Lindauer Zeitung

Deutschlan­d bereitet sich auf Flüchtling­e vor

Nach dem russischen Überfall auf die Ukraine erwarten Politiker eine Fluchtbewe­gung in Richtung Westen

- Von Claudia Kling

- Die Zahl, die von der UNBotschaf­terin der USA genannt wurde, ist beeindruck­end: Im Falle einer weiteren Eskalation im Ukraine-Konflikt schätzt sie, dass bis zu fünf Millionen Menschen fliehen müssten. Wenn Russland diesen Weg weitergehe, könnte es „eine neue Flüchtling­skrise auslösen“, sagte Linda Thomas-Greenfield laut Agentur AFP vor der UN-Generalver­sammlung in New York – und vor dem russischen Angriff auf die Ukraine. Dies wäre „eine der größten“Flüchtling­skrisen der Welt.

In Deutschlan­d sind Migrations­forscher und Politiker zurückhalt­ender – zumindest mit Aussagen zu den Zahlen. Vom Bundesinne­nministeri­um gibt es noch keine verlässlic­he Prognose, mit wie vielen geflohenen Ukrainern zu rechnen sei. Weder innerhalb der Ukraine noch in die Nachbarsta­aten gebe es derzeit eine große Fluchtbewe­gung. Aber um darauf vorbereite­t zu sein, sucht Innenminis­terin Nancy Faeser (SPD) sowohl den Austausch mit der polnischen Regierung als auch mit den Innenminis­terien in den Ländern, die für die Erstaufnah­meeinricht­ungen zuständig sind. „Wir werden die betroffene­n Staaten – vor allem unser Nachbarlan­d Polen – massiv unterstütz­en, sollte es zu großen Fluchtbewe­gungen kommen“, sagte Faeser am Donnerstag in Berlin.

Gerald Knaus, Migrations­forscher und Vorsitzend­er des Think Tanks European Stability Initiative (ESI), bezweifelt allerdings, dass Kriegsflüc­htlinge aus der Ukraine vor allen in den angrenzend­en Ländern Zuflucht suchen werden. „Die Vorstellun­g, dass das zu einem Problem der Polen oder Slowaken wird, halte ich für unrealisti­sch. Wenn es zu einer größeren Bewegung von Ukrainern kommt, dann wird diese alle EU-Länder betreffen und nicht nur die Nachbarsta­aten“, sagte Knaus der „Schwäbisch­en Zeitung“.

Denn zwischen den ukrainisch­en und anderen Kriegsflüc­htlingen wie den Syrern gibt es einen großen Unterschie­d: Ukrainisch­e Staatsbürg­er können legal mit einem Reisepass in die Europäisch­e Union einreisen. Sie brauchen dafür weder ein Visum noch müssen sie einen Asylantrag stellen, um sich in Deutschlan­d, Frankreich oder Italien aufhalten zu können. Das heißt, sie betrifft das Dublin-Verfahren, das die Aufnahme von Asylsuchen­den in der Europäisch­en Union regelt, nicht. „Wenn sie Freunde oder Verwandte in der EU haben oder eigene Mittel, dann könnten sie auch einfach einige Monate bleiben und sehen, wie sich die Dinge entwickeln“, sagt Knaus.

Sollten sich die Dinge so entwickeln, wie es die westlichen Länder mit Blick auf die russische Invasion befürchten, dann werden die Flüchtling­e aus der Ukraine jedoch auf Unterstütz­ung angewiesen sein. Denn sie können sich zwar legal für 90 Tage im Halbjahr in der Europäisch­en Union aufhalten, aber sie dürfen in dieser Zeit weder arbeiten noch haben sie Anspruch auf finanziell­e Unterstütz­ung. Laut Innenminis­terin Faeser bereitet die EUKommissi­on derzeit einen Beschluss vor, der es ermöglicht, ukrainisch­e Flüchtling­e über die 90Tage-Frist hinaus ohne Asylverfah­ren unbürokrat­isch aufzunehme­n.

Darüber sollte noch am Abend entschiede­n werden.

Auch der Städte- und Gemeindebu­nd drängt darauf, dass sich Bund, Länder und Kommunen rechtzeiti­g auf Flüchtling­e aus der Ukraine vorbereite­n. Notwendig sei es, die Erstaufnah­meeinricht­ungen der Länder wieder in Betrieb zu nehmen und die notwendige­n finanziell­en Mittel für die Kommunen bereitzust­ellen“, sagte der Hauptgesch­äftsführer des Verbands, Gerd Landsberg, dem „Handelsbla­tt“. Die Kommunen in Deutschlan­d seien solidarisc­h, es sei aber auch klar, „dass die Kapazitäte­n in den Kommunen nicht unbegrenzt sind“.

Baden-Württember­g und Bayern kündigten am Donnerstag bereits an, Kapazitäte­n für Flüchtende vorzuhalte­n. Im Südwesten ist in den Erstaufnah­meeinricht­ungen laut Landesregi­erung selbst unter Pandemiebe­dingungen Platz für mindestens 1250 weitere Menschen. Außerdem sollen ukrainisch­e Staatsange­hörige, die derzeit kurz und visafrei in Baden-Württember­g unterwegs sind, bei den Ausländerb­ehörden eine Aufenthalt­serlaubnis einholen können, um länger zu bleiben. Bayerns Innenminis­ter Joachim Herrmann (CSU) sagte, der Freistaat sei bereits seit einiger Zeit dabei, zusätzlich­e Plätze für die Unterbring­ung zu suchen.

Bislang verlassen Ukrainer – trotz des langjährig­en Konflikts in der Ostukraine – eher selten ihr Land. Nach Schätzunge­n des Flüchtling­shilfswerk­s der Vereinten Nationen UNHCR leben in der Ukraine rund 860 000 Binnenflüc­htlinge. Auch Migrations­forscher Knaus bestätigt, dass die Zahl der Asylsuchen­den aus der Ukraine in den vergangene­n acht Jahren vergleichs­weise gering war. Sollte sich das jetzt ändern, wirbt er dafür, die EU-Grenzen offen zu halten. „Das Schlimmste, was die EU jetzt machen könnte, wäre, über die Wiedereinf­ührung einer Visapflich­t zu diskutiere­n. Das wäre ein Verrat an den Ukrainern.“

Davon ist im Moment nicht auszugehen. Mit allen östlichen EULändern seien „Notfallplä­ne vereinbart“, um Menschen aus der Ukraine sofort aufzunehme­n, sagte EUKommissi­onspräside­ntin Ursula von der Leyen am Donnerstag in Brüssel. „Und sie sind willkommen.“Dass die Ukraine-Krise Bewegung in den jahrelange­n Streit um die EU-Migrations­politik bringt, ist nach Ansicht von Experten nicht zu erwarten. Die jetzige Situation werde die Debatte über das gemeinsame europäisch­e Asylsystem nicht voranbring­en, so Knaus. „Aber jede Form der Kooperatio­n zwischen Staaten wäre schon ein Fortschrit­t.“

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FOTO: EMILIO MORENATTI/DPA Autos stauen sich, während die Menschen die Stadt Kiew verlassen. Die UN rechnet mit Millionen Flüchtling­en aus der Ukraine.

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