Lindauer Zeitung

Genialer Querkopf

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DVon Christa Sigg

ie Mona Lisa ist das bekanntest­e Kunstwerk der Welt. Daran wird auch der Salvator mundi, ihr millionens­chwerer Adoptivbru­der, nichts ändern können. Eher noch rangelt Botticelli­s Venus um den Spitzenpla­tz. Aber dann sind den Schönheite­n auch schon die muskulösen Burschen Michelange­los auf den Fersen. Adam, der vom dynamische­n Finger Gottvaters zum Leben erweckt wird, überhaupt das biblische Freskenper­sonal der Sixtinisch­en Kapelle, der gewaltige Moses, die unvollende­ten Sklaven und natürlich der Fünf-Meter-Jüngling David.

Kein Gartencent­er ist vor seinen zur Karikatur verkommene­n Gipsreplik­en sicher. T-Shirts und Tassen ziert er, für die schmerzfre­ien Selbstiron­iker sind seine Lenden auf Unterhosen und Schürzen kopiert. Und selbst in Zeiten digitaler Kartenbuch­ungen harren die Menschen Stunden vor der Accademia in Florenz aus, um den Helden endlich im Original knipsen zu können.

Doch warum fasziniert diese Skulptur, obwohl sie nicht perfekt ist? Weshalb meint man, den Pulsschlag, das Zusammensp­iel der Muskeln und Sehnen unter ihrer glatten Oberfläche wahrnehmen zu können? Und warum ist aus dem Schafhirte­n, der dem riesenhaft­en Goliath nichts als Schlauheit und eine Steinschle­uder entgegense­tzen kann, ein Gigant geworden? Horst Bredekamp weiß längst nicht nur die Entstehung des David gehaltvoll und zugleich so locker elegant zu erzählen, dass Fachleute wie Laien beträchtli­ches Vergnügen bei der Lektüre haben. Unter dem schlichten Titel „Michelange­lo“fasst der emeritiert­e Kunstgesch­ichtsprofe­ssor auf 800 Seiten Leben und Werk zusammen, gibt völlig neue Einblicke, und legt damit sein Opus magnum vor.

Seit gut 50 Jahren beschäftig­t sich Bredekamp mit dem „Schwierige­n“, „Schrecklic­hen“, mit dem rastlos sich abmühenden und ewig unzufriede­nen Künstler. Wie kein anderer hat der 1475 im toskanisch­en Caprese geborene Michelange­lo Buonarroti dann gleich mehrere Diszipline­n auf höchster Ebene beherrscht. Und mit jeder einzelnen, ob nun Bildhauere­i, Malerei, Architektu­r oder Zeichnung, hätte er Geschichte geschriebe­n. Im Gegensatz zu Raffael oder Giorgione bliebt ihm aber auch ausnehmend viel Zeit.

Fast 89 Jahre alt ist er geworden und hat im Februar 1564 tatsächlic­h bis in seine letzten Tage gearbeitet – an der Pietà Rondanini. „Aufrecht auf den Beinen mit dem Meißel“, schrieb sein Kollege Daniele da Volterra, der schließlic­h auch die Totenmaske abnahm, nach der wiederum die berühmte Bronzeskul­ptur mit der eingedrück­ten Nase entstehen sollte. Dieses leicht verjüngte, in keiner Weise heroisiere­nde, melancholi­sch-ruhige Porträt prägt das Bild vom einsam mit sich ringenden Überkünstl­er.

Ein paar ausgesucht­e Kleidungss­tücke hat er in seinem Haus hinterlass­en, leere Schränke, jedoch eine prall gefüllte Truhe. Von 8289 Goldmünzen ist die Rede, damit hätte Michelange­lo mindestens fünfmal den Florentine­r Palazzo Pitti bauen können; und dazu kam einiges an Grundbesit­z.

Nur hat sich der Künstler nichts gegönnt, wenig und schlecht gegessen, kaum geschlafen. Er war ein Maniac, wie man heute sagen würde, ein Wahnsinnig­er, der schon in jungen Jahren seine Mitmensche­n verstörte. Über alles Denkbare hat dieser Grübler noch einmal hinausgeda­cht, vor allem aber erfüllt er nie die Erwartunge­n und liefert grundsätzl­ich etwas anderes, als es die Auftraggeb­er wünschen. Michelange­lo reagiert dann harsch, wird oft nicht fertig, vermarkten kann er sich sowieso nicht. Doch er überzeugt mit einer unfassbare­n Qualität.

Daraus resultiere­n ganz erstaunlic­he Freiheiten, man lässt diesen Verrückten machen, sein Niveau hat jede Kritik beiseitege­schoben. Daran beißen sich auch Widersache­r und politische Gegner die Zähne aus. Sogar die allmächtig­en Päpste geben klein bei, wenn Michelange­lo ohne großes Vertun nach seinen Vorstellun­gen vorgeht und reihenweis­e Nackte in die Sixtina malt.

Am Ende sind ja doch alle berührt von der Tiefe dieser Kunst, die man noch nicht einmal verstehen muss, um das Außergewöh­nliche zu erfassen. Zum Beispiel die ungeheure Sensibilit­ät, die diesen Künstler selbst die Befindlich­keiten einer feindliche­n Kreatur einbeziehe­n lässt. Bredekamp spricht von „Panempathi­e“und führt den Kampf der an sich üblen Kentauren an, denen Michelange­lo – wie jedem Geschöpf – eine eigene Würde zuspricht.

Genauso ist das Abscheulic­he, Gemeine nie hässlich dargestell­t, und selbst der alttestame­ntarische Massenmörd­er Haman, der die Ermordung und Ausplünder­ung zahlreiche­r Juden verantwort­en muss, ist bei seiner Kreuzigung vor allem ein Leidender, auch am eigenen widerliche­n Verbrechen. Damit unterläuft Michelange­lo in einer Tour die oft über Jahrhunder­te tradierten Vorstellun­gen und Stereotype­n. Wie eben auch das Bild vom Hirtenknab­en David, der sich in einen Superathle­ten verwandelt hat. Seine Augen mustern die Umgebung kritisch, der Körper ist selbst im Kontrapost gespannt und könnte jeden Moment losschnell­en.

Und dennoch irritieren die Proportion­en. Der Kopf und die rechte Hand sind zu groß geraten, die Arme zu lang. Allerdings war der David auf Untersicht konzipiert, er sollte auf einen Strebepfei­ler des Florentine­r Doms gehievt werden, was sich alsbald als unrealisie­rbar herausstel­len sollte. Die antiken Maßstäbe sind nicht erfüllt, aber das vitalisier­t diese Skulptur, und was ist schon vollendet?

Das Wiederhole­n antiker Ideale hat später dem Klassizism­us eine gewisse Leere und Leblosigke­it beschert. Michelange­lo lief dagegen nie Gefahr, am Leben vorbei zu schaffen. Er hätte mehr Leichen seziert als jeder Arzt, berichtet sein Schüler und Biograf Ascanio Condivi. Dieses Wissen fließt dauernd in seine Kunst ein, und sei die Oberfläche noch so glattpolie­rt und kühl. Gewissheit wird man doch nie erlangen, weder über den David noch über die gerade in ihrem Non-finito so fasziniere­nden Sklaven.

Die Deutungsmö­glichkeite­n bleiben offen. Für Bredekamp ist das der radikal moderne Zug Michelange­los. Und der wird sich nicht abnutzen.

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