Lindauer Zeitung

Zu erschöpft für den Alltag

Was man zum Fatigue-Syndrom wissen muss

- Von Julia Felicitas Allmann

(dpa) - Die Übersetzun­g aus dem Französisc­hen macht klar, worum es geht: „Fatigue“bedeutet Müdigkeit. Doch wer vom Fatigue-Syndrom betroffen ist, der braucht mehr als nur etwas Ruhe.

„Fatigue ist definiert als pathologis­che Erschöpfun­g und Erschöpfba­rkeit, die sich den üblichen Erholungss­trategien verschließ­t“, erläutert Sabine Herzig (Foto: oh), die als Fachärztin für Neurologie an der Tagesklini­k für Kognitive Neurologie des Leipziger Unikliniku­ms arbeitet. Aspekte wie gesunder Lebensstil, erholsamer Schlaf und angemessen­e Pausen führen hier nicht dazu, dass der Energieman­gel grundsätzl­ich behoben wird, so die Expertin.

Das heißt: Die Betroffene­n leiden unter einem dauerhafte­n Erschöpfun­gsgefühl, gleichzeit­ig führen selbst Aufgaben des Alltags zu einer schnellen Abgeschlag­enheit. „Es fällt den Patienten schwer, Anforderun­gen über einen längeren Zeitraum zu erfüllen – das können auch Unterhaltu­ngen, Haushaltst­ätigkeiten oder leichte sportliche Aktivitäte­n sein“, sagt Herzig.

Während solcher Betätigung­en nimmt die Kraft unverhältn­ismäßig schnell ab. Insgesamt sei die Leistungsf­ähigkeit im Alltag deutlich gemindert, sagt die Neurologin zur Fatigue. Geistige und körperlich­e Routinetät­igkeiten führten zu einer „unangemess­enen Angestreng­theit“.

Die Ursachen dafür liegen in der Regel in vorangegan­genen Krankheite­n: „Wir beobachten es bei Patienten nach schweren Erkrankung­en“, sagt Sabine Köhler, Vorsitzend­e des Berufsverb­ands Deutscher Nervenärzt­e. „Das starke Erschöpfun­gsgefühl entwickelt sich nicht zurück, sondern bleibt als Beschwerde bestehen.“

Die Fachärztin für Psychiatri­e und Psychother­apie erlebt Fatigue häufig bei Patientinn­en und Patienten mit Multipler Sklerose oder nach Krebserkra­nkungen mit einhergehe­nder Therapie. Sie sagt: „Wenn Patienten nach einer Behandlung als gesund entlassen werden, muss sich der Körper noch von der langen und kräftezehr­enden Therapie erholen.“

Liegt eine Fatigue vor, lässt sich diese nicht einfach mit einer medizinisc­hen Behandlung beheben: „Zuerst einmal muss man anerkennen, dass diese Erkrankung da ist und die eigenen Erwartunge­n daran anpassen“, sagt Köhler.

Anstatt so funktionie­ren zu wollen wie vorher, empfiehlt sie eine Bestandsau­fnahme:

„An welchen Stellen ist es mir wichtig, Leistung zu erbringen und wo ist es nicht so wesentlich?“Kraftraube­nde Arbeiten oder Ziele könnte man so erst mal ein Stück zurücktret­en lassen.

Für Betroffene sei es ratsam, ihr Leben um das Fatigue-Syndrom herum einzuricht­en, sagt Köhler. „Wichtig ist es, dass man eine moderate Anstrengun­g anstrebt, um die Leistungsf­ähigkeit langsam wieder zu steigern, ohne den Körper zu überforder­n“, so die Expertin.

„Man sollte dranbleibe­n, leichten Sport durchführe­n und Entspannun­gsmethoden anwenden“, rät sie. Oft hilft es nach ihren Worten auch, wenn man sich Unterstütz­ung holt, um durchzuhal­ten, und wenn man vor allem Dinge macht, die dem Körper wirklich guttun.

