„Mein Leben ist weniger aufregend“
Karl-Heinz Rummenigge über seinen Nachfolger beim FC Bayern und die Fußball-Industrie
(dpa) - Fast zwei Jahrzehnte hat Karl-Heinz Rummenigge den FC Bayern München erfolgreich als Vorstandsvorsitzender angeführt. Nach seinem Rückzug beim Rekordmeister hat sich der 66-Jährige inzwischen im neuen Leben eingerichtet. Beim Treffen in seinem Wohnort Grünwald bezeichnet er es als „stressfreier“. Den Fußball und den FC Bayern verfolgt das UEFAExekutivmitglied weiter intensiv – und er bleibt ein meinungsstarker Gesprächspartner.
Herr Rummenigge, seit sieben Monaten sind Sie nicht mehr Vorstandsvorsitzender des FC Bayern München. Gab es zu irgendeinem Zeitpunkt Entzugserscheinungen? Mein Leben hat sich natürlich verändert. Es ist weniger aufregend, stressfreier. Als ich aufgehört habe Mitte letzten Jahres, bin ich für acht Wochen auf meine Lieblingsinsel Sylt gegangen, um möglichen Entzugserscheinungen entgegenzuwirken. Das war ein gutes Rezept. Der Sommer dort war extrem schön. Und da ich eine sehr große Familie habe, die uns peu à peu besucht hat, hat sich das als eine wirklich gute Entscheidung herausgestellt.
Und jetzt?
Ich verfolge natürlich den Fußball weiter. Ich verfolge auch den FC Bayern weiter, schaue mir jedes Spiel an, aber entspannter. Ich bin noch emotional dabei, aber alles auf einer Ebene, sodass ich mich nicht mehr so aufrege.
Sie standen 20 Jahre an der Spitze des FC Bayern. Können Sie aus Ihren Erfahrungen den abrupten Rückzug von Geschäftsführer Max Eberl bei Borussia Mönchengladbach nachvollziehen? Hat der Druck auf die Entscheider im Fußball – in Corona-Zeiten –nochmals zugenommen?
Der Druck im Fußball war und ist immer groß. Corona hat finanzielle Schäden verursacht. Und das hat Konsequenzen für Vorstände oder Sportdirektoren. Sie müssen damit umgehen. Sie müssen sehr umsichtig agieren auf dem Transfermarkt, insbesondere bei Gehältern, im Umgang mit Beratern und Spielern, die nach wie vor nicht akzeptieren wollen, dass sich der Markt verändert hat, speziell in Deutschland. Ich habe in den 20 Jahren als Vorstandschef bei Bayern München auch nicht nur Sonnenschein erlebt. Man muss ein dickes Fell haben in diesem Geschäft. Uli Hoeneß und ich haben das nach außen immer ausgestrahlt. Aber ich weiß schon, was es bedeutet, wenn du am Samstag in der Bundesliga ein Spiel verloren hast. Dann war das Wochenende hinüber.
Sie haben Ihrem Nachfolger Oliver Kahn etwas früher Platz gemacht, wie Sie sagten. Was denken Sie: Wie will er den FC Bayern ausrichten? Er wird kaum nur Ihren Kurs fortsetzen wollen, oder?
Wenn man neu beginnt, muss man Dinge ein Stück weit modernisieren und neu ausrichten, ohne das Bewährte aufzugeben. Das ist die wahrscheinlich wichtigste Aufgabe, die Oliver hat. Wir blicken auf zehn Jahre zurück, die für Bayern München unglaublich erfolgreich waren – sportlich und auch finanziell. Wir waren ein Vorbild im europäischen Fußball. Diese Stellung zu halten, ist – speziell durch Corona – schwieriger geworden. Aber auch durch die Gesellschaft, die sich verändert hat und möglicherweise gegenüber dem Fußball kritischer geworden ist.
Woran machen Sie das fest?
