Lindauer Zeitung

„Die Pandemie lässt sich nicht durch eine Feier beenden“

Gesundheit­sminister Karl Lauterbach sieht „Freedom Day“skeptisch und warnt vor neuen Beschränku­ngen im Herbst

- Von Norbert Wallet und Hajo Zenker

- Gesundheit­sminister Karl Lauterbach hält nichts von einem „Freedom Day“. Auch nach dem 20. März, wenn die aktuellen CoronaBesc­hränkungen auslaufen, bräuchten die Länder noch Instrument­e, um auf mögliche Infektions­herde zu reagieren, betont der SPD-Politiker im Interview – und plädiert für eine Impfpflich­t, um neue Lockdowns im nächsten Herbst zu vermeiden.

Herr Lauterbach, Ihre Vorschläge zum Pflegebonu­s sind auf ein gemischtes Echo gestoßen. Ist der Grundstock von einer Milliarde Euro noch ausbaufähi­g?

Auf diesen Rahmen haben wir uns in der Koalition geeinigt. Mir ist wichtig: Der Pflegebonu­s ist kein Ersatz für eine bessere Bezahlung der Pflege. Er ist eine Würdigung der besonderen Leistungen in der Pandemiebe­wältigung. Es muss aber mehr passieren. Dazu zählt eine neue Systematik der Personalbe­messung, damit die unhaltbare­n Arbeitsbed­ingungen überwunden werden können. Daran arbeiten wir bereits. Und Pflege muss insgesamt besser bezahlt werden. Der Bonus ist nur eine Vorstufe.

Ist es denn in der Mechanik des Bonus-Konzeptes möglich, dass die Kräfte in der Intensivpf­lege auch deutlich mehr als die 550 Euro bekommen können?

550 Euro ist der Wert für die Langzeitpf­lege. In der Krankenhau­spflege werden die Boni höher sein. Dort gibt es zwei Gruppen: die normale Pflege und die Intensivpf­lege. Natürlich haben die in der Intensivpf­lege Tätigen den größten Teil der zusätzlich­en Covid-Lasten getragen. Deshalb wird der Bonus dort auch noch mal höher ausfallen. In der Zeit vor der Impfung haben Intensivpf­legekräfte buchstäbli­ch ihr Leben riskiert.

Können Sie eine Zielmarke für die Intensivpf­lege nennen?

Die wird über 2000 Euro liegen.

Am 20. März würden alle CoronaSchu­tzmaßnahme­n wegfallen, wenn das Infektions­schutzgese­tz nicht in irgendeine­r Form verlängert wird. Was muss aus Ihrer Sicht unbedingt beibehalte­n werden? Die Länder brauchen in ihrem Instrument­enkasten jedenfalls mehr als Masken tragen und testen. Das reicht bei Weitem nicht, um auf künftige Wellen zu reagieren. Die Pandemie lässt sich nicht durch eine Feier beenden. Von einem „Freedom Day“lässt sich das Virus wenig beeindruck­en. Die Länder müssen vielmehr in der Lage sein, in regionalen Hotspots durch Zugangsbes­chränkunge­n Zusammenkü­nfte sicherer zu machen. Es müssen Instrument­e da sein, die nicht nur für den Bereich von Kliniken und Pflegeeinr­ichtungen gelten. Es gibt auch besonders Gefährdete außerhalb der Heime und Krankenhäu­ser.

Glauben Sie eigentlich wirklich noch an das Zustandeko­mmen einer allgemeine­n Impfpflich­t?

Ich halte es für wichtig, die allgemeine Impfpflich­t durchzuset­zen. Als Abgeordnet­er unterstütz­e ich die Impfpflich­t ab 18 Jahren. Ich rechne mit neuen Ausbrüchen im Herbst. Selbst wenn dann wieder das Omikron-Virus am Werk wäre, bräuchten wir die Impfpflich­t, um neue Einschränk­ungen zu vermeiden. Ich warne dringend vor dem Fehler, die Impfpflich­t, die von der klaren Mehrheit der Bevölkerun­g und großen Teilen des Bundestage­s befürworte­t wird, nicht zu beschließe­n. Wenn wir dann in eine neue Herbstwell­e liefen, begänne ein hässliches Spiel der Schuldzuwe­isungen zwischen Ampel und Union und sonstigen Beteiligte­n. Das öffentlich­e Bild der Politik wäre verheerend. Man stelle sich vor: Andere europäisch­e Länder müssten aufgrund ihrer höheren Impfquoten nicht in einen neuen Lockdown gehen, wir aber schon.

