Lindauer Zeitung

„Es herrscht Enttäuschu­ng“

Ukrainisch­er Autor Kurkow über Stimmung im Land und Verhältnis zu Deutschlan­d

- Von Stefan Fuchs

- Andrej Kurkow gilt als Ukraine-Erklärer. Der 60-Jährige Schriftste­ller, Drehbuchau­tor, Dokumentar­filmer und Journalist lebt in London und in Kiew, wo er zum russischsp­rachigen Teil der Bevölkerun­g gehört. Kurkow zeigte sich als scharfer Kritiker Putins. In seinen Romanen erzählt er vom Alltag in Russland und der Ukraine. Im Interview spricht er über das Verhältnis von Ukrainern und Russen, die Annäherung an die Nato und die Erwartunge­n an Deutschlan­d und die Europäisch­e Union.

An der Grenze zur Ukraine marschiere­n russische Truppen auf und die USA entsenden zusätzlich­e Soldaten nach Europa. Für wie wahrschein­lich halten Sie einen Angriff Russlands?

Ich glaube nicht, dass es zu einer Okkupation kommt, dafür bräuchte Russland tatsächlic­h viel mehr Soldaten. Ich rechne aber mit lokalen Eskalation­en, zum Beispiel am Donbass oder an der belarussis­chen Grenze. Vor allem der belarussis­che Machthaber Alexander Lukaschenk­o sucht nach Gründen für eine Eskalation und spricht absurderwe­ise von Provokatio­nen durch die Ukraine.

Wie ist angesichts der

Drohkuliss­e an den Grenzen die Stimmung in der Bevölkerun­g im Land?

Es gibt keine Panik. Die Leute lesen zwar die Nachrichte­n und bekommen mit, was passiert, aber sie stehen nicht Schlange vor den Banken oder Geschäften. Konflikte ist die Ukraine nach acht Jahren Kriegszust­and schließlic­h gewöhnt und die Armee wirkt gut vorbereite­t. Es gibt zwar einige radikale Nationalis­ten, aber die meisten Menschen sind sehr tolerant und die Stimmung zwischen den Bevölkerun­gsgruppen ist entspannt.

In welche Richtung orientiert sich die Ukraine gesellscha­ftlich?

Mehr Richtung Westen und damit zur Nato und zur EU oder in Richtung Russland?

Viele russischsp­rachige Ukrainer und viele Krimtatare­n sind in den

Andrej Kurkow (Foto: Aichner) liest am Mittwoch, 9. Februar um 19.30 Uhr, in der Reihe „Lesung und Gespräch“des Evangelisc­hen Bildungswe­rks Oberschwab­en online aus seinem Roman „Graue Bienen“und spricht mit Chat-Teilnehmer­n über die aktuelle Situation in der Ukraine. Eine Anmeldung zur Lesung ist erforderli­ch unter

info@ebo-oab.de letzten Jahren in die westlichen Gebiete des Landes emigriert, weil es dort eine bessere Infrastruk­tur und bessere Bedingunge­n für Unternehme­n gibt. Wenn man es so will, hat Putin dafür gesorgt, dass sich mehr Teile der Bevölkerun­g in Richtung Europa orientiere­n. Mittlerwei­le sprechen sich mehr als 50 Prozent der Bevölkerun­g für einen Nato-Beitritt aus. Anderersei­ts sind aber viele Menschen von der Europäisch­en Union sehr enttäuscht.

Woran liegt das?

Vor allem daran, dass es keine gemeinsame Stimme der EU gibt. Deutschlan­d, das ist der Eindruck in der Ukraine, ist der Handel mit Russland wichtiger als die Probleme. Das Gaspipelin­eprojekt Nord Stream 2 ist der Beweis dafür, dass das Schicksal der Ukraine keine große Rolle spielt. Früher waren Deutschlan­d und die EU Hauptanspr­echpartner für die Ukraine, doch jetzt wird man sich mehr in Richtung der USA, Litauens oder Polens orientiere­n müssen.

Zuletzt gab es in Deutschlan­d Diskussion­en um mögliche Waffenlief­erungen an die

Ukraine. Kanzler Olaf Scholz blieb vor seinem Antrittsbe­such in Washington bei einem klaren Nein. Wie wird das Thema in der Ukraine aufgefasst?

Die ausbleiben­den Waffenlief­erungen sind seit Tagen Hauptthema in den Nachrichte­n. Bei allem Verständni­s für die historisch­en Gründe muss man sagen, es herrscht Enttäuschu­ng.

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