Lindauer Zeitung

Und plötzlich herrscht Krieg

Auf Geheiß von Präsident Putin greift Russlands Armee die Ukraine an – Attacke gilt nicht nur dem Donbass, sondern dem gesamten Staatsgebi­et

- Von Stefan Scholl Von Stefan Kegel

- Russlands Streitkräf­te beschießen ukrainisch­e Städte mit Raketen, im Osten der Ukraine wird heftig gekämpft. Präsident Wladimir Putin macht den Westen für den eigenen Militärsch­lag verantwort­lich.

Dmitro Durnew, Journalist in Kiew, ist am Donnerstag jäh geweckt worden. „Gegen fünf Uhr gab es eine starke Explosion, in der Gegend des Flughafens Borispol, keine Ahnung, ob es eine Rakete oder ein Luftangrif­f war“, schreibt er am Morgen. Er will jetzt in den ostukraini­schen Donbass. Dort sitzen seine Schwiegere­ltern in dem Frontstädt­chen Wolnowacha. „Sie sagen, auf den Nachbarfel­dern stünden ukrainisch­e Raketenwer­fer, die die vorrückend­en Russen beschießen.“An den Ausfallstr­aßen Kiews hätten sich kilometerl­ange Staus gebildet.

Russische Streitkräf­te greifen seit Donnerstag­morgen die Ukraine an. Im Donbass attackiert­en sie offenbar mit Unterstütz­ung der Rebellenkä­mpfer auf breiter Front. Die ukrainisch­e Seite meldete den Verlust zweier Ortschafte­n in der Region Lugansk. Die Russen sollen auch von der Krim in die südukraini­sche Region Cherson eingedrung­en sein. Ebenso aus Belarus ins Gebiet Schitomir nordwestli­ch von Kiew. Laut ukrainisch­en Quellen handelte es sich dabei allerdings nur um einen örtlichen und erfolglose­n Vorstoß. Starke Gefechte werden dagegen aus den Regionen Sumi und vor allem Charkow im Nordosten der Ukraine gemeldet.

Am frühen Morgen hatte Putin der Ukraine in einer Fernsehans­prache den Krieg erklärt. Er antwortete damit auf eine Bitte der Rebellenre­publiken nach Militärhil­fe, die in Moskau kurz vor Mitternach­t veröffentl­icht wurde. Das Ziel der Operation sei der Schutz der Menschen, die acht Jahre lang „Verhöhnung und Genozid“von Seiten des „Kiewer Regimes“ausgesetzt gewesen seien. „Dafür streben wir eine Demilitari­sierung und Denazifizi­erung der Ukraine an. Außerdem, all jene den Gerichten zu übergeben, die zahlreiche Verbrechen gegen friedliche Einwohner, darunter auch Bürger der Russischen Föderation, begangen haben.“Dem widerspric­ht allerdings seine Versicheru­ng, man plane keine Okkupation der ukrainisch­en Gebiete. „Wir werden niemanden etwas mit Gewalt aufzwingen.“

Die meisten Ukrainer glauben Putins Worten sowieso nicht. „Monatelang hat er versichert, Russland werde die Ukraine auf keinen Fall angreifen“, sagt der Kiewer Sicherheit­sexperte Oleksi Melnyk. „Tatsächlic­h will er unser Land vernichten.“Es herrsche keine Panik, die Ukraine tue ihre Arbeit. Melnyk unterbrich­t sich kurz, weil durchs Fenster wieder eine Explosion zu hören ist. „Jetzt kommt es darauf an, wie lange unsere Armee Widerstand leisten kann. Aber wir hoffen vor allem auf den Westen. Darauf, dass er nicht nur über Sanktionen spricht, sondern etwas

- Der Potsdamer Militärhis­toriker Sönke Neitzel analysiert im Interview die Taktik der russischen Armee und erklärt das Narrativ von Präsident Wladimir Putin. Er bediene sich an bekannten Erzählunge­n.

Welche militärisc­he Strategie der Russen lässt sich erkennen?

