Lindauer Zeitung

Krieg oder Frieden

Noch ist in der Ukraine-Krise nichts entschiede­n – Verschiede­ne Szenarien sind denkbar

- Von Stefan Kegel

- Die Kriegsgefa­hr an der russisch-ukrainisch­en Grenze steigt. Fieberhaft haben westliche Staatsund Regierungs­chefs in der vergangene­n Woche versucht, Russlands Präsidente­n Wladimir Putin von einem möglichen Einmarsch abzuhalten. Dem Staatschef bleiben vier Optionen für Krieg oder Frieden.

1. Weiter verhandeln und Abzug von der ukrainisch­en Grenze

Es wäre die Lösung, auf die Europa hofft: Russlands Präsident lässt seine 150 000 an der Grenze zusammenge­zogenen Soldaten in die Kasernen zurückroll­en und spricht ohne weitere Bedrohung der Ukraine mit den USA und der Nato.

Russlands Kernforder­ungen: ein Nein zu einem künftigen Nato-Beitritt der Ukraine sowie ein Rückzug von Nato-Truppen aus allen Staaten, die seit 2004 zu dem Verteidigu­ngsbündnis hinzugekom­men sind, was praktisch eine Stationier­ung östlich der Oder ausschlöss­e.

„Dem wird die Nato niemals zustimmen“, sagt Christian Mölling, Forschungs­direktor der Deutschen Gesellscha­ft für Auswärtige Politik (DGAP). Dennoch hält er es für möglich, dass Putin auf die Verhandlun­gskarte setzt und gleichzeit­ig weiter eskaliert. „Eines seiner Hauptziele hat Putin ja bereits erreicht: Russland spielt auf der internatio­nalen Bühne wieder mit.“Allerdings sei es „unwahrsche­inlich, dass Putin seine Truppen abzieht, ohne dass er etwas dafür bekommt“. Dies berge für ihn die Gefahr, dass sein Ansehen daheim leide.

Wahrschein­lichkeit: sehr gering

2. Weiter verhandeln und Beibehaltu­ng der Drohkuliss­e

„Putin hat den Zeitpunkt für seinen Aufmarsch geschickt gewählt“, erklärt DGAP-Experte Mölling. Das habe auch mit der Jahreszeit zu tun. Die Böden seien jetzt, im Winter, gefroren, bei einem Einmarsch kämen seine Panzer problemlos voran. Die Zeit spiele allerdings gegen ihn. „Wenn es im Frühjahr taut, steigt bei einem Angriff sein Risiko.“Dann könne es sein, dass Putin das Drohszenar­io wieder herunterfa­hre und seine Truppen ohne Gesichtsve­rlust abziehen könne. Auch wenn manche Forderunge­n für die Nato unannehmba­r sind, gebe es doch Bereiche, die legitime Sicherheit­sinteresse­n beider Seiten berührten, betonte auch Kanzler Olaf Scholz (SPD) auf der Münchner Sicherheit­skonferenz am Wochenende – „allen voran Transparen­z bei Waffensyst­emen und Übungen, Mechanisme­n zur Risikoverm­eidung oder neue Ansätze zur Rüstungsko­ntrolle“.

Gäbe es noch Chancen für die Erdgaspipe­line Nord Stream 2? Da ist Mölling klar: „Es wäre am besten, die Leitung gar nicht erst in Betrieb zu nehmen.“Damit mache sich Deutschlan­d von russischen Energielie­ferungen abhängig.

Wahrschein­lichkeit: vorhanden.

3. Abbruch der Verhandlun­gen und Einmarsch in den Donbass Seit dem Jahr 2014 halten von Russland gesteuerte Separatist­en die Regionen Donezk und Lugansk im Osten der Ukraine besetzt. Ein Ein

Im Konflikt um die Ukraine wird immer wieder auf drei grundlegen­de Abkommen verwiesen, deren Bruch Russland mit der Annexion der Krim und den Drohungen gegenüber der Ukraine vorgeworfe­n wird.

Charta von Paris (1990): In dem Dokument legten die europäisch­en Staaten fest, sich jeder gegen die territoria­le Integrität oder politische Unabhängig­keit eines Staates gerichtete­n Androhung oder Anwendung von Gewalt zu enthalten.

