Probleme mit der neuen Lockerheit
Das „Cave-Syndrom“hat sich in der Pandemie entwickelt – Therapie kann helfen
- Nach Monaten der Kontaktarmut tun sich manche Menschen leicht, andere eher schwer mit der Rückkehr in ihr altes Sozialleben. Mit einer Krankheit hat das nicht zwangsläufig zu tun, obwohl die englische Bezeichnung „CaveSyndrom“(deutsch: Höhlen-Syndrom) für das Phänomen darauf schließen lassen könnte. Die Menschen brauchen eine gewisse Zeit, bis sie sich an die wiedergewonnene Freiheit gewöhnen, erklärt Dr. Sascha Hunner, Chefarzt der Panorama Fachklinik Scheidegg im Allgäu (Foto: privat) im Gespräch mit der „Schwäbischen Zeitung“. Bei einigen könne es dauerhafte Spuren im Verhalten hinterlassen – warum das nicht schlecht sein muss.
Was ist das Cave-Syndrom?
Das Cave-Syndrom beschreibt ein Verhalten, das sich bei Menschen bereits nach den ersten Lockerungen der Corona-Maßnahmen beobachten ließ. Anstatt sich wieder mit Kollegen, Freunden und Familie zu treffen, leben die Betroffenen weiter zurückgezogen.
„Es fällt ihnen schwer, aus dem Vorsichtsmodus zum gewohnten sozialen Miteinander zurückzukehren“, erklärt der Psychotherapeut. Das beschreibe der Begriff auch sehr gut, den der Mediziner in seiner Doppeldeutigkeit betont.
Woher stammt die Bezeichnung? Das Wort „cave“steht im Englischen für Höhle. In eine solche ziehen sich die Betroffenen in der Regel zurück – gemeint sind damit die eigenen vier Wände, erklärt Hunner. Doch auch im Lateinischen, der Sprache der Medizin, finde sich in der Übersetzung „Hüte dich“eine passende Entsprechung für das Verhalten.
Wodurch wird das Cave-Syndrom ausgelöst?
Die Vermeidung sozialer Kontakte in der Corona-Pandemie hat dazu geführt, dass sich das Cave-Syndrom entwickeln konnte – Isolation wurde zum Dauerzustand. „Vor einem Virus Angst zu haben, das allgegenwärtig ist und die Menschen extrem in ihren Freiräumen beschränkt, das ist nichts Überraschendes“, sagt der Psychotherapeut.
In Anbetracht dessen, dass sich die Gesellschaft über lange Zeit zum eigenen Schutz eingeschränkt hat, sei es sogar logisch, dass die antrainierte Angst nicht direkt wieder abgelegt werden kann. „Angst ist per se auch kein schädliches Gefühl“, sagt
Hunner. Die meisten Menschen hätten sich durch sie an die neue Situation angepasst.
Ein Beispiel des Mediziners: Jeder kennt das beklemmende Gefühl, das einen überkommt, wenn in einem älteren Spielfilm Menschen dicht gedrängt auf einer Party stehen – ohne Abstand und Maske. Dieses Gefühl beschreibe laut dem Psychotherapeuten gut, wie unheimlich schnell Menschen sich an neue Zustände gewöhnen.
Warum ist das Cave-Syndrom keine Krankheit?
Es geht um die Frage, ob das Phänomen nur pathologisches Verhalten beschreibt. Die Pandemie ist eventuell für manche Menschen auch eine Chance gewesen, davon Abstand zu nehmen, sich ständig in der Gesellschaft vernetzen zu müssen: „Ich würde also nicht behaupten, dass das Phänomen in jedem Fall krankhaft sein muss.“
Es brauche eine Rückumstellung – ein Lernen, dass die Rückkehr zur Normalität möglich ist, erklärt Hunner. Dafür müssten dem Gehirn neue Erfahrungen angeboten werden, auch wenn das für viele Menschen zunächst schwierig sein kann. Erst, wenn die Versuche scheitern, braucht es ärztliche Hilfe, um etwas gegen die Ängste zu tun.
Wann sollten sich Betroffene Hilfe suchen?
„Im Laufe des Sommers werden vermutlich einige Menschen merken, dass sie sich nicht mehr auf Veranstaltungen oder ins Freibad trauen und feststellen, dass das etwas ist, was sie so gar nicht wollen“, sagt der Arzt. Das sinnvollste Rezept ist laut Hunner zu versuchen, die Ängste, wie zuvor antrainiert, gezielt wieder zu verlernen.
Die Betroffenen sollten sich zunächst an eine Vertrauensperson wenden, wenn der soziale Rückzug ein gewisses Maß überschreitet. „Das Entscheidende ist der persönliche Leidensdruck“, fügt Hunner hinzu. Wenn auch mit der Unterstützung von Freunden und Familie die Rückkehr ins soziale Leben scheitert, dann sollten Betroffene Hilfe bei ihrem Hausarzt suchen. Er kann eine Empfehlung aussprechen oder mit medizinischer Expertise helfen.
Wer ist anfällig für das Cave-Syndrom?
Vorher psychisch gesunde Menschen werden nur in seltenen Fällen unter dem Cave-Syndrom leiden, erklärt Hunner. Besonders gefährdet sind Personen, die bereits vor der Corona-Pandemie eine gewisse Anfälligkeit für psychische Erkrankungen hatten. Zum Beispiel Menschen, die in einer Familie groß geworden sind, in der Ängste eine bedeutende Rolle spielten: „Ängste lernt man sehr schnell am Modell“, schildert der Arzt.
„Im Grunde bin ich überzeugt, dass das nur eine Verstärkung bestehender Ängste ist, und vermutlich keinen eigenen Begriff verdient hat“, sagt der Psychotherapeut. Es sei eine Beschreibung eines Phänomens, wie beim Burn-out.
„Das ist auch keine Diagnose, sondern eine Beschreibung eines depressiven Zustands, ausgelöst durch Erschöpfung. Außerdem müsse geprüft werden, ob sich das Phänomen nur auf den sozialen Rückzug beschränkt, ansonsten könnte als Krankheitsbild auch eine Depression hinter dem Cave-Syndrom stecken.
Wie kann eine Therapie Betroffenen helfen?
„Wir reden hier vermutlich von einer Phobie und dagegen ist in der Regel die kognitive Verhaltenstherapie eindeutig das Mittel der ersten Wahl“, sagt Hunner. Die Therapie hat eine hohe Erfolgsquote bei verschiedenen Phobien.
Es geht darum, an konkreten Problemen zu arbeiten und Lösungen für sie zu finden. Im konkreten Fall bedeute das, sich an gewisse soziale Interaktionen wieder anzunähern und sich wieder daran zu gewöhnen.
Im Gegensatz zur Psychoanalyse beschäftigt sie sich wenig mit der Vergangenheit. Die kognitive Verhaltenstherapie wird auch im Kampf gegen Depression, Essstörungen und Alkoholabhängigkeit eingesetzt.