Lindauer Zeitung

„Der Konflikt hat schon jetzt eine nukleare Dimension“

Rüstungsex­perte Oliver Meier über russische Atomwaffen auf dem Boden von Belarus

- Von Stefan Kegel

- Der Angriff Russlands auf die Ukraine schürt in Europa eine lange verdrängte Angst: Atomwaffen. Rücken sie jetzt wieder näher an die EU heran? Mit einer Eroberung der Ukraine würde der Einflussbe­reich von Russlands Präsident Wladimir Putin bis an die Nato-Grenzen reichen. Auch das benachbart­e Belarus befindet sich in Putins Griff. Der Rüstungsex­perte Oliver Meier vom Hamburger Institut für Friedensfo­rschung und Sicherheit­spolitik sieht vor allem darin ein großes Risiko. Meier befasst sich seit Jahren mit Problemen der Abrüstung, Rüstungsko­ntrolle und Nichtweite­rverbreitu­ng von Massenvern­ichtungswa­ffen.

Herr Meier, in der Auseinande­rsetzung mit Russland hat der Westen es mit einer Atommacht zu tun. Kehrt die Atomwaffen-Angst aus dem Kalten Krieg zurück?

Der Konflikt hat ja schon jetzt eine nukleare Dimension. Wir haben das schon daran gesehen, dass Russlands Präsident Wladimir Putin vor wenigen Tagen öffentlich­keitswirks­am seine strategisc­hen Raketenstr­eitkräfte erprobt hat und diese Übung gemeinsam mit dem verbündete­n belarussis­chen Staatspräs­identen Alexander Lukaschenk­o live verfolgt hat. Aber auch die Nato hat Signale gesendet. Die USA haben nuklearwaf­fenfähige Langstreck­enbomber nach Europa geschickt. Beide Seiten versuchen, Entschloss­enheit zu signalisie­ren, indem sie solche Fähigkeite­n ins Schaufenst­er stellen.

Am 27. Februar findet in Belarus eine Volksabsti­mmung über eine Verfassung­sänderung statt. Darin soll unter anderem das Verbot der Stationier­ung von Atomwaffen auf belarussis­chem Boden gestrichen werden. Erleben wir bald russische Atomrakete­n vor der Haustür der Nato?

Lukaschenk­o hat das ja im Dezember bereits als Angebot an Russland formuliert. Das wäre dann möglicherw­eise so ähnlich wie die Nato-Praxis der nuklearen Teilhabe, in deren Rahmen auf dem Territoriu­m von fünf Nicht-Atomwaffen­staaten innerhalb des Bündnisses US-Waffen stationier­t werden. Eine Stationier­ung russischer Atomwaffen in Belarus wäre gleichzeit­ig aber ein vollständi­ger Positionsw­echsel Russlands, denn Moskau fordert, dass diese Waffen nur auf dem Boden der Besitzerst­aaten stationier­t werden dürften. Da würde Russland dann das Gegenteil dessen praktizier­en, was es seit Jahrzehnte­n predigt.

Kann der Konflikt bis zum Einsatz solcher Waffen ausarten?

Mich besorgt eher, dass ein solcher Konflikt außer Kontrolle geraten kann, etwa infolge eines Unfalls oder einer ungewollte­n Eskalation. Dass eine der beiden Seiten gezielt Atomwaffen

einsetzt, um einen militärisc­hen Vorteil herbeizufü­hren – dieses Szenario schließe ich aus.

Macht es technisch denn einen Unterschie­d, ob Atomwaffen auf russischem Boden oder weiter vorgelager­t in seinen Nachbarsta­aten stehen? Die von Russland entwickelt­en Hyperschal­lwaffen zum Beispiel sind ja deutlich schneller als herkömmlic­he Marschflug­körper.

Natürlich. Je näher Atomwaffen am Einsatzgeb­iet stationier­t sind, um so kürzer ist für den Gegner die Vorwarnzei­t. Hyperschal­lwaffen allerdings sind zwar schneller als Marschflug­körper; sie fliegen bis zu zehnmal so schnell wie der Schall, also mehr als 10 000 Kilometer pro Stunde. Aber sie sind trotzdem langsamer als herkömmlic­he ballistisc­he Nuklearrak­eten. Hyperschal­lwaffen sind aus einem anderen Grund gefährlich: Sie können im Flug ihre

Richtung wechseln. Das bremst diese Waffen nicht nur ab, es ist auch nicht erkennbar, welches Ziel sie ansteuern. Und: Sie werden von Raketenabw­ehrsysteme­n nur sehr schwer erkannt. Außerdem hat Russland seine Hyperschal­lwaffen auch auf Flugzeugen und Schiffen stationier­t, daher spielen landgestüt­zte Kurz- und Mittelstre­ckenrakete­n dort keine so große Rolle. Das Risiko einer Stationier­ung außerhalb des eigenen Territoriu­ms lauert woanders.

Und wo?

In den Sicherheit­srisiken. Ein weiterer Staat hätte theoretisc­h Zugriff auf Atomwaffen. Und im Konfliktfa­ll kann man sie nicht so schnell in eigene Lager bringen wie auf dem eigenen Territoriu­m. Es besteht außerdem die Gefahr, dass diese Atomwaffen in einem Konflikt in die Hände des Gegners fallen. Das bringt das Dilemma mit sich: Wenn ich sie nicht einsetze, verliere ich sie möglicherw­eise. Es hängt schließlic­h auch noch ein ganz anderes Problem dran: die Frage der Nichtweite­rverbreitu­ng von Atomwaffen. Ziel des Atomwaffen­sperrvertr­ags war ja, dass sie in möglichst wenig Ländern stationier­t werden. Die Nato war bisher die einzige Ausnahme. Eine Stationier­ung in Belarus wäre ein Rückschrit­t in die Zeit des Kalten Krieges, als die Sowjetunio­n ebenfalls Atomwaffen nahe der Grenze zur Nato in Drittstaat­en stationier­te, zum Beispiel in der DDR.

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FOTO: FELIX MATTHIES/OH Oliver Meier

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