„Es herrscht Enttäuschung“
Ukrainischer Autor Kurkow über Stimmung im Land und Verhältnis zu Deutschland
- Andrej Kurkow gilt als Ukraine-Erklärer. Der 60-Jährige Schriftsteller, Drehbuchautor, Dokumentarfilmer und Journalist lebt in London und in Kiew, wo er zum russischsprachigen Teil der Bevölkerung gehört. Kurkow zeigte sich als scharfer Kritiker Putins. In seinen Romanen erzählt er vom Alltag in Russland und der Ukraine. Im Interview spricht er über das Verhältnis von Ukrainern und Russen, die Annäherung an die Nato und die Erwartungen an Deutschland und die Europäische Union.
An der Grenze zur Ukraine marschieren russische Truppen auf und die USA entsenden zusätzliche Soldaten nach Europa. Für wie wahrscheinlich halten Sie einen Angriff Russlands?
Ich glaube nicht, dass es zu einer Okkupation kommt, dafür bräuchte Russland tatsächlich viel mehr Soldaten. Ich rechne aber mit lokalen Eskalationen, zum Beispiel am Donbass oder an der belarussischen Grenze. Vor allem der belarussische Machthaber Alexander Lukaschenko sucht nach Gründen für eine Eskalation und spricht absurderweise von Provokationen durch die Ukraine.
Wie ist angesichts der
Drohkulisse an den Grenzen die Stimmung in der Bevölkerung im Land?
Es gibt keine Panik. Die Leute lesen zwar die Nachrichten und bekommen mit, was passiert, aber sie stehen nicht Schlange vor den Banken oder Geschäften. Konflikte ist die Ukraine nach acht Jahren Kriegszustand schließlich gewöhnt und die Armee wirkt gut vorbereitet. Es gibt zwar einige radikale Nationalisten, aber die meisten Menschen sind sehr tolerant und die Stimmung zwischen den Bevölkerungsgruppen ist entspannt.
In welche Richtung orientiert sich die Ukraine gesellschaftlich?
Mehr Richtung Westen und damit zur Nato und zur EU oder in Richtung Russland?
Viele russischsprachige Ukrainer und viele Krimtataren sind in den
Andrej Kurkow (Foto: Aichner) liest am Mittwoch, 9. Februar um 19.30 Uhr, in der Reihe „Lesung und Gespräch“des Evangelischen Bildungswerks Oberschwaben online aus seinem Roman „Graue Bienen“und spricht mit Chat-Teilnehmern über die aktuelle Situation in der Ukraine. Eine Anmeldung zur Lesung ist erforderlich unter
info@ebo-oab.de letzten Jahren in die westlichen Gebiete des Landes emigriert, weil es dort eine bessere Infrastruktur und bessere Bedingungen für Unternehmen gibt. Wenn man es so will, hat Putin dafür gesorgt, dass sich mehr Teile der Bevölkerung in Richtung Europa orientieren. Mittlerweile sprechen sich mehr als 50 Prozent der Bevölkerung für einen Nato-Beitritt aus. Andererseits sind aber viele Menschen von der Europäischen Union sehr enttäuscht.
Woran liegt das?
Vor allem daran, dass es keine gemeinsame Stimme der EU gibt. Deutschland, das ist der Eindruck in der Ukraine, ist der Handel mit Russland wichtiger als die Probleme. Das Gaspipelineprojekt Nord Stream 2 ist der Beweis dafür, dass das Schicksal der Ukraine keine große Rolle spielt. Früher waren Deutschland und die EU Hauptansprechpartner für die Ukraine, doch jetzt wird man sich mehr in Richtung der USA, Litauens oder Polens orientieren müssen.
Zuletzt gab es in Deutschland Diskussionen um mögliche Waffenlieferungen an die
Ukraine. Kanzler Olaf Scholz blieb vor seinem Antrittsbesuch in Washington bei einem klaren Nein. Wie wird das Thema in der Ukraine aufgefasst?
Die ausbleibenden Waffenlieferungen sind seit Tagen Hauptthema in den Nachrichten. Bei allem Verständnis für die historischen Gründe muss man sagen, es herrscht Enttäuschung.