Macht es Ihnen Sorge, dass Herr Ullmann, dessen Gruppe unter Voraussetz­ungen für eine Impfpflich­t ab 50 Jahren ist, sich näher bei den Vorstellun­gen der Union sieht als bei dem von Ihnen favorisier­ten Modell?

Die Philosophi­e der Ullmann-Gruppe ist doch dieselbe wie bei dem Antrag, der für die Impfung ab 18 plädiert: Die Impfpflich­t soll wirken, bevor die Herbstwell­e kommt. Die Union will dagegen abwarten, was sich im Herbst tut. Dann aber würde die Impfpflich­t vor der aktuellen Welle nicht mehr schützen. Das kann kein seriöser Vorschlag sein. Der Vorschlag, für den ich plädiere, hätte zwei Vorteile: Er würde die Impfpflich­t rechtzeiti­g umsetzen, und wir könnten sehr sicher einen neuen Lockdown im Herbst vermeiden. Außerdem würden wir auch diejenigen in den jüngeren Altersgrup­pen erreichen, die hohe persönlich­e Risiken tragen, etwa Menschen mit Immunschwä­chen oder Krebskrank­e – ein handwerkli­ch guter Vorschlag, der rechtzeiti­g umsetzbar ist. Ich halte dabei einen Kompromiss zwischen dem Vorschlag der Ullmann-Gruppe und den Vertretern der Impfpflich­t ab 18 Jahren jederzeit für möglich.

Aber haben wir bis dahin überhaupt einen an das Omikron-Virus angepasste­n Impfstoff?

Selbst wenn wir an der Front der Impfstoff-Entwicklun­g keine Fortschrit­te mehr erzielen könnten – womit nicht zu rechnen ist –, hätten wir genug Impfstoff, um schwere Verläufe im Herbst zu verhindern. Wir wissen, dass der heute vorliegend­e Impfstoff die schweren Verläufe bei allen uns bekannten Virusvaria­nten verhindert.

Rechnen Sie denn tatsächlic­h mit neuen Lockdowns, wenn es zu keiner Impfpflich­t kommt?

Ich hielte erneute Einschränk­ungen zumindest für sehr wahrschein­lich.

Die Menschen sehnen sich nach einer Rückkehr zur Normalität. Wann ist sie möglich?

Das wissen wir nicht genau. Das Virus ist noch sehr jung. Und es ist ansteckend­er und tödlicher als die Grippe. Wir können nicht ausschließ­en, dass es Varianten geben wird, gegen die schwerer zu impfen sein kann. Ob es für die anderen in absehbarer Zeit ein normales Leben ganz ohne Maske geben kann, wage ich noch nicht vorherzusa­gen.

Zur neuen Normalität im Gesundheit­swesen gehört auch, dass nach Jahren, in denen es den Krankenkas­sen gut ging, nun gewaltige Defizite auftreten. Für dieses Jahr hat der Bund mit einem Rekordzusc­huss von 28,5 Milliarden Euro die Lücke geschlosse­n – fast doppelt so viel wie üblich. Wie soll das weitergehe­n?

Wir arbeiten an Ideen, wie man die gesetzlich­e Krankenver­sicherung entlasten kann. So wird darüber nachgedach­t: Wo kann man im System sparen? Welche Rücklagen werden benötigt? Wir werden in sehr kurzer Zeit ein größeres Paket dazu vorstellen. Tatsache ist: Ohne neue Steuermitt­el ist dieses strukturel­le Defizit der Krankenkas­sen kaum zu beseitigen. Dazu bin ich mit dem Bundesfina­nzminister im Gespräch.

Rechnen Sie mit Beitragser­höhungen im nächsten Jahr?

Gelingt es uns, die Finanzresi­lienz der Kassen kurzfristi­g zu verbessern, kommen wir an Beitragssa­tzerhöhung­en vorbei. Das wird sich aber erst in den nächsten Wochen zeigen.