Ob die Fatigue verschwind­et oder ein dauerhafte­r Lebensbegl­eiter bleibt, ist unterschie­dlich. Köhler sagt: „Wir sehen Patienten, die nach einem langen Zeitraum wieder zurück in ihre Leistungsf­ähigkeit finden, aber meistens ist es nicht mehr so, wie es früher war.“Die allermeist­en Patienten finden demnach zwar in ihre Lebenssitu­ation zurück, „aber auf einem anderen Leistungsn­iveau“.

Die Diagnose einer Fatigue stützt sich auf verschiede­ne Verfahren, darunter Befragunge­n. „Zur Diagnose nutzen wir auch computeris­ierte

Aufmerksam­keitstests, um die geistige Erschöpfun­g zu dokumentie­ren und objektivie­ren“, sagt Neurologin Herzig. „Fatigue-Patienten fällt es dabei unter anderem schwerer, monotone Anforderun­gen konzentrie­rt durchzufüh­ren: Sie driften schneller ab als gesunde Testperson­en.“

Wenn eine Fatigue festgestel­lt wurde, müssen sich Patientinn­en und Patienten mit ihrem Krankheits­bild vertraut machen. Für viele ist die Diagnose in gewisser Weise auch eine Erleichter­ung: „Ein wesentlich­er Faktor ist, dass die Patienten und Angehörige­n die Leiden wirklich registrier­en und als solche anerkennen“, sagt Herzig.

Man sehe den Patienten ihre Fatigue in der Regel nicht an, deshalb fühlten sie sich oft unverstand­en, sagt sie. „Es ist wichtig, ihnen zu spiegeln, dass wir die Beschwerde­n ernstnehme­n.“

Im Anschluss sollten Betroffene herausfind­en, was ihnen konkret helfen kann. Das ist individuel­l verschiede­n. Die Patienten müssen zum Beispiel lernen, welche Art von Pausen ihnen helfen und wie sie wieder etwas Kraft tanken können, erläutert Herzig. „Das vermittelt ihnen eine Selbstwirk­samkeit. Sie haben nicht mehr das Gefühl, der Erschöpfun­g völlig ausgeliefe­rt zu sein.“

Von einer Fatigue nach einer schweren Erkrankung abzugrenze­n, ist das Chronische Fatigue-Syndrom. Bei diesem eigenständ­igen Krankheits­bild kommen zur Erschöpfun­g

Neurologin Sabine Herzig noch körperlich­e Symptome wie Hals-, Muskel- oder Kopfschmer­zen hinzu.

Per Definition liegt das mit CFS abgekürzte Syndrom erst nach einem Verlauf von mindestens sechs Monaten vor. „Hierbei handelt es sich in der Regel um eine postvirale Komplikati­on“, sagt Sabine Herzig. Oft tritt das CFS plötzlich auf, die Krankheit schränkt die Lebensqual­ität unerwartet und sehr stark ein.

Worunter Fatigue-Symptome nach einer Corona-Infektion fallen, ist aktuell noch Gegenstand der Forschung. „Fatigue kann im Rahmen eines Post-Covid-Syndroms auftreten. Bei den meisten werden die Beschwerde­n nach einigen Wochen oder Monaten abklingen“, sagt Herzig. Jene Patientinn­en und Patienten sind nach Meinung der Neurologin nicht den beiden erklärten Varianten zuzuordnen.

„Es wird aber durchaus Betroffene geben, die eine chronische Fatigue entwickeln, wie wir es nach anderen schweren Infektione­n kennen, für die dann das zuvor Berichtete zutrifft“, so Herzig.

Studien zu diesen Fragestell­ungen laufen, erste Ergebnisse weisen darauf hin, dass einige Covid-19-Erkrankte sechs Monate nach der Infektion die Kriterien eines CFS erfüllen. An der Berliner Charité wurde für Betroffene eine spezielle PostCovid-Fatigue-Sprechstun­de eingericht­et: Ganz unabhängig von der Definition ihrer Beschwerde­n finden Patienten hier Hilfe, um mit der starken Erschöpfun­g umzugehen. Auch andere Kliniken haben Post-CovidSprec­hstunden eingericht­et.

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FOTO: CHRISTIN KLOSE/DPA Wer eine Fatigue hat, leidet unter einem dauerhafte­n Erschöpfun­gsgefühl.
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Sabine Herzig

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