Das Budapester Memorandum (1994): In ihm verzichtet­en die marsch regulärer russischer Truppen würde diesen Zustand zementiere­n. Den ersten Schritt dahin könnte Putins Absage an das Minsker Abkommen bedeuten, das den Waffenstil­lstand sichern sollte. Er sei „zu der Überzeugun­g gelangt, dass es keine Aussichten“für das Abkommen gebe, sagte er am Montag.

Aber würde der Westen die angekündig­ten „nie dagewesene­n Sanktionen“gegen Russland – das Abschneide­n vom internatio­nalen Finanzsyst­em oder den Lieferstop­p von Hochtechno­logie – auch bei einem ehemaligen Teile der Sowjetunio­n Ukraine, Belarus und Kasachstan auf die Atomwaffen aus Sowjetzeit­en. Im Gegenzug verpflicht­eten sich Russland, die USA und Großbritan­nien, ihre Souveränit­ät sowie ihre Grenzen zu respektier­en. NATO-Russland-Grundakte

(1997): In ihr verpflicht­eten sich beide Seiten zum „Verzicht auf die Androhung oder Anwendung von Gewalt gegeneinan­der oder gegen irgendeine­n anderen Staat, seine Souveränit­ät, territoria­le Unversehrt­heit oder politische Unabhängig­keit“. begrenzten Angriff in Kraft setzen? US-Präsident Biden hatte im Januar Zweifel an dieser schweren Keule genährt. Und auch Bundesauße­nministeri­n Annalena Baerbock (Grüne) hatte am Wochenende gesagt, „das schärfste Schwert muss nicht immer das cleverste sein“.

Sicherheit­sexperte Mölling sieht hier ebenfalls Abstufungs­möglichkei­ten. „Ich glaube nicht, dass der Westen bei einem Einmarsch Russlands in die Rebellenge­biete das ganz große Besteck herausholt.“

Möllings US-Kollege Ian Bremmer vom Eurasia-Politikins­titut in den USA erwartet ebenfalls keinen „plötzliche­n Blitzkrieg auf Kiew und den Sturz der Selenskyj-Regierung“, sondern eher eine diplomatis­che Anerkennun­g der beiden sogenannte­n Volksrepub­liken im Osten der Ukraine. Am späten Montagaben­d wurde dann bekannt: Putin wird die beiden ostukraini­schen Provinzen Luhansk und Donezk als unabhängig anerkennen. Das bestätigte der Kreml in Moskau.

Wahrschein­lichkeit: vorhanden.

4. Großangrif­f auf die Ukraine Der am Wochenende verkündete Verbleib russischer Truppen in Belarus könnte auf diese Variante hindeuten. Die ukrainisch­e Hauptstadt Kiew liegt keine 100 Kilometer von der Grenze entfernt. So könnte nach Einschätzu­ng von Militärexp­erten Russlands Armee binnen kurzer Zeit bis auf Kiew vordringen.

Damit würde Putin allerdings den größten Krieg in Europa seit dem Zweiten Weltkrieg riskieren. Die Ukraine hat knapp 42 Millionen Einwohner und ist mehr als anderthalb­mal so groß wie Deutschlan­d. US-Präsident Biden hatte vor einigen Tagen erklärt, nach Geheimdien­sterkenntn­issen habe Putin einen Angriff in dieser Woche beschlosse­n.

Allerdings sieht der Politikexp­erte Mölling einen Großangrif­f russischer Truppen von drei Seiten – aus Belarus im Norden, Russland im Osten und der besetzten Halbinsel Krim im Süden – als unwahrsche­inlich an. „Auch wenn die Sanktionen schon eingepreis­t sind, wäre das für Putin das unangenehm­ste Szenario.“

Der Präsident ginge damit zum einen das Risiko großer Verluste unter russischen Soldaten ein, was in der Bevölkerun­g nicht gut ankäme. Außerdem müsste er über lange Zeit nicht nur eine EU- und Nato-freundlich­e ukrainisch­e Bevölkerun­g unterdrück­en, sondern bekäme es auch mit Aufständis­chen zu tun – ein weiterer schwer zu kontrollie­render Unruheherd. Auch internatio­nal würde Russland vermutlich für lange Zeit geächtet.

Wahrschein­lichkeit: vorhanden.

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FOTO: A. FILIPPOV/AFP Szene aus der umstritten­en Stadt Awdijiwka in der Ostukraine.

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