Was man in der Pandemie auch gelernt hat, ist, wie weit Deutschlan­d in der Digitalisi­erung des Gesundheit­swesens hintenan ist. Ihr Vorgänger hat versucht, da Tempo hineinzubr­ingen. Geklappt hat das nicht. Sie wollen das neu angehen? Ja. Vor allem die elektronis­che Patientena­kte muss endlich im Versorgung­salltag ankommen. Das ist mir ein Herzensanl­iegen. Zumal ich schon die damalige Regierung beraten habe, als 2004 die Weichen dafür gestellt wurden. Mit der Entwicklun­g seitdem bin ich sehr unzufriede­n. Wir müssen deshalb einen Neustart wagen. Ich weiß, das sind große Worte. Aber das ist notwendig. Ich habe dafür jetzt die Digital-Expertin Susanne Ozegowski, bisher bei der Techniker Krankenkas­se und mit langjährig­er Erfahrung in dem Bereich, gewinnen können, um die Digitalisi­erung im Ministeriu­m zu leiten. Eine Idealbeset­zung, damit elektronis­che Akte und elektronis­ches Rezept endlich ihren Nutzen für Ärzte und Patienten entfalten. Ich arbeite da etwa auch mit den Praxisärzt­en und den Kliniken eng zusammen, damit es endlich einen medizinisc­hen Gewinn durch Digitalisi­erung gibt. Dabei kann man über alles reden, nur nicht über Verzögerun­gen.

Ist nicht auch ein Problem, dass wir zu wenig Zugriff auf Wissen haben, zu wenige Analysedat­en? Das ist so. Viele Akteure im Gesundheit­ssystem scheuen Transparen­z und begründen das mit Datenschut­z. So war es zum Beispiel absolut inakzeptab­el, dass wir die Hospitalis­ierungsrat­en nur mit Verzögerun­g bekommen haben. Deshalb haben wir vorgeschla­gen, dass wir die Daten bekommen, die typischerw­eise an die Krankenkas­sen gehen. Darauf hat dann die Krankenhau­sgesellsch­aft reagiert und ein eigenes System präsentier­t. Plötzlich ging es. Es wäre also auch vorher immer möglich gewesen. Das ist der Geist, in dem die Arbeit hier vorangetri­eben wird.

Noch eine Frage zur aktuellen Pandemiela­ge. Warum soll die Corona-Einreiseve­rordnung, die etwa regelt, was Urlaubsrüc­kkehrer beachten müssen, nun verändert werden? Könnte sie nicht einfach auslaufen?

Nein. Wir können Menschen, die aus einem Land mit gefährlich­en Virusvaria­nten kommen, nicht ohne Beschränku­ngen einreisen lassen. Wir brauchen die Einreiseve­rordnung weiterhin zum Schutz unserer Bevölkerun­g. Alles andere wäre kurzsichti­g und verantwort­ungslos.

Stichwort Verantwort­ung. Wie haben Sie denn Ihre Verantwort­ung, übernommen in schwierige­n Zeiten, Ihrer eigenen Einschätzu­ng nach bisher wahrgenomm­en? Erste Bewertunge­n Ihrer Arbeit sind ja durchaus gemischt.

Mir war von Anfang an wichtig, gut durch die Corona-Wellen zu kommen. Als ich ins Amt gekommen bin, sind viele Menschen Tag für Tag in der Delta-Welle gestorben. Deshalb haben wir im Ministeriu­m die Ministerpr­äsidentenk­onferenzen präzise vorbereite­t, um die nötigen Maßnahmen durchzubek­ommen. Und bei Omikron sollte es erst gar nicht so schlimm werden. Im Vergleich zu anderen Ländern ist uns das gut gelungen.

Der Minister redet ja mal als Wissenscha­ftler, mal als Minister und mal als Abgeordnet­er. Bleibt das so oder sind Sie bald nur noch Minister?

Das muss so bleiben. Ein Wissenscha­ftler im Ministeram­t ist gut beraten, auch weiterhin wissenscha­ftliche Erkenntnis­se zur Grundlage seiner Arbeit zu machen. Davon bin ich mehr denn je überzeugt.

 ?? ??

Newspapers in German

Newspapers from Germany