Ich mache das daran fest, dass FanGruppierungen kritischer mit dem Fußball umgehen. Das hat man nicht nur bei Bayern München auf der jüngsten Jahreshauptversammlung gespürt. Wir sind an einem Punkt, an dem man seriös diskutieren muss: Quo vadis deutscher Fußball? Es ist natürlich für den FC Bayern toll, wenn er jetzt wahrscheinlich zum zehnten Mal nacheinander deutscher Meister wird. Aber für das Thema Emotion im Fußball und in der Bunkommt desliga ist das wiederum nicht gut. Ich empfehle, einen Blick über die Grenzen zu werfen, etwa nach England. Wir haben in Deutschland jahrelang versucht, einige Dinge auszusitzen. Das führt zwangsläufig zu Problemen, national wie international.
Die Champions League startet in die K.o.-Phase. Von den 16 Vereinen im Achtelfinale kommen vier aus England, drei aus Spanien, je zwei aus Italien, Frankreich und sogar Portugal – aber nur einer aus Deutschland. Ist das eine Momentaufnahme oder doch mehr?
Beides. Im letzten Jahr waren noch alle vier Bundesligisten im Achtelfinale. Aber es ist ein negativer Trend erkennbar. Wir können uns die Europa League mit noch vier deutschen Teilnehmern schönreden. Aber der große Fußball findet nun mal in der Champions League statt. Da ist nur noch Bayern München dabei – und das hoffentlich lange.
Eine große Veränderung steht in der K.o.-Phase an: Nach 56 Jahren gilt im Europapokal die Auswärtstorregel nicht mehr. Steht es also im Gesamtvergleich aus Hin- und Rückspiel unentschieden, geht es nun in die Verlängerung. Was erwarten Sie von der Regeländerung? Wir haben in der UEFA-Exekutive lange über dieses Thema diskutiert. Ich war für die Abschaffung – nicht, weil wir mit Bayern München letztes Jahr gegen Paris Saint-Germain so noch in die Verlängerung gekommen wären. Ich bin überzeugt, es wird für mehr Spannung sorgen. Es werden mehr Spiele in die Verlängerung gehen. Die Champions League fängt mit dem K.o.-System für mich erst so richtig an. Und die Abschaffung der Auswärtstorregel wird helfen, den Wettbewerb sportlich noch attraktiver zu machen.
Ist Julian Nagelsmann trotz seiner erst 34 Jahre schon ein Trainer, der Champions-League-Siegerformat besitzt wie Jürgen Klopp (Liverpool), Hansi Flick (Bayern München) und Thomas Tuchel (FC Chelsea), die deutschen Sieger in den vergangenen drei Spielzeiten? Ich habe einen positiven Eindruck von Julian Nagelsmann. Er musste in sehr große Fußstapfen treten, die ihm Hansi mit sieben Titeln in 14 Monaten hinterlassen hat. Er hat sich davon aber nicht irritieren lassen. Er hat den FC-Bayern-Stil, der seit Louis van Gaal Bestand hat, ein Stück weit auf seine Philosophie angepasst. Und unsere Mannschaft verlangt genau so etwas von einem Trainer
Hat sich der Fußball in den zwei Jahren der Pandemie aus Ihrer Sicht verändert?
Auf dem Platz hat er sich nicht verändert. Außerhalb des Platzes
es mir immer noch so vor, als wenn viele Corona, gerade bei den finanziellen Auswirkungen, nicht wirklich wahrnehmen wollen.
Wen meinen Sie mit viele?
Wenn ich mir allein die Transferausgaben anschaue, habe ich den Eindruck, dass man insbesondere in England aus dem Malus einen Bonus machen wollte. Die Clubs der Premier League verfügen über ein x-faches an Fernsehgeldern im Vergleich zur Bundesliga, allein aus der Auslandsvermarktung erzielen sie das Zehnfache. Und dann sind da noch die schwerreichen Besitzer, die notfalls die Zeche bezahlen können. Insofern ist der Transfermarkt zumindest im Spitzenbereich noch sehr intakt. Aber mit einem großen Problem. Der Fußball entwickelt sich immer mehr zu einer Industrie, in der quasi nur noch Verluste produziert werden.
Beim FC Bayern wird aber trotz Corona-Einbußen auch nicht gekleckert. Wenn man die jüngsten Vertragsverlängerungen mit Joshua Kimmich, Leon Goretzka oder Kingsley Coman betrachtet, dann kennen die Gehälter der Stars weiter nur eine Richtung – nach oben.