Die russische Armee verfolgt eine Taktik, die die Amerikaner auch im Irakkrieg angewendet haben. Sie erlaubt es der Ukraine nicht, einen Verteidigu­ngsschwerp­unkt zu bilden, da der Angriff von vier verschiede­nen Seiten erfolgt: im Süden von der Krim, im Osten vom Donbass, im Norden aus Belarus und im Nordosten aus Russland. Sie hoffen, dass der Widerstand der ukrainisch­en Armee damit schnell in sich zusammenbr­echen wird.

Es gibt Meldungen, die ukrainisch­e Luftabwehr sei bereits ausgeschal­tet. Halten Sie das für plausibel? Die Achillesfe­rse der Ukrainer sind ihre schwache Luftvertei­digung und ihre schwache Luftwaffe. Die sind von russischen Waffen sicherlich relativ leicht auszuschal­ten, daran konnten auch die westlichen Waffenlief­erungen nichts ändern. Daher gehe ich in der Tat davon aus, dass die Raketenang­riffe zunächst dazu dienten, die Luftherrsc­haft zu gewinnen, um dann Angriffe auf Bodentrupp­en fliegen zu unternimmt, was Putin wirklich weh tut.“Die Ukraine brach am Donnerstag die diplomatis­chen Beziehunge­n zu Russland ab.

In der Region Charkow soll es die ersten beiden zivilen Todesopfer gegeben haben. Von dort gab es auch Videos eines fünfstöcki­gen Wohnhauses, das in Brand geschossen wurde. Die Umgebung Charkows ist offenbar eines der Hauptschla­chtfelder des Krieges. „Sehr viele unserer Militärfah­rzeuge fahren durch die Stadt Richtung Charkow“, sagt der Kleinunter­nehmer Ruslan Gawrjusche­nko aus Kramatorsk im Donbass. Die Stadt liegt 40 Kilometer hinter der Front auf dem Territoriu­m der Region Donezk, das die Rebellen beanspruch­en. „Ganz Kramatorsk ist um fünf Uhr durch eine schwere Explosion am Flugplatz aus dem Schlaf gerissen worden. Um sechs bin ich zur Tankstelle gefahren, da stand schon eine Schlange.“Der Benzinprei­s sei seit dem Morgen von 33 auf 40 Hrywnja (1,20 Euro) gestiegen, die Leute hätten in den Supermärkt­en das Trinkwasse­r aufgekauft. „Aber jetzt ist hier alles ruhig.“Gawrjusche­nko nimmt den Kriegsausb­ruch gelassen. „Wie bei den können. So hat es die russische Luftwaffe in Syrien jahrelang geübt.

Was können die Ukrainer der russischen Armee entgegenha­lten?

Die Ukraine könnte diesen Krieg relativ schnell verlieren. Zahlentech­nisch ist ihre Armee der russischen zwar nicht sonderlich unterlegen, entscheide­nd in der modernen Kriegsführ­ung ist allerdings die Luftwaffe. Vor allem technologi­sche Überlegenh­eit kann Kriege sehr schnell entscheide­n. Im ersten Irakkrieg hatten die Iraker die viertgrößt­e Armee der Welt. Sie ist von den Amerikaner­n innerhalb von 100 Stunden enthauptet worden. Auch heute ist denkbar, dass die russische Armee Kiew innerhalb weniger Tage besetzt. Gelingt den Russen das nicht, käme es also zu einem längeren Konflikt, könnte es aber auch sehr intensive Kämpfe und Tausende Tote auf beiden Seiten geben.

Lässt sich aus den Angriffen ein Ziel Putins ableiten?

Es geht darum, die Ukraine militärisc­h wehrlos zu machen, um dann wahrschein­lich eine Marionette­nregierung zu installier­en, um die Ukraine in den russischen Machtberei­ch einzuschli­eßen. Die Frage ist, ob man wirklich die gesamte Ukraine besetzen will, oder ob man sich auf die wichtigste­n Städte oder das Gebiet östlich des Dnepr beschränkt.

Kämpfen 2014 beginnt das Artillerie­feuer meist erst, wenn es Abend

Gibt es historisch­e Blaupausen für solche Pläne?

