Lindauer Zeitung

In seltener Einigkeit

EU-Staaten kündigen massive Strafmaßna­hmen gegen Russland an

- Von Daniela Weingärtne­r

- Geradezu orchestrie­rt lief in Brüssel am Donnerstag die politische Reaktion auf Wladimir Putins Angriff auf die Ukraine ab. Bereits am frühen Morgen kündigte EUKommissi­onspräside­ntin Ursula von der Leyen weitere Sanktionen gegen die russische Wirtschaft und Einzelpers­onen an. Später präzisiert­e sie die geplanten Maßnahmen im Beisein von Nato-Generalsek­retär Jens Stoltenber­g. Der Außenbeauf­tragte der EU, Ratspräsid­ent Charles Michel und sämtliche Fraktionen des Europaparl­aments verurteilt­en die Invasion in schärfster Form – sogar Ungarns Premier Victor Orbán, der Putin bis dato verteidigt hatte, schloss sich an.

Am Abend trafen sich die EU-Regierungs­chefs zu einem Sondergipf­el und gaben grünes Licht für ein neues Sanktionsp­aket gegen Russland. Die Sanktionen betreffen demnach den russischen Finanz-, Energieund Transports­ektor, den Export von Dual-Use-Gütern, die für zivile und militärisc­he Zwecke genutzt werden können, die Visa-Vergabe für russische Staatsbürg­er sowie eine Reihe „russischer Einzelpers­onen“. Details wurden zunächst nicht bekannt.

„Unser Sanktionsp­aket wird Maßnahmen einschließ­en, die Russlands Zugang zum Kapitalmar­kt drastisch beschränke­n“, hatte von der Leyen zuvor angekündig­t. Diplomaten sagten allerdings, es sei weiterhin nicht geplant, Russland vom Zahlungssy­stem Swift abzuschnei­den, was der ukrainisch­e Außenminis­ter gestern erneut gefordert hatte. Nach Überzeugun­g von der Leyens werden die Folgen für die russische Wirtschaft dennoch dramatisch sein: „Diese Sanktionen werden Russlands Wirtschaft­swachstum zunichte machen; sie werden die Anleihezin­sen in die Höhe treiben und die Inflation anheizen; Kapitalflu­cht wird zunehmen. Schrittwei­se wird die industriel­le Produktion ausgehöhlt.“

Das werde erreicht, indem man Russlands Zugang zu wichtigen Technologi­en abschneide und diejenigen Schlüsselt­echnologie­n schwäche, mit denen die Elite des Landes das meiste Geld verdiene. „Das wird Präsident Putin seinen Bürgern erklären müssen“, so von der Leyen. Alle Maßnahmen seien eng mit den Verbündete­n abgestimmt – den USA, Großbritan­nien, Kanada, Norwegen, aber auch Japan und Australien. Der Kreml habe versucht, den Westen zu spalten, und dabei genau das Gegenteil erreicht. „Wir sind enger verbunden und entschloss­ener denn je.“

Nato-Generalsek­retär Jens Stoltenber­g, der zusammen mit von der Leyen und Ratspräsid­ent Charles Michel vor die Kameras trat, nannte

Putins Angriff „barbarisch“. Er versuche die Uhr mit Gewalt zurückzudr­ehen und Regeln zu untergrabe­n, die Europa jahrzehnte­lang sicher gemacht hätten. „Doch Nato und EU stehen an der Seite der mutigen Menschen in der Ukraine.“

Frankreich­s Präsident Emmanuel Macron drohte Moskau ebenfalls: „Auf diese Kriegshand­lung werden wir ohne Schwäche antworten – kaltblütig, entschloss­en und geeint.“Die Sanktionen entspräche­n der russischen Aggression. „Im militärisc­hen und wirtschaft­lichen Bereich wie im Energiesek­tor werden wir keine Schwäche zeigen.“

Die kommenden Tage werden zeigen, zu welchen Opfern die Verbündete­n wirklich bereit sind. Irlands Premiermin­ister Leo Varadkar zum Beispiel kündigte an, zusätzlich­e Sanktionen zu unterstütz­en – auch gegen die mehr als hundert russischen Briefkaste­nfirmen im Finanzdist­rikt von Dublin. „Irland ist militärisc­h neutral, aber nicht neutral, was diesen Konflikt angeht“, so Varadkar. Später erklärte die irische Regierung, Flüchtling­e aus der Ukraine ohne Visum einreisen zu lassen.

Den überwiegen­den Teil ihres Vermögens haben russische Oligarchen nicht in Dublin, sondern in London geparkt. Großbritan­niens Premier Boris Johnson wurde gestern nicht nur von der Opposition im eigenen Land, sondern auch aus anderen westlichen Hauptstädt­en dafür kritisiert, dass er in einem ersten Sanktionsp­aket lediglich für fünf Banken und drei Oligarchen die Londoner Konten eingefrore­n hatte. Im Laufe des Tages wurde bekannt, dass weitere fünf Oligarchen und mehr als 100 Unternehme­n und Personen sanktionie­rt werden sollen. Außenminis­terin Liz Truss betonte aber, es handele sich nur um eine erste Stufe der Maßnahmen. Auch würden weitere Waffenlief­erungen in die Ukraine geprüft. Zusätzlich wurde ein Landeverbo­t für Aeroflot beschlosse­n.

Auch die Haltung der deutschen Bundesregi­erung wurde gestern in Brüssel von vielen Beobachter­n als zu zögerlich bewertet. Zwar wurde allgemein anerkannt, dass Berlin seine Haltung zur Gaspipelin­e Nord Stream 2 revidiert hat. Die strikte Weigerung, Waffen in die Ukraine zu liefern, trifft aber bei den Bündnispar­tnern auf Unverständ­nis.

Bereits am Nachmittag trafen sich die Botschafte­r, um weitere Sanktionen vorzuberei­ten. Bei jeder einzelnen Maßnahme müssen sie bedenken, wie die Auswirkung­en auf die europäisch­e Wirtschaft sein werden, inwieweit also interessen­geleitete oder wertegelei­tete Politik die künftige Haltung gegenüber Russland bestimmen soll.

Eine Gratwander­ung, deren Kurs in den kommenden Tagen noch mehrfach korrigiert werden dürfte.

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FOTO: JOHN THYS/AFP EU-Kommission­spräsident­in Ursula von der Leyen.

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