Krieg oder Frieden
Noch ist in der Ukraine-Krise nichts entschieden – Verschiedene Szenarien sind denkbar
- Die Kriegsgefahr an der russisch-ukrainischen Grenze steigt. Fieberhaft haben westliche Staatsund Regierungschefs in der vergangenen Woche versucht, Russlands Präsidenten Wladimir Putin von einem möglichen Einmarsch abzuhalten. Dem Staatschef bleiben vier Optionen für Krieg oder Frieden.
1. Weiter verhandeln und Abzug von der ukrainischen Grenze
Es wäre die Lösung, auf die Europa hofft: Russlands Präsident lässt seine 150 000 an der Grenze zusammengezogenen Soldaten in die Kasernen zurückrollen und spricht ohne weitere Bedrohung der Ukraine mit den USA und der Nato.
Russlands Kernforderungen: ein Nein zu einem künftigen Nato-Beitritt der Ukraine sowie ein Rückzug von Nato-Truppen aus allen Staaten, die seit 2004 zu dem Verteidigungsbündnis hinzugekommen sind, was praktisch eine Stationierung östlich der Oder ausschlösse.
„Dem wird die Nato niemals zustimmen“, sagt Christian Mölling, Forschungsdirektor der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik (DGAP). Dennoch hält er es für möglich, dass Putin auf die Verhandlungskarte setzt und gleichzeitig weiter eskaliert. „Eines seiner Hauptziele hat Putin ja bereits erreicht: Russland spielt auf der internationalen Bühne wieder mit.“Allerdings sei es „unwahrscheinlich, dass Putin seine Truppen abzieht, ohne dass er etwas dafür bekommt“. Dies berge für ihn die Gefahr, dass sein Ansehen daheim leide.
Wahrscheinlichkeit: sehr gering
2. Weiter verhandeln und Beibehaltung der Drohkulisse
„Putin hat den Zeitpunkt für seinen Aufmarsch geschickt gewählt“, erklärt DGAP-Experte Mölling. Das habe auch mit der Jahreszeit zu tun. Die Böden seien jetzt, im Winter, gefroren, bei einem Einmarsch kämen seine Panzer problemlos voran. Die Zeit spiele allerdings gegen ihn. „Wenn es im Frühjahr taut, steigt bei einem Angriff sein Risiko.“Dann könne es sein, dass Putin das Drohszenario wieder herunterfahre und seine Truppen ohne Gesichtsverlust abziehen könne. Auch wenn manche Forderungen für die Nato unannehmbar sind, gebe es doch Bereiche, die legitime Sicherheitsinteressen beider Seiten berührten, betonte auch Kanzler Olaf Scholz (SPD) auf der Münchner Sicherheitskonferenz am Wochenende – „allen voran Transparenz bei Waffensystemen und Übungen, Mechanismen zur Risikovermeidung oder neue Ansätze zur Rüstungskontrolle“.
Gäbe es noch Chancen für die Erdgaspipeline Nord Stream 2? Da ist Mölling klar: „Es wäre am besten, die Leitung gar nicht erst in Betrieb zu nehmen.“Damit mache sich Deutschland von russischen Energielieferungen abhängig.
Wahrscheinlichkeit: vorhanden.
3. Abbruch der Verhandlungen und Einmarsch in den Donbass Seit dem Jahr 2014 halten von Russland gesteuerte Separatisten die Regionen Donezk und Lugansk im Osten der Ukraine besetzt. Ein Ein
Im Konflikt um die Ukraine wird immer wieder auf drei grundlegende Abkommen verwiesen, deren Bruch Russland mit der Annexion der Krim und den Drohungen gegenüber der Ukraine vorgeworfen wird.
Charta von Paris (1990): In dem Dokument legten die europäischen Staaten fest, sich jeder gegen die territoriale Integrität oder politische Unabhängigkeit eines Staates gerichteten Androhung oder Anwendung von Gewalt zu enthalten.
