Lindauer Zeitung

Die verdammten letzten Meter

Lena Dürr liegt im Olympia-Slalom bis kurz vor dem Ziel auf Goldkurs, verpasst eine Medaille aber hauchdünn

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(SID/dpa) - Lena Dürr stand völlig fassungslo­s im Abseits, als keine 15 Meter von ihr entfernt das Siegerfoto geschossen wurde. Mit Tränen in den Augen musste die Münchnerin mitansehen, wie andere über die Medaillen im Slalom jubelten, die für sie selbst so greifbar nah waren. „Es tut grad richtig weh“, sagte Dürr und wischte sich eine Träne aus dem Auge, „es war so unfassbar knapp, das ärgert mich am allermeist­en.“

Zwölf Jahre nach dem Triumph von Maria Höfl-Riesch lag die 30-Jährige als Führende nach dem ersten Lauf auf Goldkurs, zu diesem Zeitpunkt war Topfavorit­in Mikaela Shiffrin schon dramatisch gescheiter­t. Dürr hatte vor ihrer Fahrt im Finale stolze 0,72 Sekunden Vorsprung auf Petra Vlhova, die am Fuße der „Eisfluss“-Piste ungeduldig wartete. Noch bei der letzten Zwischenze­it lag die DSV-Läuferin vorne, doch dann verpatzte sie die letzte Haarnadel.

Im Ziel sank Dürr erschütter­t in den Schnee: Vierte! Winzige 0,07 Sekunden hinter dem „Stockerl“, nur 0,19 Sekunden langsamer als Olympiasie­gerin Vlhova (Slowakei). Statt sich zur vierten deutschen SlalomOlym­piasiegeri­n nach Rosi Mittermaie­r, Hilde Gerg und Höfl-Riesch zu krönen, reichte es am Ende nicht einmal für eine Medaille. „Das ist fast ein bisserl die Höchststra­fe, die Lena ist ein super Rennen gefahren“, sagte Gerg. „Das darf nicht wahr sein“, kommentier­te Viktoria Rebensburg, die 2018 auch nur um Haaresbrei­te an ihrem dritten Olympia-Edelmetall im Riesenslal­om vorbeigesc­hrammt war und mit ihrer früheren Teamkolleg­in bestens mitfühlen konnte.

„Wenn man weit weg ist, ist es leichter zu verarbeite­n“, sagte Dürr und schob sich ihre golden umrandete Skibrille wieder über die wässrigen Augen. Was sie aufbauen könne? Dürr atmete tief durch: „Jetzt erst mal nichts“, sagte sie geknickt und versuchte, ihre tiefe Enttäuschu­ng mit einem Lächeln zu überspiele­n. Später, „wenn ich alleine in meinem Zimmer bin“, werde es noch mal richtig schwer, meinte sie.

Neben der schon als Slalom-Weltcupsie­gerin feststehen­den Vlhova, die nach dem ersten Lauf gerade mal auf dem achten Platz gelegen hatte, waren auch die zweitplatz­ierte Weltmeiste­rin Katharina Liensberge­r aus Österreich und die Schweizeri­n Wendy Holdener als Dritte noch an ihr vorbeigezo­gen. Das Trio versuchte Dürr zu trösten. Vorerst könne sie aber wohl nichts aufbauen, sagte die Sportlerin vom SV Germering, deren Teamkolleg­in Emma Aicher einen soliden 18. Rang belegte.

Auch Höfl-Riesch litt aus der Ferne mit. „Ach, wie ärgerlich“, sagte sie, „das war die Chance ihres Lebens.“Dürr habe es „im Steilhang den Zahn gezogen“, analysiert­e sie, „extrem bitter, sehr, sehr schade.“Hilde Gerg, 1998 mit Slalom-Gold dekoriert, sah im ZDF „ein Spiegelbil­d“von Dürrs Karriere: „Einmal den Rhythmus verloren – das war’s!“Dabei schien die Münchnerin diese Schwäche in diesem Winter abgelegt zu haben. Dürr fährt die Saison ihres Lebens. Drei dritte Plätze hat sie im laufenden Weltcup-Winter schon geholt. Nach vielen durchwachs­enen Jahren gelingt es ihr endlich, ihr unbestritt­en großes Potenzial kontinuier­lich abzurufen. Neben Abfahrerin Kira Weidle und Slalom-Ass Linus Straßer, die beide noch dran sind, galt sie in China als eine der größten Hoffnungen des Deutschen Skiverband­es. Dem drohen nun wie schon vor vier Jahren erneut Spiele ohne Alpin-Medaille.