Gegenfrage: Was wäre die Alternative gewesen? Sich mit den Spielern nicht zu einigen und sie dann zu verlieren? Das kann nicht die Lösung sein. Der Verein hat sich darauf konzentriert, mit den Spielern, die er unbedingt braucht, zu verlängern. Und der Markt ist nun mal so, wie er ist. Das ist für alle ein Problem, auch für Bayern München.
Glauben Sie, dass die Fans wieder wie vor Corona in die Stadien strömen werden, wenn die Pandemie im Griff ist?
Ich glaube, es kommt alles zurück. Sobald die Leute sich sicher vor Corona fühlen, werden sie wie früher ins Stadion gehen und die Spiele genießen. Und der große Vorteil, den Deutschland dabei hat, ist: Die Stadionqualität ist die beste in Europa, ebenso die Stadionkultur.
Sie haben kein Amt mehr beim FC Bayern, sind aber als Vertreter der Clubvereinigung ECA Mitglied im Exekutivkomitee des europäischen Dachverbandes UEFA. Was sind dort Ihre Anliegen?
Ich fühle mich dort weiterhin für die Vereinsinteressen verantwortlich. Das habe ich schon in meinen zehn Jahren als ECA-Vorsitzender so gehalten. Die Basis von allem, was im Fußball stattfindet, ist der Vereinsfußball. Die Vereine bezahlen die Spieler. Damit haben sie auch Rechte. Und das muss man auch den Verbänden immer wieder mal kundtun. Es kann nicht sein, dass wir immer nur Nationalmannschaftswettbewerbe
ausweiten und noch häufiger spielen. Nicht Quantität sondern Qualität ist im Fußball die Lösung.
Ist das Projekt Super League, das federführend von Vereinen wie Real Madrid, FC Barcelona und Juventus Turin angestrebt wurde, vom Tisch? Oder ist es nur vorübergehend in der Schublade verschwunden?
Die Super League war finanziellen Problemen geschuldet. Das ganze Thema hat von Anfang an den Eindruck vermittelt, dass es jemand unter großem Zeitdruck mit ganz heißer Nadel zusammengestrickt hat. Es ist kein Zufall, dass insbesondere die spanischen und italienischen Clubs, die dabei waren, die größte finanzielle Not hatten. Das Thema ist vom Tisch. Es wird nie wieder eine privat organisierte Superleague geben. Die Benchmark im Club-Fußball ist die Champions League. Die Gründer waren für mich die größten Visionäre.
Der Deutsche Fußball-Bund und die Deutsche Fußball Liga stellen sich gerade an der Spitze personell neu auf. Was trauen Sie der neuen DFL-Geschäftsführerin Donata Hopfen und Dortmund-Boss HansJoachim Watzke als Aufsichtsratschef der Liga zu? Was sind Ihre drängendsten Aufgaben?
Die wichtigste Aufgabe – nicht nur der beiden, sondern der Bundesliga – wird sein, Sorge zu tragen, die internationale Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Vereine zu gewährleisten und gleichzeitig wieder mehr nationalen Wettbewerb herbeizuführen. Für beides braucht man Geld. Eine Umverteilung von oben nach unten wird die Bundesliga in der Spitze eher schwächen als stärken. Deshalb ist auch bei der 50+1- Regel mein Ansatz ein anderer als von zahlreichen anderen Protagonisten in der Liga.
Bayern München und Sie plädieren für eine Öffnung der Bundesligavereine für Investoren?
Wenn man sich die Entwicklung des englischen Fußballs anschaut, oder auch die Entwicklung von Paris Saint-Germain: Wo standen diese Clubs vor zehn, 15, 20 Jahren? Wo stehen sie heute? Sie sind alle wesentlich wettbewerbsfähiger. Manchester City war zur Jahrtausendwende nur drittklassig!
Am 11. März wählt der DFB einen neuen Präsidenten. Kann allein ein neuer DFB-Präsident die Gräben zwischen Profis und Amateuren wieder zuschütten?
Aktuell will der Profifußball mit dem DFB doch gar nichts mehr zu tun haben, weil das Image des DFB längst zu einem Malus für den deutschen Fußball geworden ist. Aber man sollte der demnächst neu gewählten Führung eine seriöse und faire Chance geben, Dinge wieder zu verbessern.