Das Budapester Memorandum (1994): In ihm verzichteten die marsch regulärer russischer Truppen würde diesen Zustand zementieren. Den ersten Schritt dahin könnte Putins Absage an das Minsker Abkommen bedeuten, das den Waffenstillstand sichern sollte. Er sei „zu der Überzeugung gelangt, dass es keine Aussichten“für das Abkommen gebe, sagte er am Montag.
Aber würde der Westen die angekündigten „nie dagewesenen Sanktionen“gegen Russland – das Abschneiden vom internationalen Finanzsystem oder den Lieferstopp von Hochtechnologie – auch bei einem ehemaligen Teile der Sowjetunion Ukraine, Belarus und Kasachstan auf die Atomwaffen aus Sowjetzeiten. Im Gegenzug verpflichteten sich Russland, die USA und Großbritannien, ihre Souveränität sowie ihre Grenzen zu respektieren. NATO-Russland-Grundakte
(1997): In ihr verpflichteten sich beide Seiten zum „Verzicht auf die Androhung oder Anwendung von Gewalt gegeneinander oder gegen irgendeinen anderen Staat, seine Souveränität, territoriale Unversehrtheit oder politische Unabhängigkeit“. begrenzten Angriff in Kraft setzen? US-Präsident Biden hatte im Januar Zweifel an dieser schweren Keule genährt. Und auch Bundesaußenministerin Annalena Baerbock (Grüne) hatte am Wochenende gesagt, „das schärfste Schwert muss nicht immer das cleverste sein“.
Sicherheitsexperte Mölling sieht hier ebenfalls Abstufungsmöglichkeiten. „Ich glaube nicht, dass der Westen bei einem Einmarsch Russlands in die Rebellengebiete das ganz große Besteck herausholt.“
Möllings US-Kollege Ian Bremmer vom Eurasia-Politikinstitut in den USA erwartet ebenfalls keinen „plötzlichen Blitzkrieg auf Kiew und den Sturz der Selenskyj-Regierung“, sondern eher eine diplomatische Anerkennung der beiden sogenannten Volksrepubliken im Osten der Ukraine. Am späten Montagabend wurde dann bekannt: Putin wird die beiden ostukrainischen Provinzen Luhansk und Donezk als unabhängig anerkennen. Das bestätigte der Kreml in Moskau.
Wahrscheinlichkeit: vorhanden.
4. Großangriff auf die Ukraine Der am Wochenende verkündete Verbleib russischer Truppen in Belarus könnte auf diese Variante hindeuten. Die ukrainische Hauptstadt Kiew liegt keine 100 Kilometer von der Grenze entfernt. So könnte nach Einschätzung von Militärexperten Russlands Armee binnen kurzer Zeit bis auf Kiew vordringen.
Damit würde Putin allerdings den größten Krieg in Europa seit dem Zweiten Weltkrieg riskieren. Die Ukraine hat knapp 42 Millionen Einwohner und ist mehr als anderthalbmal so groß wie Deutschland. US-Präsident Biden hatte vor einigen Tagen erklärt, nach Geheimdiensterkenntnissen habe Putin einen Angriff in dieser Woche beschlossen.
Allerdings sieht der Politikexperte Mölling einen Großangriff russischer Truppen von drei Seiten – aus Belarus im Norden, Russland im Osten und der besetzten Halbinsel Krim im Süden – als unwahrscheinlich an. „Auch wenn die Sanktionen schon eingepreist sind, wäre das für Putin das unangenehmste Szenario.“
Der Präsident ginge damit zum einen das Risiko großer Verluste unter russischen Soldaten ein, was in der Bevölkerung nicht gut ankäme. Außerdem müsste er über lange Zeit nicht nur eine EU- und Nato-freundliche ukrainische Bevölkerung unterdrücken, sondern bekäme es auch mit Aufständischen zu tun – ein weiterer schwer zu kontrollierender Unruheherd. Auch international würde Russland vermutlich für lange Zeit geächtet.
Wahrscheinlichkeit: vorhanden.