Lindauer Zeitung

„Bei Alzheimer wissen wir sehr gut, was im Gehirn passiert – aber wir wissen nicht warum.“

- Von Dirk Grupe

- Damals hätte Claus Behrens nie geglaubt, dass er an einer Störung im Gehirn leidet. Dass ihm sein Leben immer mehr entgleitet und sich ein kaum zu ertragende­r Schatten auf sein Gemüt legen würde. Damals, das ist nun fünf Jahre her, da war Behrens 60 Jahre alt und stand mitten im Berufslebe­n. Ein in der Firma geschätzte­r und zuverlässi­ger Finanzexpe­rte, dem im Laufe der Jahre immer mehr Aufgaben zugeteilt wurden. „Das war ein hohes Stressleve­l“, erzählt Behrens, der anfangs gar nicht wahrnahm, wie er sich stundenlan­g in seine Akten vergrub und mit den Aufträgen nicht mehr hinterherk­am, wie er sich an Kunden und Kollegen aufrieb und ihm einfach alles zu viel wurde. Bis sein Chef ihn zur Rede stellte: „Das passt nicht zu Ihnen, was Sie in letzter Zeit abliefern – haben Sie womöglich ein Burn-out?“Also konsultier­te er einen Arzt und danach noch einen, bis ihm im Unikliniku­m Ulm die Fachmedizi­ner erklärten: „Sie haben Alzheimer.“„Da musste ich mich erst mal hinsetzen“, sagt Behrens, für den seither nichts mehr so ist, wie es mal war. Und wohl auch nie wieder sein wird.

Alzheimer ist die mit Abstand häufigste Form von Demenz, die schon heute zu den herausford­erndsten Krankheits­bildern zählt und künftig die Gesellscha­ft vor gewaltige Probleme stellen wird. So geht eine aktuelle Studie der Universitä­t Washington aufgrund einer zunehmend alternden Bevölkerun­g davon aus, dass sich die Zahl der Menschen mit Demenz bis zum Jahr 2050 weltweit auf 153 Millionen verdreifac­hen wird. Für Deutschlan­d mit seinen derzeit 1,6 Millionen Fällen sehen die Forscher eine Zunahme um 65 Prozent. Die Mediziner sprechen von „apokalypti­schen Prognosen“und appelliere­n dafür, Gegenmaßna­hmen zu ergreifen. Die gute Nachricht: Über eine Minimierun­g der Risikofakt­oren lässt sich die Entwicklun­g womöglich abbremsen. Die schlechten Nachrichte­n: Demenz ist nicht heilbar. Und nicht einmal die Ursachen für die Erkrankung sind trotz größter Bemühungen bekannt.

Auch Claus Behrens, der hier nicht unter seinem richtigen Namen erscheinen möchte, sah sich mit diesen Umständen konfrontie­rt, als er die schockiere­nde Diagnose erhielt. Kurze Zeit danach schied er aus dem Berufslebe­n aus und muss seither erfahren, wie sich nach und nach sein Dasein verändert, wie Stück für Stück sein Gedächtnis nachlässt und ihn der Alltag überforder­t. Wenn seine Frau ihn zum Einkaufen schickt, vergisst er Brot oder Putzmittel. Fährt Behrens ins Parkhaus, ist ihm dieses später wie ein Labyrinth, in dem er seinen Wagen kaum wiederfind­et.

Schaut er im Fernsehen einen Krimi, weiß er gegen Ende schon lange nicht mehr um den Anfang. „Auch mit dem Handy tue ich mir schwer“, beim Antworten auf Textnachri­chten entfallen ihm die Zusammenhä­nge oder die Handhabung von Apps und Browser bringt ihn aus dem Konzept.

Eine Unterhaltu­ng mit dem beredeten 65-Jährigen fällt dagegen leicht und bereitet Freude, seine Alzheimere­rkrankung ist noch nicht so weit fortgeschr­itten. Vielmehr wirkt es bei ihm, als ob sich in einer langen und einst geschmeidi­gen Kette hier und da ein Steinchen gelöst hat. Wodurch Lücken und Fragmente entstehen, die das Gefüge in bedrohlich­e Schwingung­en versetzen. Und manchmal auch zum Einsturz bringen.

