Wenn sich der Raum zu bewegen beginnt
Das Kunstmuseum Stuttgart zeigt, was das Werk der Architektin und Künstlerin Gego so besonders macht
- Leicht wird es nicht gewesen sein. Gertrud Goldschmidt ist gerade mal 27 Jahre alt, als sie sich mit ein paar Habseligkeiten auf den Weg macht. Sie spricht kein Wort Spanisch, hat gerade ihr Studium abgeschlossen, und muss sich ganz allein ihr neues Leben im fernen Venezuela aufbauen. Es waren nicht die besten Bedingungen, unter denen Gego, wie sie stets genannt wurde, 1939 in Caracas startete. Aber diese junge Frau aus Deutschland sollte eines Tages eine erstaunliche Karriere machen: Gego wurde eine der bekanntesten Künstlerinnen Südamerikas. Bis heute finden sich ihre begehbaren Installationen aus Netzen und Gitterstrukturen an U-Bahn-Stationen und öffentlichen Plätzen.
Das Kunstmuseum Stuttgart kehrt mit seiner neuen Ausstellung „Die Architektur einer Künstlerin“dorthin zurück, wo alles begann. Denn Gego, die 1912 in Hamburg in eine Bankiersfamilie hineingeboren wurde, kam zum Studium nach Stuttgart. Sie wollte Architektin werden und schrieb sich bei Paul Bonatz ein, dem Erbauer des Stuttgarter Bahnhofs. Dort lernte sie, was sie später als Künstlerin durchaus gut gebrauchen konnte – sei es das Aquarellieren, das perspektivische Zeichnen oder das Spiel mit Licht und Schatten.
Vor allem entwickelte Gego in diesen Jahren an der Stuttgarter Hochschule das, was ihre Kunst so revolutionär machte: das Erleben von Raum. Denn ihre Objekte und Installationen sind im Grunde Architektur, die ganz ohne Wände auskommt. Sie konstruierte mit dünnen Metallstäben räumliche Gebilde, zu denen sich der Mensch zwangsläufig in Beziehung setzt. So schuf sie im Grunde bereits partizipative Objekte, lange bevor dieser Begriff in Mode kam.
In Deutschland wurde das Werk von Gego erst vor wenigen Jahren entdeckt. Als das Kunstmuseum ihr 2014 eine der ersten großen Ausstellungen widmete, war das eine tolle Entdeckung und man konnte förmlich eintauchen in ihre kuriosen Gebilde aus Metall.
Die Fundación Gego, die den Nachlass der Künstlerin verwaltet, war so begeistert von der Schau, dass sie dem Kunstmuseum Stuttgart eine Dauerleihgabe von 100 Werken zur Verfügung stellte, die nun in einem Forschungsprojekt untersucht und in einer Ausstellung präsentiert werden und Gegos Leidenschaft für die
Linie zeigen. In sorgfältiger Arbeit setzte sich Strich neben Strich – aber kaum biegt man die Linie zu einem Bogen, meint man, eine Kugel zu erkennen. Dann wieder spielte Gego auf dem Blatt mit Gitterstrukturen und wölbte sie quasi zu Hügellandschaften auf.
Heute lassen sich solche Experimente leicht auf dem Computer zaubern, aber als Gego beschloss, die Architektur
an den Nagel zu hängen, war es wie ein Befreiungsschlag für sie. Künstlerin „durfte ich als Architekt nicht sein“, hatte sie lange geglaubt. Aber als sie ihren zweiten Mann kennenlernte, einen deutschen Künstler und Grafiker, sagte sie der Architektur kurzerhand Adieu und wurde Künstlerin. Als Frau und Ausländerin hatte sie in Venezuela nie wirklich Fuß fassen können als Architektin. Sie machte nur gelegentlich Entwürfe für Bars und Restaurants und unterrichtete. Als Künstlerin hatte sie dagegen bald Erfolg. Kurz nach ihrer ersten Einzelausstellung 1958 kaufte das New Yorker Museum of Modern Art 1960 bereits eine Arbeit von ihr an. Venezuela besaß damals eine experimentierfreudige Kunstszene und Gegos Installationen aus Netzen und Gitterstrukturen kamen genau zum richtigen Zeitpunkt.
Leider kann man diese Raumerlebnisse im Kunstmuseum Stuttgart nicht nachvollziehen, weil diesmal keine skulpturalen Werke zu sehen sind. Aber die Zeichnungen geben interessante Einblicke, wie Gego ihren architektonischen Blick in die Kunst transferierte und der Linie fortan erlaubte, ein „Eigenleben“zu führen, während sie in der Architekturzeichnung domestiziert wurde.
Gego arbeitete in den Siebzigerjahren sogar mit der Tänzerin Sonia Sanoja zusammen, an deren Trikot Seile befestigt waren, die bei jeder Bewegung die Konturen von Räumen skizzierten. In der Ausstellung wird die Performance wieder lebendig – nicht nur per Video, sondern sogar live. Eine Zusammenarbeit mit der John Cranko Schule macht es möglich. Sie wird zahlreiche Aufführungen mitten in der Ausstellung anbieten und unmittelbar sichtbar machen, was Gego konkret mit dem „Eigenleben“der Linie meinte.
Dauer: bis 10. Juli im Kunstmuseum Stuttgart, Öffnungszeiten: Di.-So. 10-18 Uhr, Fr. 10-21 Uhr. Weitere Infos unter: www.kunstmuseum-stuttgart.de