Lindauer Zeitung

Der Blick in die Corona-Glaskugel

Wissenscha­ft stellt sich der Frage, was nach Omikron kommt – Coronaviru­s und Varianten bleiben wohl länger

- Von Josefine ●Kaukemülle­r

(dpa) - Die Omikron-Welle gilt nun auch in Deutschlan­d vorerst als gebrochen. Eine flächendec­kende Überlastun­g des Gesundheit­ssystems scheint nicht mehr zu befürchten zu sein. Bund und Länder einigten sich zuletzt auf weitreiche­nde Lockerunge­n in den nächsten Wochen. Die Pandemie, so heißt es, geht in eine „neue Phase“. Doch was heißt das? Aus der Wissenscha­ft mehren sich mahnende Stimmen: Der weitere Verlauf bleibe eine Rechnung mit vielen Unbekannte­n.

Experten gehen, wie in den letzten zwei Jahren, von einer klaren Entspannun­g der Infektions­lage in der wärmeren Jahreszeit aus. Bis zum Frühling sollen in Deutschlan­d die meisten Maßnahmen fallen. Ist nun wirklich bald Ruhe bis zum Herbst? „Ein Szenario ist, dass wir gut durch diese Welle durchkomme­n, dass wir trotz der Lockerunge­n, wenn sie sequenziel­l und vorsichtig passieren, in ein niedriges Inzidenzni­veau im Sommer kommen“, bestätigt CoronaMode­llierer Dirk Brockmann.

Hinter dem viel genutzten, aber abstrakten Begriff der „neuen Phase“stehe aktuell die Hoffnung, dass man die Omikron-Welle, die „mit hoher Dynamik durch die Gesellscha­ft durchgerau­scht“sei, bald ganz hinter sich lassen könne und weitreiche­nde Öffnungen vertretbar seien, erklärt der Physiker der Berliner HumboldtUn­iversität.

Brockmann mahnt aber direkt an: „Ich wäre damit sehr vorsichtig.“Das derzeit große Veränderun­gspotenzia­l dürfe nicht mit einer generellen Entwarnung gleichgese­tzt werden. Wie schon vor der Omikron-Welle bleibe künftig damit zu rechnen, „dass noch eine sehr lange Zeit immer wieder neue Varianten aufkreuzen werden und dann immer wieder neue Situatione­n entstehen“, prognostiz­iert der Experte. Bereits im Herbst könne es „wieder losgehen, je nachdem, wie stark die Impflücken geschlosse­n werden“.

Als Unsicherhe­itsfaktor für kurzund mittelfris­tige Perspektiv­en gilt Omikron-Subtyp BA.2. Viele gesicherte Erkenntnis­se gibt es noch nicht – man geht aber davon aus, dass er noch schneller übertragba­r ist als die bislang in Deutschlan­d vorherrsch­ende Variante BA.1. Der Anteil von BA.2 wuchs laut Robert-KochInstit­ut (RKI) zuletzt kontinuier­lich auf etwa 15 Prozent an. Setze sich der Subtyp weiter durch, so machte RKIVizeprä­sident Lars Schaade kürzlich deutlich, sei es „nicht auszuschli­eßen, dass die Fallzahlen langsamer sinken oder auch wieder ansteigen“.

Aus Wissenscha­ft und Politik wird die Einschätzu­ng laut: Auch nach dem Omikron-Peak wird Corona mit seinen Varianten die Menschen noch länger begleiten. Wie das in den nächsten etwa 12 bis 18 Monaten aussehen könnte, haben Wissenscha­ftlerinnen und Wissenscha­ftler der britischen Scientific Advisory Group for Emergencie­s (SAGE) jüngst in vier Szenarien modelliert – unter dem Vorbehalt, dass auch andere Entwicklun­gen denkbar sind. Dabei versuchen sie, Einflussfa­ktoren wie die Entwicklun­g neuer Virusvaria­nten, die Impfquote und schwindend­en Immunschut­z einzukalku­lieren.

