„Debatte über Waffenlieferungen ist bizarr“
Sicherheitsexperte Kaim über Kriegsszenarien an der EU-Außengrenze
- Der Einmarsch Russlands auf ukrainisches Territorium löst Ängste vor einem Krieg aus. Politikexperte Markus Kaim (Foto: PR) von der Stiftung Wissenschaft und Politik über die Risiken einer Konfrontation mit der Nato.
Herr Kaim, kann es zu einem großen Krieg in Europa kommen? Einen europäischen Großkrieg erwarte ich nicht. Bisher sind die russischen Truppen nur in die ukrainischen Rebellengebiete einmarschiert, die sowieso der Zentralgewalt in Kiew entzogen waren. Die politische Lage würde sich allerdings verändern, wenn die russische Seite militärisch in der restlichen Ukraine eingreifen würde.
Rechnen Sie damit?
Den entscheidenden Hinweis hat der russische Präsident mit seiner Rede selbst geliefert, als er der Ukraine die Staatlichkeit absprach und von einem Marionettenregime redete, das angeblich an Nuklearwaffen bastele und einen Völkermord an der russischsprachigen Bevölkerung vollziehe. Da muss ich keine militärischen Pläne kennen, um zu ahnen, was in den nächsten Wochen passieren wird.
Sie meinen, Putins Truppen machen nicht an den Grenzen der Rebellengebiete halt.
Wenn er bis an die polnische Grenze weitermarschieren würde – droht ein Konflikt mit der Nato? Politisch gibt es bereits jetzt eine Konfrontation. Präsident Putin hat eklatant die Charta von Paris verletzt, die allen Unterzeichnerstaaten territoriale Integrität, Souveränität und Nichtanwendung militärischer Gewalt garantiert. Ich kann allerdings nicht erkennen, dass Russland vorhätte, Nato-Territorium zu erobern. Ein Angriff auf die baltischen Staaten oder Polen wäre ein Eskalationsgrad, den ich mir gar nicht vorstellen will. Denn dann träte Paragraf 5 des NatoVertrages in Kraft. Dann müssten alle Nato-Staaten den Angegriffenen beistehen, gegebenenfalls sogar mit den amerikanischen Garantien der atomaren Verteidigung. Dann wären wir tatsächlich in einem Weltkrieg.
Was bedeutet die aktuelle Lage für die Bundeswehr? Können deutsche Soldaten in Gefahr geraten?
Es stand nie zur Debatte, dass Bundeswehrsoldaten in der Ukraine kämpfen sollen. Das Land ist ja kein Nato-Mitglied. Auch der amerikanische Präsident hat erklärt, dass es kein militärisches Eingreifen zugunsten der Ukraine geben werde. Allerdings unterstützt Deutschland bereits die östliche Flanke des Bündnisses, etwa in Litauen.
In Deutschland gab es eine Debatte um Waffenlieferungen an die Ukraine. Hätten noch mehr Waffen den Einmarsch russischer Truppen verhindert?
Das glaube ich nicht. Aber in so einem Konflikt geht es nicht darum, ein militärisches Gleichgewicht zu erreichen, sondern darum, die Kosten für einen Gegner so hoch zu treiben, dass er von seinem Vorhaben ablässt. Zynisch gesagt: Je mehr russische Soldaten bei einem Einmarsch sterben könnten, umso mehr verändert sich das Kalkül des Kremls.
Allerdings tut sich Deutschland damit sehr schwer. Die Debatte über Waffenlieferungen an die Ukraine war bizarr.
Meinen Sie, dass Deutschland jetzt, da die Aggression da ist, Waffen an die Ukraine liefern sollte? Natürlich.
Auch wenn es bedeuten würde, dass man Waffen in Krisengebiete liefert? Diese Begründung ist doch Hokuspokus. Wir liefern doch schon Waffen in Krisengebiete, nach Israel oder in die irakischen Kurdengebiete. Außerdem hat sich die deutsche Regierung hinter dem Minsker Prozess verschanzt ...
... der Vermittlung zwischen Russland und der Ukraine durch Deutschland und Frankreich.
Als Vermittler könne man keine Waffen an eine Seite liefern, hieß es. Jetzt hat Putin die Verhandlungen für tot erklärt. Da könnte die deutsche Seite in dieser Frage zu neuen Schlussfolgerungen kommen.
Mit seiner Absage an den Minsker Prozess hat Putin die Europäer schließlich vor den Kopf gestoßen. Diese Gespräche waren der Drehund Angelpunkt der diplomatischen Bemühungen der vergangenen Wochen.