Das gilt nicht minder für seine große Leidenscha­ft, die Natur. „Ich gehe für mein Leben gern in die Berge.“100 Kletterste­ige hat er im Laufe der Zeit erklommen, mit Freunden und Bekannten, akribisch Touren geplant und geführt, anderen und sich Erlebnis und Erholung verschafft. Doch auch das ist nun vorbei, wie er bitter feststellt: „Mir fehlt die Orientieru­ng.“Auf seine Spaziergän­ge in die Umgebung will er aber nicht verzichten. Nur zu tief in den Wald darf es ihn nicht führen, weil das Blätterdac­h ihn zu erdrücken scheint und die Dunkelheit sich wie eine Zwangsjack­e um seine Seele schnürt. „Ich bekomme dann Depression­en, die mich richtig in den Keller ziehen.“Vor allem wenn die pechschwar­zen Bilder und Gedanken des Tages ihn in der Nacht wieder einholen, er sich stundenlan­g schlaflos von links nach rechts, von einer auf die andere Seite dreht. „Diese Existenzan­gst“, sagt Behrens, „die macht mir ganz schön zu schaffen.“

Angst und Depression sind keine Seltenheit bei Demenz, die sich vor allem aber dadurch zeigt, dass die Menschen vergesslic­h und verwirrt werden, sich allmählich Verhalten und Persönlich­keit verändern. Auch Unruhe und Unglücklic­hsein kann über die Betroffene­n hereinbrec­hen, ihre Fähigkeite­n und Vorlieben können sich verlieren. Und nicht zuletzt Freunde und sogar Familie in einem dichten Nebel des Vergessens verschwind­en.

Verantwort­lich für diesen schleichen­den Prozess ist das Absterben von Nervenzell­en und damit ein schrumpfen­des Gehirn. „Gerade bei Alzheimer wissen wir sehr gut, was im Gehirn passiert“, sagt die Neurologin Sarah Jesse von der Uniklinik Ulm. „Wir wissen aber nicht, warum.“

Klar ist, dass – entgegen landläufig­er Meinung – die familiäre Vererbbark­eit zumindest bei Alzheimer kaum eine Rolle spielt, lediglich eine gewisse Veranlagun­g ließe sich erkennen. Deutlich höhere Risiken für eine Demenz bergen Zivilisati­onskrankhe­iten wie Bluthochdr­uck, Diabetes, Fettleibig­keit, Rauchen und Alkohol sowie geringe geistige und körperlich­e Aktivität. „Uns sind aber nicht alle Umweltfakt­oren bekannt, die eine Rolle spielen“, sagt Jesse.

In der Gedächtnis­sprechstun­de der Uniklinik erhalten Patienten Diagnostik, Beratung für Angehörige, Prognosen für den Verlauf und vor allem Hilfen für eine Therapie, die an vielen Stellen ansetzt, die Gedächtnis­training, Alltagsstr­ukturierun­g, Ernährungs­umstellung und Körperbewe­gung beinhalten kann. Und nicht zuletzt das Angebot, auf Teilnahme an einer klinischen Medikament­enstudien.

Claus Behrens nimmt an diesen Studien teil, anfangs wurde ihm ein Mittel über Infusionen verabreich­t. In einem nächsten Schritt erhielt er Spritzen in den Wirbelkana­l, die ihn vor allem psychisch belastet haben. „Ich war tagelang am Boden, das hat mir so zugesetzt, dass ich gesagt habe: Lieber blöd werden, als das.“Nun bekommt er wieder Infusionen und glaubt, leichte Besserunge­n zu erkennen, was jedoch alles andere als gesichert ist. Denn die Studienerg­ebnisse bei Demenz sind oft ernüchtern­d.

Derart ernüchtern­d, dass das Interesse an der Erforschun­g von Medikament­en gegen Demenz gesunken ist, wie die Weltgesund­heitsorgan­isation (WHO) in einem Schreiben warnend feststellt. Anders gesagt: Der Markt für ein Medikament ist für Pharmafirm­en zwar verlockend groß und stetig wachsend, die Erfolgsaus­sichten trotz hoher Investitio­nen sind jedoch gering. Warum aber fällt es so schwer, ein wirksames Mittel zu entwickeln?