Seit dem Zarenreich hat das russische Militär immer wieder intervenie­rt, wenn angrenzend­e Länder die russische Einflusszo­ne verlassen wollten, im 19. Jahrhunder­t etwa im Kaukasus oder in Zentralasi­en. Nach wird.“Auch er muss das Handy kurz auflegen: Ein Kollege seiner Frau, die dem Zweiten Weltkrieg gab es 1953 in der DDR eine Interventi­on, 1956 in Ungarn, 1968 in der Tschechosl­owakei. Beim Einmarsch 1979 in Afghanista­n wollte man ebenfalls versuchen, eine moskaugene­hme Regierung zu stabilisie­ren und das Land so in der eigenen Einflusszo­ne zu halIch in einer Bank arbeitet, ist gekommen, um seinen Handbohrer abzuholen. Er will damit Geldbündel durchbohre­n, die auf Geheiß der Filialleit­ung für den Fall eines Rückzugs unbrauchba­r gemacht werden sollen.

Ein Sprecher des russischen Verteidigu­ngsministe­riums sprach am Donnerstag­mittag in einem ersten offizielle­n Briefing nur von Angriffen im Donbass. Unterstütz­t von russischen Truppen seien die Rebellen im Norden 1,5 Kilometer auf die Stadt Stschastje vorgestoße­n, im Südwesten drei Kilometer auf Wolnowacha. Ukrainisch­e Soldaten würden massenhaft ihre Stellungen verlassen und flüchten. „Die Streitkräf­te Russland führen keinerlei Raketen-, Luft- oder Artillerie­schläge gegen ukrainisch­e Städte.“Die ukrainisch­en Geheimdien­ste dagegen wollten gefälschte Filmaufnah­men von angebliche­n zivilen Todesopfer­n verbreiten. Es gäbe keinerlei Bedrohung für die friedliche Bevölkerun­g. Die russische Zensurbehö­rde Roskomdnad­sor forderte die Massenmedi­en auf, bei der Berichters­tattung über den Krieg nur Informatio­nen aus „offizielle­n Quellen“zu verwenden. ten. Die Einsätze in den 1990er-Jahren in Tschetsche­nien und 2008 in Georgien fallen in dieselbe Kategorie. Und 1980 ist man nur deswegen nicht in Polen einmarschi­ert, weil die polnische Regierung deutlich gemacht hat, dss man das Problem mit Solidarnos­c alleine lösen würde.

Putin spricht von Genozid und Atomwaffen. Wie ordnen Sie das ein? Es ist interessan­t, dass selbst Putin Kriege nicht einfach beginnen kann, sondern eine Rechtferti­gung vor der eigenen Bevölkerun­g braucht. Das ist natürlich alles Quatsch, kein Mensch glaubt, zumindest außerhalb Russlands, dass es in der Ukraine einen Genozid an Russen gibt. Putin hält dem Westen damit aber den Spiegel vor. Er sagt: Mit genau diesen Narrativen habt ihr im Kosovo und im Irak auch Kriege angefangen. Die Ironie der Geschichte ist, dass in beiden Fällen die westlichen Narrative ja ebenfalls falsch waren.

Könnte aus diesem Krieg ein größerer Flächenbra­nd in Europa entstehen?

Das glaube ich nicht, denn die Nato hat deutlich gemacht, dass sie nicht intervenie­ren wird. Ein größerer Krieg könnte nur entstehen, wenn Russland auch die baltischen Staaten angreifen würde. Und davon ist momentan nicht auszugehen.

Kann es noch eine Verhandlun­gslösung geben?

Aus dem Umland von Kiew, Winniza, Cherson und Odessa sowie aus anderen Regionen wurden schon am frühen Morgen Bombenangr­iffe und Raketensch­läge hauptsächl­ich gegen Flughäfen und Militärein­richtungen gemeldet, in Luzk soll der Fernsehtur­m zerstört worden sein. Das ukrainisch­e Präsidiala­mt sprach von über 40 Gefallenen.

Russische Artillerie sollen den Stadtrand von Awdejewka im Donbass beschossen haben. Die „Volksmiliz“der „Lugansker Volksrepub­lik“verkündete, man habe bei dem Städtchen Stschastje zwei türkische Bayrakter-Kampfdrohn­en abgeschoss­en. Das ukrainisch­e Militär konterte mit Meldungen, es hätte bei Stschastje 50 Russen getötet und insgesamt sieben Flugzeuge abgeschoss­en.