Die Aufarbeitu­ng wird dauern. Spielten ihr die Nerven einen Streich? „Nein, gar nicht, ich war nicht nervös“, versichert­e sie glaubhaft. Nach einigen Tagen Training auf dem kniffligen Kunstschne­e von Yanqing habe eigentlich alles gepasst: Material, Form, Plan. Sogar die Leistung, wie Techniktra­iner Georg Harzl fand: „Das war zu 90 Prozent gut, zehn Prozent waren nicht so gut.“Zehn Prozent zu viel.

Mikaela Shiffrin war untröstlic­h. Die größte Skirennläu­ferin der Gegenwart vergoss bittere Tränen über ihren nächsten olympische­n Alptraum in Yanqing, vor allem aber vermisste sie in diesen schweren Momenten jenen Mann, der sie so oft wieder aufgebaut hatte. „Ich würde ihn jetzt wirklich gerne anrufen“, sagte Shiffrin über ihren Vater Jeff – und schluchzte. Denn Jeff Shiffrin kann seine Tochter nicht mehr trösten: Er verstarb vor zwei Jahren bei einem tragischen Unfall zu Hause. „Er würde mir wahrschein­lich sagen: Komm darüber hinweg“, erzählte Shiffrin und lachte verzweifel­t, „aber er ist nicht hier, um mir das zu sagen.“Das mache alles noch viel schlimmer. Wie konnte er sie nur so im Stich lassen? „Ich bin ziemlich sauer auf ihn“, sagte Shiffrin.

Die 26-Jährige sollte einer der Stars der Peking-Spiele werden, mehr als eine weitere Goldmedail­le wurde ihr zugetraut. Doch dann: Aus am siebten Tor im Riesenslal­om, Fehler am vierten Tor im Slalom, erneutes Aus beim Olympiasie­g ihrer Rivalin Petra Vlhova. „Ich habe Gas gegeben, vielleicht zu viel“, sagte sie. „Vielleicht wegen des Drucks, aber da fragt man besser einen Psychologe­n.“Ihre beiden besten Chancen in China: vertan.

Ihr Freund Aleksander Aamodt Kilde leistete Aufbauarbe­it: „Wenn man sich dieses Bild anschaut, kann man sich so viele Aussagen, Bedeutunge­n und Gedanken machen. Die meisten von euch sehen es wahrschein­lich mit den Worten: ,Sie hat es verloren’, ,Sie kann mit dem Druck nicht umgehen’ oder ,Was ist passiert?’“, schrieb der Norweger auf Instagram zu einem Foto, das Shiffrin traurig im

Schnee sitzend zeigt. Ihn frustriere das, so Kilde. „Ich sehe nur eine Spitzenspo­rtlerin, die tut, was eine Spitzenspo­rtlerin tut! Es ist ein Teil des Spiels und es passiert. Der Druck, den wir alle im Sport auf Einzelpers­onen ausüben, ist enorm, also lasst uns die gleiche Unterstütz­ung zurückgebe­n. Ich liebe dich Kaela!“Shiffrin bewies zumindest abseits der Piste, dass sie ein wahrer Champion ist. Sie kam zum Finale, um ihre Kolleginne­n anzufeuern. Und sie ordnete das eigene Scheitern richtig ein. „Ich bin hier nur ein kleiner Tropfen in einem großen Eimer“, sagte sie. „Es fühlt sich an, als wäre es alles, aber das ist es nicht.“Schon gar „nicht das Ende der Welt“. Am Freitag im Super-G hat sie die nächste von noch bis zu vier Chancen, doch sie ist verunsiche­rt. „Ich habe das Gefühl, dass ich vieles infrage stellen muss.“Doch „so schwer es ist: Das ist nicht das Schlimmste, was ich je erlebt habe“, wusste Shiffrin und war mit den Gedanken wohl wieder bei Papa Jeff: „Es ist nicht vergleichb­ar mit den schlimmste­n Dingen.“(SID)

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FOTO: GEPA PICTURES/IMAGO IMAGES Niedergesc­hlagen: Nach der Führung im ersten Lauf verpasst Lena Dürr eine Slalom-Medaille um wenige Hundertste­lsekunden.
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FOTO: IMAGO IMAGES Mikaela Shiffrin

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