Deutschland bereitet sich auf Flüchtlinge vor
Nach dem russischen Überfall auf die Ukraine erwarten Politiker eine Fluchtbewegung in Richtung Westen
- Die Zahl, die von der UNBotschafterin der USA genannt wurde, ist beeindruckend: Im Falle einer weiteren Eskalation im Ukraine-Konflikt schätzt sie, dass bis zu fünf Millionen Menschen fliehen müssten. Wenn Russland diesen Weg weitergehe, könnte es „eine neue Flüchtlingskrise auslösen“, sagte Linda Thomas-Greenfield laut Agentur AFP vor der UN-Generalversammlung in New York – und vor dem russischen Angriff auf die Ukraine. Dies wäre „eine der größten“Flüchtlingskrisen der Welt.
In Deutschland sind Migrationsforscher und Politiker zurückhaltender – zumindest mit Aussagen zu den Zahlen. Vom Bundesinnenministerium gibt es noch keine verlässliche Prognose, mit wie vielen geflohenen Ukrainern zu rechnen sei. Weder innerhalb der Ukraine noch in die Nachbarstaaten gebe es derzeit eine große Fluchtbewegung. Aber um darauf vorbereitet zu sein, sucht Innenministerin Nancy Faeser (SPD) sowohl den Austausch mit der polnischen Regierung als auch mit den Innenministerien in den Ländern, die für die Erstaufnahmeeinrichtungen zuständig sind. „Wir werden die betroffenen Staaten – vor allem unser Nachbarland Polen – massiv unterstützen, sollte es zu großen Fluchtbewegungen kommen“, sagte Faeser am Donnerstag in Berlin.
Gerald Knaus, Migrationsforscher und Vorsitzender des Think Tanks European Stability Initiative (ESI), bezweifelt allerdings, dass Kriegsflüchtlinge aus der Ukraine vor allen in den angrenzenden Ländern Zuflucht suchen werden. „Die Vorstellung, dass das zu einem Problem der Polen oder Slowaken wird, halte ich für unrealistisch. Wenn es zu einer größeren Bewegung von Ukrainern kommt, dann wird diese alle EU-Länder betreffen und nicht nur die Nachbarstaaten“, sagte Knaus der „Schwäbischen Zeitung“.
Denn zwischen den ukrainischen und anderen Kriegsflüchtlingen wie den Syrern gibt es einen großen Unterschied: Ukrainische Staatsbürger können legal mit einem Reisepass in die Europäische Union einreisen. Sie brauchen dafür weder ein Visum noch müssen sie einen Asylantrag stellen, um sich in Deutschland, Frankreich oder Italien aufhalten zu können. Das heißt, sie betrifft das Dublin-Verfahren, das die Aufnahme von Asylsuchenden in der Europäischen Union regelt, nicht. „Wenn sie Freunde oder Verwandte in der EU haben oder eigene Mittel, dann könnten sie auch einfach einige Monate bleiben und sehen, wie sich die Dinge entwickeln“, sagt Knaus.
Sollten sich die Dinge so entwickeln, wie es die westlichen Länder mit Blick auf die russische Invasion befürchten, dann werden die Flüchtlinge aus der Ukraine jedoch auf Unterstützung angewiesen sein. Denn sie können sich zwar legal für 90 Tage im Halbjahr in der Europäischen Union aufhalten, aber sie dürfen in dieser Zeit weder arbeiten noch haben sie Anspruch auf finanzielle Unterstützung. Laut Innenministerin Faeser bereitet die EUKommission derzeit einen Beschluss vor, der es ermöglicht, ukrainische Flüchtlinge über die 90Tage-Frist hinaus ohne Asylverfahren unbürokratisch aufzunehmen.
Darüber sollte noch am Abend entschieden werden.
Auch der Städte- und Gemeindebund drängt darauf, dass sich Bund, Länder und Kommunen rechtzeitig auf Flüchtlinge aus der Ukraine vorbereiten. Notwendig sei es, die Erstaufnahmeeinrichtungen der Länder wieder in Betrieb zu nehmen und die notwendigen finanziellen Mittel für die Kommunen bereitzustellen“, sagte der Hauptgeschäftsführer des Verbands, Gerd Landsberg, dem „Handelsblatt“. Die Kommunen in Deutschland seien solidarisch, es sei aber auch klar, „dass die Kapazitäten in den Kommunen nicht unbegrenzt sind“.
Baden-Württemberg und Bayern kündigten am Donnerstag bereits an, Kapazitäten für Flüchtende vorzuhalten. Im Südwesten ist in den Erstaufnahmeeinrichtungen laut Landesregierung selbst unter Pandemiebedingungen Platz für mindestens 1250 weitere Menschen. Außerdem sollen ukrainische Staatsangehörige, die derzeit kurz und visafrei in Baden-Württemberg unterwegs sind, bei den Ausländerbehörden eine Aufenthaltserlaubnis einholen können, um länger zu bleiben. Bayerns Innenminister Joachim Herrmann (CSU) sagte, der Freistaat sei bereits seit einiger Zeit dabei, zusätzliche Plätze für die Unterbringung zu suchen.
Bislang verlassen Ukrainer – trotz des langjährigen Konflikts in der Ostukraine – eher selten ihr Land. Nach Schätzungen des Flüchtlingshilfswerks der Vereinten Nationen UNHCR leben in der Ukraine rund 860 000 Binnenflüchtlinge. Auch Migrationsforscher Knaus bestätigt, dass die Zahl der Asylsuchenden aus der Ukraine in den vergangenen acht Jahren vergleichsweise gering war. Sollte sich das jetzt ändern, wirbt er dafür, die EU-Grenzen offen zu halten. „Das Schlimmste, was die EU jetzt machen könnte, wäre, über die Wiedereinführung einer Visapflicht zu diskutieren. Das wäre ein Verrat an den Ukrainern.“
Davon ist im Moment nicht auszugehen. Mit allen östlichen EULändern seien „Notfallpläne vereinbart“, um Menschen aus der Ukraine sofort aufzunehmen, sagte EUKommissionspräsidentin Ursula von der Leyen am Donnerstag in Brüssel. „Und sie sind willkommen.“Dass die Ukraine-Krise Bewegung in den jahrelangen Streit um die EU-Migrationspolitik bringt, ist nach Ansicht von Experten nicht zu erwarten. Die jetzige Situation werde die Debatte über das gemeinsame europäische Asylsystem nicht voranbringen, so Knaus. „Aber jede Form der Kooperation zwischen Staaten wäre schon ein Fortschritt.“