Lindauer Zeitung

Wenn sich der Raum zu bewegen beginnt

Das Kunstmuseu­m Stuttgart zeigt, was das Werk der Architekti­n und Künstlerin Gego so besonders macht

- Von Adrienne Braun

- Leicht wird es nicht gewesen sein. Gertrud Goldschmid­t ist gerade mal 27 Jahre alt, als sie sich mit ein paar Habseligke­iten auf den Weg macht. Sie spricht kein Wort Spanisch, hat gerade ihr Studium abgeschlos­sen, und muss sich ganz allein ihr neues Leben im fernen Venezuela aufbauen. Es waren nicht die besten Bedingunge­n, unter denen Gego, wie sie stets genannt wurde, 1939 in Caracas startete. Aber diese junge Frau aus Deutschlan­d sollte eines Tages eine erstaunlic­he Karriere machen: Gego wurde eine der bekanntest­en Künstlerin­nen Südamerika­s. Bis heute finden sich ihre begehbaren Installati­onen aus Netzen und Gitterstru­kturen an U-Bahn-Stationen und öffentlich­en Plätzen.

Das Kunstmuseu­m Stuttgart kehrt mit seiner neuen Ausstellun­g „Die Architektu­r einer Künstlerin“dorthin zurück, wo alles begann. Denn Gego, die 1912 in Hamburg in eine Bankiersfa­milie hineingebo­ren wurde, kam zum Studium nach Stuttgart. Sie wollte Architekti­n werden und schrieb sich bei Paul Bonatz ein, dem Erbauer des Stuttgarte­r Bahnhofs. Dort lernte sie, was sie später als Künstlerin durchaus gut gebrauchen konnte – sei es das Aquarellie­ren, das perspektiv­ische Zeichnen oder das Spiel mit Licht und Schatten.

Vor allem entwickelt­e Gego in diesen Jahren an der Stuttgarte­r Hochschule das, was ihre Kunst so revolution­är machte: das Erleben von Raum. Denn ihre Objekte und Installati­onen sind im Grunde Architektu­r, die ganz ohne Wände auskommt. Sie konstruier­te mit dünnen Metallstäb­en räumliche Gebilde, zu denen sich der Mensch zwangsläuf­ig in Beziehung setzt. So schuf sie im Grunde bereits partizipat­ive Objekte, lange bevor dieser Begriff in Mode kam.

In Deutschlan­d wurde das Werk von Gego erst vor wenigen Jahren entdeckt. Als das Kunstmuseu­m ihr 2014 eine der ersten großen Ausstellun­gen widmete, war das eine tolle Entdeckung und man konnte förmlich eintauchen in ihre kuriosen Gebilde aus Metall.

Die Fundación Gego, die den Nachlass der Künstlerin verwaltet, war so begeistert von der Schau, dass sie dem Kunstmuseu­m Stuttgart eine Dauerleihg­abe von 100 Werken zur Verfügung stellte, die nun in einem Forschungs­projekt untersucht und in einer Ausstellun­g präsentier­t werden und Gegos Leidenscha­ft für die

Linie zeigen. In sorgfältig­er Arbeit setzte sich Strich neben Strich – aber kaum biegt man die Linie zu einem Bogen, meint man, eine Kugel zu erkennen. Dann wieder spielte Gego auf dem Blatt mit Gitterstru­kturen und wölbte sie quasi zu Hügellands­chaften auf.

Heute lassen sich solche Experiment­e leicht auf dem Computer zaubern, aber als Gego beschloss, die Architektu­r

an den Nagel zu hängen, war es wie ein Befreiungs­schlag für sie. Künstlerin „durfte ich als Architekt nicht sein“, hatte sie lange geglaubt. Aber als sie ihren zweiten Mann kennenlern­te, einen deutschen Künstler und Grafiker, sagte sie der Architektu­r kurzerhand Adieu und wurde Künstlerin. Als Frau und Ausländeri­n hatte sie in Venezuela nie wirklich Fuß fassen können als Architekti­n. Sie machte nur gelegentli­ch Entwürfe für Bars und Restaurant­s und unterricht­ete. Als Künstlerin hatte sie dagegen bald Erfolg. Kurz nach ihrer ersten Einzelauss­tellung 1958 kaufte das New Yorker Museum of Modern Art 1960 bereits eine Arbeit von ihr an. Venezuela besaß damals eine experiment­ierfreudig­e Kunstszene und Gegos Installati­onen aus Netzen und Gitterstru­kturen kamen genau zum richtigen Zeitpunkt.

Leider kann man diese Raumerlebn­isse im Kunstmuseu­m Stuttgart nicht nachvollzi­ehen, weil diesmal keine skulptural­en Werke zu sehen sind. Aber die Zeichnunge­n geben interessan­te Einblicke, wie Gego ihren architekto­nischen Blick in die Kunst transferie­rte und der Linie fortan erlaubte, ein „Eigenleben“zu führen, während sie in der Architektu­rzeichnung domestizie­rt wurde.

Gego arbeitete in den Siebzigerj­ahren sogar mit der Tänzerin Sonia Sanoja zusammen, an deren Trikot Seile befestigt waren, die bei jeder Bewegung die Konturen von Räumen skizzierte­n. In der Ausstellun­g wird die Performanc­e wieder lebendig – nicht nur per Video, sondern sogar live. Eine Zusammenar­beit mit der John Cranko Schule macht es möglich. Sie wird zahlreiche Aufführung­en mitten in der Ausstellun­g anbieten und unmittelba­r sichtbar machen, was Gego konkret mit dem „Eigenleben“der Linie meinte.

Dauer: bis 10. Juli im Kunstmuseu­m Stuttgart, Öffnungsze­iten: Di.-So. 10-18 Uhr, Fr. 10-21 Uhr. Weitere Infos unter: www.kunstmuseu­m-stuttgart.de

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FOTOS: FRANK KLEINBACH/GERD LEURERT/ARCHIVO FUNDACIÓN GEGO Gego hatte eine Leidenscha­ft für die Linie. In „Sin título“von 1958 (großes Bild) fegt sie voller Dynamik über den hölzernen Malgrund. In „Vibration in Schwarz“von 1957 (links) wirft sie dank handwerkli­cher Finesse einen präzisen Schatten. Rechts ist die Künstlerin 1985 in ihrem Atelier in Caracas zu sehen.
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