In seltener Einigkeit
EU-Staaten kündigen massive Strafmaßnahmen gegen Russland an
- Geradezu orchestriert lief in Brüssel am Donnerstag die politische Reaktion auf Wladimir Putins Angriff auf die Ukraine ab. Bereits am frühen Morgen kündigte EUKommissionspräsidentin Ursula von der Leyen weitere Sanktionen gegen die russische Wirtschaft und Einzelpersonen an. Später präzisierte sie die geplanten Maßnahmen im Beisein von Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg. Der Außenbeauftragte der EU, Ratspräsident Charles Michel und sämtliche Fraktionen des Europaparlaments verurteilten die Invasion in schärfster Form – sogar Ungarns Premier Victor Orbán, der Putin bis dato verteidigt hatte, schloss sich an.
Am Abend trafen sich die EU-Regierungschefs zu einem Sondergipfel und gaben grünes Licht für ein neues Sanktionspaket gegen Russland. Die Sanktionen betreffen demnach den russischen Finanz-, Energieund Transportsektor, den Export von Dual-Use-Gütern, die für zivile und militärische Zwecke genutzt werden können, die Visa-Vergabe für russische Staatsbürger sowie eine Reihe „russischer Einzelpersonen“. Details wurden zunächst nicht bekannt.
„Unser Sanktionspaket wird Maßnahmen einschließen, die Russlands Zugang zum Kapitalmarkt drastisch beschränken“, hatte von der Leyen zuvor angekündigt. Diplomaten sagten allerdings, es sei weiterhin nicht geplant, Russland vom Zahlungssystem Swift abzuschneiden, was der ukrainische Außenminister gestern erneut gefordert hatte. Nach Überzeugung von der Leyens werden die Folgen für die russische Wirtschaft dennoch dramatisch sein: „Diese Sanktionen werden Russlands Wirtschaftswachstum zunichte machen; sie werden die Anleihezinsen in die Höhe treiben und die Inflation anheizen; Kapitalflucht wird zunehmen. Schrittweise wird die industrielle Produktion ausgehöhlt.“
Das werde erreicht, indem man Russlands Zugang zu wichtigen Technologien abschneide und diejenigen Schlüsseltechnologien schwäche, mit denen die Elite des Landes das meiste Geld verdiene. „Das wird Präsident Putin seinen Bürgern erklären müssen“, so von der Leyen. Alle Maßnahmen seien eng mit den Verbündeten abgestimmt – den USA, Großbritannien, Kanada, Norwegen, aber auch Japan und Australien. Der Kreml habe versucht, den Westen zu spalten, und dabei genau das Gegenteil erreicht. „Wir sind enger verbunden und entschlossener denn je.“
Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg, der zusammen mit von der Leyen und Ratspräsident Charles Michel vor die Kameras trat, nannte
Putins Angriff „barbarisch“. Er versuche die Uhr mit Gewalt zurückzudrehen und Regeln zu untergraben, die Europa jahrzehntelang sicher gemacht hätten. „Doch Nato und EU stehen an der Seite der mutigen Menschen in der Ukraine.“
Frankreichs Präsident Emmanuel Macron drohte Moskau ebenfalls: „Auf diese Kriegshandlung werden wir ohne Schwäche antworten – kaltblütig, entschlossen und geeint.“Die Sanktionen entsprächen der russischen Aggression. „Im militärischen und wirtschaftlichen Bereich wie im Energiesektor werden wir keine Schwäche zeigen.“
Die kommenden Tage werden zeigen, zu welchen Opfern die Verbündeten wirklich bereit sind. Irlands Premierminister Leo Varadkar zum Beispiel kündigte an, zusätzliche Sanktionen zu unterstützen – auch gegen die mehr als hundert russischen Briefkastenfirmen im Finanzdistrikt von Dublin. „Irland ist militärisch neutral, aber nicht neutral, was diesen Konflikt angeht“, so Varadkar. Später erklärte die irische Regierung, Flüchtlinge aus der Ukraine ohne Visum einreisen zu lassen.
Den überwiegenden Teil ihres Vermögens haben russische Oligarchen nicht in Dublin, sondern in London geparkt. Großbritanniens Premier Boris Johnson wurde gestern nicht nur von der Opposition im eigenen Land, sondern auch aus anderen westlichen Hauptstädten dafür kritisiert, dass er in einem ersten Sanktionspaket lediglich für fünf Banken und drei Oligarchen die Londoner Konten eingefroren hatte. Im Laufe des Tages wurde bekannt, dass weitere fünf Oligarchen und mehr als 100 Unternehmen und Personen sanktioniert werden sollen. Außenministerin Liz Truss betonte aber, es handele sich nur um eine erste Stufe der Maßnahmen. Auch würden weitere Waffenlieferungen in die Ukraine geprüft. Zusätzlich wurde ein Landeverbot für Aeroflot beschlossen.
Auch die Haltung der deutschen Bundesregierung wurde gestern in Brüssel von vielen Beobachtern als zu zögerlich bewertet. Zwar wurde allgemein anerkannt, dass Berlin seine Haltung zur Gaspipeline Nord Stream 2 revidiert hat. Die strikte Weigerung, Waffen in die Ukraine zu liefern, trifft aber bei den Bündnispartnern auf Unverständnis.
Bereits am Nachmittag trafen sich die Botschafter, um weitere Sanktionen vorzubereiten. Bei jeder einzelnen Maßnahme müssen sie bedenken, wie die Auswirkungen auf die europäische Wirtschaft sein werden, inwieweit also interessengeleitete oder wertegeleitete Politik die künftige Haltung gegenüber Russland bestimmen soll.
Eine Gratwanderung, deren Kurs in den kommenden Tagen noch mehrfach korrigiert werden dürfte.