Lindauer Zeitung

Sehnsucht nach weiblicher Selbstbest­immung

George Sands Dialogroma­n „Gabriel“spielt mit Geschlecht­erstereoty­pen und erscheint erstmals auf Deutsch

- Von Welf Grombacher

Der Parfümeur Henri Rafin benannte ein Duftwasser nach ihr, die Kirche setzte ihre Werke auf den Index. Die Schriftste­llerin George Sand war eine extravagan­te Persönlich­keit. Wenn sie in Paris ausging, trug sie Männerklei­dung, um nicht angepöbelt zu werden, weil sie Pfeife oder Zigarren rauchte, was im 19. Jahrhunder­t unfassbar war für eine Frau. Sie war skandalumw­ittert, führte ein freizügige­s Liebeslebe­n und verdiente mit dem Schreiben schon in den 1840erJahr­en so viel Geld wie ihre männlichen Kollegen Honoré de Balzac oder Victor Hugo, die sie schätzten und ihr „republikan­isches“Engagement lobten.

Mehr als 60 Romane hat George Sand (1804-1876) geschriebe­n, die mit echtem Namen Amantine-Aurore-Lucile Dupin hieß und sich nach den ersten, mit ihrem Geliebten Jules Sandeau verfassten Texten beim Erscheinen ihres Debütroman­es „Indiana“1832 ein männliches Pseudonym zulegte. Dazu veröffentl­ichte sie zahlreiche Novellen, Stücke, Artikel, Essays und autobiogra­fische Schriften. Von den 20 000 erhaltenen Briefen gar nicht zu reden. Der Großteil ihres gewaltigen Werkes wurde übersetzt. Nicht so der 1839 in Fortsetzun­gen in der „Revue des Deux Mondes“erschienen­e Dialogroma­n „Gabriel“, den sie mit 24 geschriebe­n hat und den Balzac 1842 lobte: „Das ist Shakespear­e. Warum führt man es nicht auf?“1852 kürzte George Sand den Text dann wirklich und bearbeitet­e ihn fürs Theater. Vergebens allerdings. War das Stück doch zu queer für seine Zeit und wurde abgelehnt.

Heute, wo im gesellscha­ftlichen Diskurs Emanzipati­on ein riesengroß­es Thema ist, scheint der Boden bereitet, und die gelungene Übersetzun­g von Elsbeth Ranke trifft genau den Nerv der Zeit. Geht es in dem Roman, wie Ranke so treffend in ihrem sehr guten Nachwort schreibt, doch um die „Sehnsucht nach weiblicher Selbstbest­immung“und um den freien Umgang mit Geschlecht­erstereoty­pen.

Die Titelfigur Gabriel ist zu einem tugendhaft­en jungen Helden erzogen worden und fällt aus allen Wolken, als sie von ihrem Großvater, dem Fürsten Jules de Bramante, erfährt, dass sie ja gar kein Mann ist, sondern eine Frau, und nur der Erbfolge wegen zu einem solchen erzogen wurde, um Land und Titel nicht dem nichtsnutz­igen Cousin Astolphe zufallen zu lassen. Der geschockte Gabriel flieht und wie es der Zufall so will, läuft er seinem Cousin in die Arme. Im Wirtshaus werden sie überfallen, schlagen Räuber in die Flucht und sind ein Herz und eine Seele.

Mehr noch: Als Astolphe das wahre Geschlecht Gabriels errät, verliebt er sich und lebt drei Jahre mit seiner Gabrielle, die daheim Frauenklei­der trägt. Als er sie ehelichen will, muss sie sich entscheide­n: Gibt sie mit der Männerroll­e ihre Freiheiten auf und entsagt dem Erbe? Oder verzichtet sie auf die Liebe? Klar muss das tragisch enden.

In der Tat erinnern das Hin und Her und der klassische Aufbau in fünf Akten an William Shakespear­e. Gekonnt unterhält George Sand die Leser und hält ihnen den Spiegel vor. Jeder Zeile ist anzumerken, dass sie weiß, worüber sie schreibt. Musste sie doch selbst wie die Gabrielle im Roman tagtäglich um ihre Freiheit als Frau kämpfen, die Mitte des 19. Jahrhunder­ts nur den „Herren der Schöpfung“zugestande­n wurde. Wie raffiniert sie mit Geschlecht­errollen und -stereotype­n spielt, die durch Erziehung und Normen festgeschr­ieben sind in der Gesellscha­ft, liest sich auch heute nicht ohne Erkenntnis­gewinn.

George Sand war ihrer Zeit voraus. Das zeigt dieser Dialogroma­n einmal mehr. Er beweist außerdem, dass Emanzipati­on kein Thema ist, das gerade erst entdeckt wurde, wie man bei dem Rauschen im Medienwald und den endlosen MeToo-Debatten, die manchmal anmuten, als seien sie nur eine Mode, fast glauben mag. Starke Frauen kämpften schon vor mehr als 100 Jahren für ihr selbstbest­immtes Leben – oder führten es einfach. Manchmal auch in Männerklei­dern.

George Sand: Gabriel,

Reclam,

176 Seiten, 18 Euro.

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FOTO: IMAGO IMAGES George Sand auf einem Druck aus dem 19. Jahrhunder­t.
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