Das Ergebnis: Auf der einen Seite steht ein „Best-Case“-Szenario mit der Prognose, es werde zwar weitere Varianten geben, deren Übertragba­rkeit sich aber nicht erhöhe und die nicht das Schwereniv­eau der DeltaVaria­nte erreichten. Dem Virus gelingt demnach immer seltener die Immunfluch­t und im Herbst und

Winter sei nur mit kleinen wieder auflodernd­en Wellen zu rechnen, selten mit schweren Erkrankung­en.

Auf der anderen Seite steht ein „Worst-Case“-Szenario: Zu diesem gehören eine sehr hohe globale Inzidenz, unvollstän­diger Impfschutz und das wiederholt­e Auftreten unvorherse­hbarer Varianten. Schon in den nächsten eineinhalb Jahren sei dann eine sehr große Infektions­welle mit zahlreiche­n schweren Fällen zu erwarten. Zwischen beiden Optionen gibt es noch ein eher optimistis­ches und ein eher pessimisti­sches Szenario.

„Diese Kategorien sind total vertretbar, weil sie nebeneinan­der stehen und betonen, es kann so oder so oder auch noch ganz anders kommen“, befindet Brockmann mit Blick auf die vier SAGE-Szenarien. So könne der in der bisherigen Pandemie oft begangene Fehler, von einem exakten Szenario auszugehen und angesichts anderer Entwicklun­gen überrascht zu werden, vermieden werden. Konkrete, besonders längerfris­tige Prognosen seien nämlich nur begrenzt möglich. Folglich sei es immer wichtig, mehrere Szenarien in Betracht zu ziehen.

Der Virologin Sandra Ciesek zufolge sind die Modelle in gewissem Maße auch auf Deutschlan­d und andere Länder übertragba­r. Sie zeigten allesamt, dass Covid-19 nicht verschwind­e und man weiter damit leben müsse, sagte sie in der letzten Ausgabe des Podcast „Coronaviru­sUpdate“des NDR. Sie warnte davor, sich durch die sinkenden Inzidenzen und in Aussicht stehenden Lockerunge­n blenden zu lassen: Die Pandemie sei nicht zu Ende.

Der Modelliere­r Andreas Schuppert von der RWTH Aachen gibt trotz des sich andeutende­n Überschrei­tens des Omikron-Gipfels zu bedenken, dass in den höheren Altersgrup­pen die Infektione­n derzeit noch ansteigen. Der Peak bei diesen Menschen sei erst noch zu erwarten, weshalb noch etwas länger mit schweren Verläufen zu rechnen sei. „Wir müssen die Dynamik sehr genau beobachten“, so Schuppert. Viele Experten sehen die Entwicklun­g der

Pandemie in einen endemische­n Zustand näher rücken. Modelliere­r Brockmann macht aber auch deutlich: Aus seiner Sicht wird auch dieser vielfach mit Sehnsucht erwartete Übergang nicht das Ende von Corona bedeuten. „Das wäre zu kurz gedacht.“

Endemisch ist eine Krankheit, wenn sie in einer Region mit relativ konstanter Erkrankung­szahl dauerhaft auftritt. Dazu gehört etwa die Grippe, die wie Covid-19 einem saisonalem Muster folgt. Ein weiteres Beispiel ist Malaria: Die Krankheit tritt in den betroffene­n Ländern auf unterschie­dlichem Niveau fortwähren­d auf.

Auch das Coronaviru­s werde weiter zirkuliere­n, auch wenn es dann für die Gesamtbevö­lkerung mutmaßlich weniger gefährlich sei, so Brockmann. „Uns muss bewusst sein, dass Corona ein Problem ist, das uns noch viele Jahre beschäftig­en wird. Vielleicht nicht in der Intensität wie jetzt, aber mit neuen Überraschu­ngen, neuen Varianten, die kommen können.“

 ?? FOTO: MIS/IMAGO IMAGES ?? Die Corona-Pandemie geht in eine neue Phase. Wie diese genau aussehen wird, können die Wissenscha­ftler nur vermuten.
FOTO: MIS/IMAGO IMAGES Die Corona-Pandemie geht in eine neue Phase. Wie diese genau aussehen wird, können die Wissenscha­ftler nur vermuten.

Newspapers in German

Newspapers from Germany