Zeitung“ebenfalls vorliegt. Die bereits ausgezahlten Leistungen seien „angesichts der geschilderten Taten, ihrer Folgen und des Umgangs mit dem Fall durch verantwortliche Personen (...) angemessen und erforderlich.“Im Klartext: Die katholische Kirche hält 15 000 Euro plus den monatlichen Rentenzuschuss für acht Jahre des Missbrauchs, Jahrzehnte der psychischen Krankheit, einer zerbrochenen Ehe und des Verdienstausfalls für angemessen.
Die jüngste Chance auf Aufarbeitung ist aus Sicht der Missbrauchsopfer erst am vergangenen Wochenende wieder verspielt worden: Ihre Vertreter äußerten sich enttäuscht über den Ausgang der dritten Vollversammlung des Synodalen Weges in Frankfurt. Erneut hätten bei den Gesprächen zwischen Kirchenvertretern und Laien die Anliegen der Opfer keine Rolle gespielt, kritisiert die Betroffenenorganisation Eckiger Tisch. Zentrale Forderungen von finanzieller Unterstützung für die Selbstorganisation der Betroffenen, einem „Opfergenesungswerk“für praktische Hilfen und Unterstützung für Betroffene und eine angemessene Entschädigung seien nicht aufgegriffen worden.
Sabine Vollmer vom Freiburger Betroffenenbeirat aber gibt nicht auf, sondern fordert, dass die Bischöfe ihren salbungsvollen Worten endlich Taten folgen lassen und das System für Anerkennungsleistungen deutlich verbessern: „Menschen, die ihr Leben lang unter den Folgen des Missbrauchs leiden, ist die Arroganz des Vertuschens, Aussitzens und Lügens nicht mehr länger zuzumuten. Sie müssen unterstützt werden und dürfen sich nicht länger als Nestbeschmutzer in ihren Gemeinden und in der Kirche fühlen.“Über Jahrzehnte sei den Betroffenen einfach nicht geglaubt worden: „Spätestens seit München dürfte jetzt klar sein, wer hier seine Glaubwürdigkeit endgültig verspielt hat.“
Und Klaus Nadler? „Der himmelschreiende Unterschied zwischen Verkündigung und Realität tut einfach nur weh“, sagt er, „jedes neue Gutachten beweist: Es stimmt, die da oben haben alles gewusst. Immer.“
Klaus Nadler, Missbrauchsopfer