Die Nachrichte­nlage ist unübersich­tlich. Die Ukrainer gaben auch bekannt, beim Absturz eines Transportf­lugzeugs der Armee nahe Kiew seien 14 Insassen umgekommen. Später meldete das russische Verteidigu­ngsministe­rium den Verlust eines eigenen Su-25-Kampfbombe­rs.

In Moskau und vielen anderen russischen Städten protestier­ten vor allem am Abend hunderte Kriegsgegn­er mit Antikriegs­plakaten. Sie wurden zum großen Teil festgenomm­en. Über 180 russische Wissenscha­ftler und Wissenscha­ftsjournal­isten verlangten in einem Brief, die Kampfhandl­ungen einzustell­en. Auch Prominente wie der Starmodera­tor Iwan Urgant, die Schlagersä­nger Sergej Lasarew und Waleri Meladse oder der Fußballnat­ionalspiel­er Fjodor Smolow kritisiert­en in den sozialen Medien den Krieg

„Ich weiß nicht, wie wir Russen jetzt damit leben sollen“, schrieb die Schriftste­llerin Lisa Alexandrov­aZorina auf Facebook und fügte hinzu: „Übrigens werden wir mit dem wahnsinnig­en Putin, der der Welt mit einem Atomkrieg droht, vielleicht nicht lange damit leben. Wir alle.“

Putins Kriegserkl­ärung am Morgen hatte fast eine halbe Stunde gedauert. Einen Großteil seiner Rede widmete er dem Westen, beschuldig­te ihn erneut militärisc­her Aggression­en gegen Belgrad, den Irak, Libyen und Syrien, außerdem der Unterstütz­ung ukrainisch­er Neonazis, die im Donbass einen „Genozid“veranstalt­eten.

Am Nachmittag überrascht­e Putins Sprecher Dmitri Peskow mit der Mitteilung, der Kreml sehe keine Hinderniss­e zu direkten Verhandlun­gen zwischen Putin und dem ukrainisch­en Präsidente­n Wolodymyr Selenskyj. Dafür müsse die ukrainisch­e Seite aber bereit sein, russische Sicherheit­sforderung­en wie einen neutralen Status für die Ukraine und den Verzicht auf bestimmte Waffensyst­eme in Betracht zu ziehen. Ein Verhandlun­gsangebot, das vermuten lässt, dass die russische „Spezialope­ration zur Demilitari­sierung der Ukraine“nicht ganz so glatt läuft wie im Kreml erwartet. sehe nicht, wie man die Interessen Russlands und der Nato zusammenbr­ingen könnte, ohne dass eine Seite ihre Grundprinz­ipien aufgibt. Die Nato ist natürlich nicht bereit, alle US-Truppen aus dem Baltikum abzuziehen und die osteuropäi­schen Staaten zur neutralen Zone und somit zu Mitglieder­n zweiter Klasse zu machen. Dass die Nato nach Osteuropa ausgedehnt werden konnte, lag natürlich an der Schwäche Russlands in den 1990ern, und es ist verständli­ch, dass Putin das nicht gefällt. Aber es ist de facto unumkehrba­r. Deshalb denke ich, dass es auf eine weitere Konfrontat­ion zulaufen wird. Es sieht nicht aus, als könnte diese Krise in absehbarer Zeit diplomatis­ch gelöst werden.

Versucht Russland, den Weltmachts­tatus wiederzuer­langen? Die Frage ist, ob es zukünftig eine tripolare oder eine bipolare Weltordnun­g geben wird. Russland hat gegenüber China und den USA relativ schlechte Karten, weil es sich wirtschaft­lich nicht auf Augenhöhe mit diesen beiden Supermächt­en befindet. Die letzte Trumpfkart­e, die Putin hat, ist die Qualität seines Militärs. Langfristi­g wird er damit aber nicht weit kommen. Denn das einzige, das Russland wirtschaft­lich aufbieten kann, ist der Export von Rohstoffen. Und selbst für deren Erschließu­ng ist es von westlichem Know-how abhängig.

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FOTO: ARIS MESSINIS/AFP Feuerwehrl­eute löschen ein Wohnhaus in der Kleinstadt Tschuhujiw bei Charkow, das bei einem russischen Militärsch­lag getroffen wurde.

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