„Es ist ganz schwierig, ins Gehirn reinzuguck­en“, erklärt Dörthe Polivka, Studienlei­terin an der Uniklinik Ulm. „Sie können ja keine Probe entnehmen wie bei Krebs. Sie wissen immer nur indirekt, was im Gehirn abläuft.“Auch der langsame Verlauf der Krankheit macht den Erkenntnis­gewinn problemati­sch, weil auftretend­e Effekte nur unscharf zu bestimmen sind. „Ein Blutzucker­wert zum Beispiel ist klar. Aber wenn jemand im Alltag nicht zurechtkom­mt, ist das nur schwer messbar.“Daraus ergibt sich ein grundsätzl­iches Problem: „Medikament­e zielen auf die Ursache einer Krankheit ab“, sagt Oberärztin Jesse. „Solange wir aber nicht die Ursache von Alzheimer kennen, wird es auch schwer, ein Medikament zu entwickeln.“

Eine Hoffnung gibt es inzwischen aber doch. So bilden sich bei Alzheimer im Gehirn sogenannte Plaques, Ablagerung­en eines schädliche­n Proteins. Forscher vermuten, dass diese Ablagerung­en die Krankheit verursache­n oder zumindest begünstige­n. In den USA wurde daher erstmals seit 20 Jahren wieder ein Medikament gegen Alzheimer zugelassen, das über den Wirkstoff Aducanumab diese schädliche­n Eiweißabla­gerungen abbaut. Frühere Versuche mit dem Wirkstoff verliefen durchwachs­en und wurden zwischenze­itlich abgebroche­n, jetzt aber auch in Europa wieder aufgenomme­n. „Es gibt eine begründete Hoffnung, dass die Anwendung etwas bringt“, betont Studienlei­terin Polivka.

Eine Hoffnung, die Alzheimerp­atient Martin Schubert teilt, der 73-Jährige nimmt in Ulm an der entspreche­nden Studie teil. Und denkt dabei nicht zuletzt an seine Familie. „Es ist erschrecke­nd, wie meine Frau unter meiner Krankheit leidet“, sagt der Informatik­er. „Das ist bedrückend, weil sie feststellt, dass ihr Mann zum Pflegefall wird.“Schubert, auch er erscheint hier unter anderem Namen, bemerkte vor drei, vier Jahren erste Ausfallers­cheinungen,

konnte seinen Geldbeutel nicht finden oder vergaß den Weg zum Metzger. Und dann kam die Müdigkeit hinzu. „Ich kann inzwischen stundenlan­g schlafen“, sagt der 73-Jährige. „Ich habe nicht das Bedürfnis, irgendetwa­s zu tun.“Was ihm ein schlechtes Gewissen bereitet. „Meine Frau ist ja gerne unterwegs, geht ins Theater oder in eine Ausstellun­g. Für mich ist das aber alles sehr anstrengen­d.“

„Die Initiative leidet kolossal“, bestätigt Claus Behrens. „Weil Zweifel aufkommen, ob man an alles gedacht hat, es richtig macht. Das sind Tiefschläg­e, die man verkraften muss.“Der größte Tiefschlag ist allerdings, dass sich auch Freunde und Bekannte zurückzieh­en. Dass Einladunge­n plötzlich ausbleiben, Kontakte abbrechen und nie wieder aufgenomme­n werden. „Man sitzt nicht mehr zusammen an einem runden Tisch“, sagt Behrens, „sondern rückt in die nächste Reihe.“Und ist irgendwann gar nicht mehr dabei.

Oberärztin Jesse weiß um die Kluft zwischen Kranken und Gesunden, zwischen Gesellscha­ft und Gehandicap­ten. „Ich würde mir wünschen, dass es mehr Akzeptanz und Bewusstsei­n für die Erkrankten gibt. Demenz wird stigmatisi­ert und gerne unter den Tisch gekehrt.“

Fällt den Menschen doch die Auseinande­rsetzung mit der eigenen Endlichkei­t schwer, mit den Folgen, die das Alter eines Tages vielleicht für einen selber bereit hält.

Claus Behrens hat sich abgewöhnt, an die Zukunft zu denken. „Ich mag mir nicht vorstellen, wie ich in zehn Jahren daherkomme“, sagt er. „Ich freue mich über eine Verlangsam­ung der Krankheit, das ist ein großer Erfolg.“Dafür tut er selber viel, hält sein Gedächtnis am Laufen, löst Kreuzwortr­ätsel und Sudoku. Und spielt jeden Tag sein Instrument, ein Bariton. Lässt den tiefen und warmen Ton des Bügelhorns erklingen. Nur nicht wie einst im Blasorches­ter, sondern allein in seinem Zimmer, als Solist.

Neurologin Sarah Jesse

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FOTO: DIRK GRUPE Forschen über Demenz: Die Medizineri­nnen Sarah Jesse (li.) und Dörthe Polivka von der Uniklinik Ulm.

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