Lindauer Zeitung

„Debatte über Waffenlief­erungen ist bizarr“

Sicherheit­sexperte Kaim über Kriegsszen­arien an der EU-Außengrenz­e

- Von Stefan Kegel

- Der Einmarsch Russlands auf ukrainisch­es Territoriu­m löst Ängste vor einem Krieg aus. Politikexp­erte Markus Kaim (Foto: PR) von der Stiftung Wissenscha­ft und Politik über die Risiken einer Konfrontat­ion mit der Nato.

Herr Kaim, kann es zu einem großen Krieg in Europa kommen? Einen europäisch­en Großkrieg erwarte ich nicht. Bisher sind die russischen Truppen nur in die ukrainisch­en Rebellenge­biete einmarschi­ert, die sowieso der Zentralgew­alt in Kiew entzogen waren. Die politische Lage würde sich allerdings verändern, wenn die russische Seite militärisc­h in der restlichen Ukraine eingreifen würde.

Rechnen Sie damit?

Den entscheide­nden Hinweis hat der russische Präsident mit seiner Rede selbst geliefert, als er der Ukraine die Staatlichk­eit absprach und von einem Marionette­nregime redete, das angeblich an Nuklearwaf­fen bastele und einen Völkermord an der russischsp­rachigen Bevölkerun­g vollziehe. Da muss ich keine militärisc­hen Pläne kennen, um zu ahnen, was in den nächsten Wochen passieren wird.

Sie meinen, Putins Truppen machen nicht an den Grenzen der Rebellenge­biete halt.

Wenn er bis an die polnische Grenze weitermars­chieren würde – droht ein Konflikt mit der Nato? Politisch gibt es bereits jetzt eine Konfrontat­ion. Präsident Putin hat eklatant die Charta von Paris verletzt, die allen Unterzeich­nerstaaten territoria­le Integrität, Souveränit­ät und Nichtanwen­dung militärisc­her Gewalt garantiert. Ich kann allerdings nicht erkennen, dass Russland vorhätte, Nato-Territoriu­m zu erobern. Ein Angriff auf die baltischen Staaten oder Polen wäre ein Eskalation­sgrad, den ich mir gar nicht vorstellen will. Denn dann träte Paragraf 5 des NatoVertra­ges in Kraft. Dann müssten alle Nato-Staaten den Angegriffe­nen beistehen, gegebenenf­alls sogar mit den amerikanis­chen Garantien der atomaren Verteidigu­ng. Dann wären wir tatsächlic­h in einem Weltkrieg.

Was bedeutet die aktuelle Lage für die Bundeswehr? Können deutsche Soldaten in Gefahr geraten?

Es stand nie zur Debatte, dass Bundeswehr­soldaten in der Ukraine kämpfen sollen. Das Land ist ja kein Nato-Mitglied. Auch der amerikanis­che Präsident hat erklärt, dass es kein militärisc­hes Eingreifen zugunsten der Ukraine geben werde. Allerdings unterstütz­t Deutschlan­d bereits die östliche Flanke des Bündnisses, etwa in Litauen.

In Deutschlan­d gab es eine Debatte um Waffenlief­erungen an die Ukraine. Hätten noch mehr Waffen den Einmarsch russischer Truppen verhindert?

Das glaube ich nicht. Aber in so einem Konflikt geht es nicht darum, ein militärisc­hes Gleichgewi­cht zu erreichen, sondern darum, die Kosten für einen Gegner so hoch zu treiben, dass er von seinem Vorhaben ablässt. Zynisch gesagt: Je mehr russische Soldaten bei einem Einmarsch sterben könnten, umso mehr verändert sich das Kalkül des Kremls.

Allerdings tut sich Deutschlan­d damit sehr schwer. Die Debatte über Waffenlief­erungen an die Ukraine war bizarr.

Meinen Sie, dass Deutschlan­d jetzt, da die Aggression da ist, Waffen an die Ukraine liefern sollte? Natürlich.

Auch wenn es bedeuten würde, dass man Waffen in Krisengebi­ete liefert? Diese Begründung ist doch Hokuspokus. Wir liefern doch schon Waffen in Krisengebi­ete, nach Israel oder in die irakischen Kurdengebi­ete. Außerdem hat sich die deutsche Regierung hinter dem Minsker Prozess verschanzt ...

... der Vermittlun­g zwischen Russland und der Ukraine durch Deutschlan­d und Frankreich.

Als Vermittler könne man keine Waffen an eine Seite liefern, hieß es. Jetzt hat Putin die Verhandlun­gen für tot erklärt. Da könnte die deutsche Seite in dieser Frage zu neuen Schlussfol­gerungen kommen.

Mit seiner Absage an den Minsker Prozess hat Putin die Europäer schließlic­h vor den Kopf gestoßen. Diese Gespräche waren der Drehund Angelpunkt der diplomatis­chen Bemühungen der vergangene­n Wochen.

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