„Der Konflikt hat schon jetzt eine nukleare Dimension“
Rüstungsexperte Oliver Meier über russische Atomwaffen auf dem Boden von Belarus
- Der Angriff Russlands auf die Ukraine schürt in Europa eine lange verdrängte Angst: Atomwaffen. Rücken sie jetzt wieder näher an die EU heran? Mit einer Eroberung der Ukraine würde der Einflussbereich von Russlands Präsident Wladimir Putin bis an die Nato-Grenzen reichen. Auch das benachbarte Belarus befindet sich in Putins Griff. Der Rüstungsexperte Oliver Meier vom Hamburger Institut für Friedensforschung und Sicherheitspolitik sieht vor allem darin ein großes Risiko. Meier befasst sich seit Jahren mit Problemen der Abrüstung, Rüstungskontrolle und Nichtweiterverbreitung von Massenvernichtungswaffen.
Herr Meier, in der Auseinandersetzung mit Russland hat der Westen es mit einer Atommacht zu tun. Kehrt die Atomwaffen-Angst aus dem Kalten Krieg zurück?
Der Konflikt hat ja schon jetzt eine nukleare Dimension. Wir haben das schon daran gesehen, dass Russlands Präsident Wladimir Putin vor wenigen Tagen öffentlichkeitswirksam seine strategischen Raketenstreitkräfte erprobt hat und diese Übung gemeinsam mit dem verbündeten belarussischen Staatspräsidenten Alexander Lukaschenko live verfolgt hat. Aber auch die Nato hat Signale gesendet. Die USA haben nuklearwaffenfähige Langstreckenbomber nach Europa geschickt. Beide Seiten versuchen, Entschlossenheit zu signalisieren, indem sie solche Fähigkeiten ins Schaufenster stellen.
Am 27. Februar findet in Belarus eine Volksabstimmung über eine Verfassungsänderung statt. Darin soll unter anderem das Verbot der Stationierung von Atomwaffen auf belarussischem Boden gestrichen werden. Erleben wir bald russische Atomraketen vor der Haustür der Nato?
Lukaschenko hat das ja im Dezember bereits als Angebot an Russland formuliert. Das wäre dann möglicherweise so ähnlich wie die Nato-Praxis der nuklearen Teilhabe, in deren Rahmen auf dem Territorium von fünf Nicht-Atomwaffenstaaten innerhalb des Bündnisses US-Waffen stationiert werden. Eine Stationierung russischer Atomwaffen in Belarus wäre gleichzeitig aber ein vollständiger Positionswechsel Russlands, denn Moskau fordert, dass diese Waffen nur auf dem Boden der Besitzerstaaten stationiert werden dürften. Da würde Russland dann das Gegenteil dessen praktizieren, was es seit Jahrzehnten predigt.
Kann der Konflikt bis zum Einsatz solcher Waffen ausarten?
Mich besorgt eher, dass ein solcher Konflikt außer Kontrolle geraten kann, etwa infolge eines Unfalls oder einer ungewollten Eskalation. Dass eine der beiden Seiten gezielt Atomwaffen
einsetzt, um einen militärischen Vorteil herbeizuführen – dieses Szenario schließe ich aus.
Macht es technisch denn einen Unterschied, ob Atomwaffen auf russischem Boden oder weiter vorgelagert in seinen Nachbarstaaten stehen? Die von Russland entwickelten Hyperschallwaffen zum Beispiel sind ja deutlich schneller als herkömmliche Marschflugkörper.
Natürlich. Je näher Atomwaffen am Einsatzgebiet stationiert sind, um so kürzer ist für den Gegner die Vorwarnzeit. Hyperschallwaffen allerdings sind zwar schneller als Marschflugkörper; sie fliegen bis zu zehnmal so schnell wie der Schall, also mehr als 10 000 Kilometer pro Stunde. Aber sie sind trotzdem langsamer als herkömmliche ballistische Nuklearraketen. Hyperschallwaffen sind aus einem anderen Grund gefährlich: Sie können im Flug ihre
Richtung wechseln. Das bremst diese Waffen nicht nur ab, es ist auch nicht erkennbar, welches Ziel sie ansteuern. Und: Sie werden von Raketenabwehrsystemen nur sehr schwer erkannt. Außerdem hat Russland seine Hyperschallwaffen auch auf Flugzeugen und Schiffen stationiert, daher spielen landgestützte Kurz- und Mittelstreckenraketen dort keine so große Rolle. Das Risiko einer Stationierung außerhalb des eigenen Territoriums lauert woanders.
Und wo?
In den Sicherheitsrisiken. Ein weiterer Staat hätte theoretisch Zugriff auf Atomwaffen. Und im Konfliktfall kann man sie nicht so schnell in eigene Lager bringen wie auf dem eigenen Territorium. Es besteht außerdem die Gefahr, dass diese Atomwaffen in einem Konflikt in die Hände des Gegners fallen. Das bringt das Dilemma mit sich: Wenn ich sie nicht einsetze, verliere ich sie möglicherweise. Es hängt schließlich auch noch ein ganz anderes Problem dran: die Frage der Nichtweiterverbreitung von Atomwaffen. Ziel des Atomwaffensperrvertrags war ja, dass sie in möglichst wenig Ländern stationiert werden. Die Nato war bisher die einzige Ausnahme. Eine Stationierung in Belarus wäre ein Rückschritt in die Zeit des Kalten Krieges, als die Sowjetunion ebenfalls Atomwaffen nahe der Grenze zur Nato in Drittstaaten stationierte, zum Beispiel in der DDR.