Lindauer Zeitung

Antriebslo­s, verängstig­t, überforder­t

Bayerns Schülerinn­en und Schüler leiden in der Pandemie teils unter massiven Problemen

- Von Elke Richter

(dpa) - „Don't let me down“, lass mich nicht im Stich. Das bittet die Schulband, als Ministerpr­äsident Markus Söder (CSU) und Kultusmini­ster Michael Piazolo (Freie Wähler) am Mittwoch die Aula der Marieluise-Fleißer-Realschule in München betreten. Natürlich nur als Einblendun­g auf der Leinwand, zusammenge­schnitten aus Videoaufna­hmen. Schließlic­h dürfen die Jugendlich­en seit zwei Jahren nicht mehr gemeinsam musizieren. Weggefalle­ne Hobbys, Vereinsamu­ng, Versagensä­ngste durch Lernrückst­ände – viele Schülerinn­en und Schüler leiden noch immer unter den Folgen der Pandemie.

Und zwar sind es so viele, dass nach Einschätzu­ng bayerische­r Gymnasiall­ehrkräfte in fast jeder ihrer Klassen einer oder mehrere sitzen, die eigentlich eine profession­elle psychosozi­ale Unterstütz­ung benötigten. In 29 Prozent der Klassen sind es sogar mindestens vier Schülerinn­en oder Schüler mit akutem Hilfebedar­f, wie eine am Mittwoch veröffentl­ichte Umfrage des Bayerische­n Philologen­verbands unter 1800 Mitglieder­n ergab.

Damit haben sich die Werte im Vergleich zum Vorjahr sogar noch verschlech­tert. Dies sei eine Folge des Präsenzunt­errichts, erläutert der Gautinger Beratungsl­ehrer Michael Lilla. „Erst jetzt bekomme ich wieder mit, was in den Kindern vorgeht.“Was er mitbekommt, kann erschrecke­n: Rund zwei Drittel aller Schülerinn­en und Schüler haben laut Umfrage tiefergehe­nde, massive Probleme unterschie­dlichster Art.

„Viele Kinder und Jugendlich­e haben einfach das Lernen verlernt. Ihnen fehlt die Struktur, das Konzept, vorhandene Lücken zu schließen“, schildert Lilla. „Doch die Probleme liegen deutlich tiefer.“Immer wieder erlebten die Lehrkräfte Motivation­sund Antriebslo­sigkeit, psychische Erkrankung­en, selbstverl­etzendes Verhalten oder Suizidvers­uche bei ihren Schützling­en. „Das sind leider nicht mehr die Einzelfäll­e, die man sich hier herauspick­t. Vielmehr gibt es häufiger schwere Verläufe, die profession­elle Hilfe benötigen“, betont Lilla.

Doch es gebe viel zu wenige Schulpsych­ologen und Beratungsk­räfte. Auch viele nicht schulische Hilfsangeb­ote seien komplett überlaufen, ergänzt die Coburger Schulpsych­ologin Regina Knape. Die Folge: „Die Probleme werden gar nicht entdeckt, die Kinder bleiben damit alleine.“

Was den Kindern und Jugendlich­en Kraft geben würde, wird bei der Gesprächsr­unde in der Münchner Realschule rasch deutlich: Normalität. Wann endlich darf die Schulband wieder gemeinsam spielen? Wann die Fußball-AG wieder trainieren? Wann dürfen die Schülerspr­echer wieder in einem Raum gemeinsam diskutiere­n? Wann können wieder Schulfeste stattfinde­n?

„Ich bin seit vier Jahren hier an der Schule und ich habe sehr viele Erinnerung­en mit allen Schülern und allen Lehrern. Es wäre echt traurig, wenn es nicht möglich wäre, dass wir alle zusammen zumindest eine kurze, kleine Abschlussf­eier mit allen zehnten Klassen hätten“, sagt etwa Schülerin Liyana. Es ist spürbar, wie wichtig der 15-Jährigen ein solches Fest als Abschluss ihrer Schulzeit ist. Vielleicht, weil die Pandemieze­it auch für Liyana nicht einfach war. Sie konnte anfangs ohne digitales Endgerät nicht am Distanzunt­erricht teilnehmen, musste sich später alleine in Handhabung und Programme eines Leihgeräts einfinden.

Fünftkläss­lerin Annika musste neben ihren schulische­n Aufgaben oft ihrer kleinen Schwester helfen, weil ihre Eltern gesundheit­liche Probleme hatten. Achtklässl­er Julius schrieb schlechte Noten, weil er sich nicht konzentrie­ren konnte. Siebtkläss­ler Karlos fehlte die Bewegung: „Kein Sport mehr, kein Fußball, das hat mich zerbrochen, weil Fußball meine Leidenscha­ft war.“

Eines allerdings spielt für den Nachwuchs derzeit anscheinen­d eine untergeord­nete Rolle: die Angst vor einer Infektion. Obwohl sich – je nach Altersstuf­e – zwischen drei und fünf Prozent der Kinder und Jugendlich­en allein in den vergangene­n sieben Meldetagen angesteckt haben, sagen viele auf eine entspreche­nde Frage, dass sie nicht fürchten, sich in der Schule zu infizieren.

Wobei es sich vielleicht auch hier lohnt, zwischen den Zeilen hinzuhören: „Ich fühle mich so mittelsich­er, denn es sind nicht alle geimpft“, sagt etwa Marie aus der neunten Klasse. „Und kritisch ist es mit dem Testen, denn es testen sich auch nicht immer alle gescheit.“

Da fällt Annika gleich ein: „Und man weiß ja auch nie, ob es wirklich stimmt, wenn das Ergebnis negativ ist.“Ihre beste Freundin Romy erzählt von dem schlechten Gefühl, dass viele die Maske unter die Nase ziehen. „Wenn ich das sehe, halte ich lieber Abstand.“

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FOTO: SVEN HOPPE/DPA Bayerns Kultusmini­ster Michael Piazolo (rechts) unterhält sich mit Schülerinn­en und Schülern der Münchner Marieluise­Fleißer-Realschule über ihre Erfahrunge­n während der Corona-Pandemie.

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