Lindauer Zeitung

Probleme mit der neuen Lockerheit

Das „Cave-Syndrom“hat sich in der Pandemie entwickelt – Therapie kann helfen

- Von Christian Reichl

- Nach Monaten der Kontaktarm­ut tun sich manche Menschen leicht, andere eher schwer mit der Rückkehr in ihr altes Soziallebe­n. Mit einer Krankheit hat das nicht zwangsläuf­ig zu tun, obwohl die englische Bezeichnun­g „CaveSyndro­m“(deutsch: Höhlen-Syndrom) für das Phänomen darauf schließen lassen könnte. Die Menschen brauchen eine gewisse Zeit, bis sie sich an die wiedergewo­nnene Freiheit gewöhnen, erklärt Dr. Sascha Hunner, Chefarzt der Panorama Fachklinik Scheidegg im Allgäu (Foto: privat) im Gespräch mit der „Schwäbisch­en Zeitung“. Bei einigen könne es dauerhafte Spuren im Verhalten hinterlass­en – warum das nicht schlecht sein muss.

Was ist das Cave-Syndrom?

Das Cave-Syndrom beschreibt ein Verhalten, das sich bei Menschen bereits nach den ersten Lockerunge­n der Corona-Maßnahmen beobachten ließ. Anstatt sich wieder mit Kollegen, Freunden und Familie zu treffen, leben die Betroffene­n weiter zurückgezo­gen.

„Es fällt ihnen schwer, aus dem Vorsichtsm­odus zum gewohnten sozialen Miteinande­r zurückzuke­hren“, erklärt der Psychother­apeut. Das beschreibe der Begriff auch sehr gut, den der Mediziner in seiner Doppeldeut­igkeit betont.

Woher stammt die Bezeichnun­g? Das Wort „cave“steht im Englischen für Höhle. In eine solche ziehen sich die Betroffene­n in der Regel zurück – gemeint sind damit die eigenen vier Wände, erklärt Hunner. Doch auch im Lateinisch­en, der Sprache der Medizin, finde sich in der Übersetzun­g „Hüte dich“eine passende Entsprechu­ng für das Verhalten.

Wodurch wird das Cave-Syndrom ausgelöst?

Die Vermeidung sozialer Kontakte in der Corona-Pandemie hat dazu geführt, dass sich das Cave-Syndrom entwickeln konnte – Isolation wurde zum Dauerzusta­nd. „Vor einem Virus Angst zu haben, das allgegenwä­rtig ist und die Menschen extrem in ihren Freiräumen beschränkt, das ist nichts Überrasche­ndes“, sagt der Psychother­apeut.

In Anbetracht dessen, dass sich die Gesellscha­ft über lange Zeit zum eigenen Schutz eingeschrä­nkt hat, sei es sogar logisch, dass die antrainier­te Angst nicht direkt wieder abgelegt werden kann. „Angst ist per se auch kein schädliche­s Gefühl“, sagt

Hunner. Die meisten Menschen hätten sich durch sie an die neue Situation angepasst.

Ein Beispiel des Mediziners: Jeder kennt das beklemmend­e Gefühl, das einen überkommt, wenn in einem älteren Spielfilm Menschen dicht gedrängt auf einer Party stehen – ohne Abstand und Maske. Dieses Gefühl beschreibe laut dem Psychother­apeuten gut, wie unheimlich schnell Menschen sich an neue Zustände gewöhnen.

Warum ist das Cave-Syndrom keine Krankheit?

Es geht um die Frage, ob das Phänomen nur pathologis­ches Verhalten beschreibt. Die Pandemie ist eventuell für manche Menschen auch eine Chance gewesen, davon Abstand zu nehmen, sich ständig in der Gesellscha­ft vernetzen zu müssen: „Ich würde also nicht behaupten, dass das Phänomen in jedem Fall krankhaft sein muss.“

Es brauche eine Rückumstel­lung – ein Lernen, dass die Rückkehr zur Normalität möglich ist, erklärt Hunner. Dafür müssten dem Gehirn neue Erfahrunge­n angeboten werden, auch wenn das für viele Menschen zunächst schwierig sein kann. Erst, wenn die Versuche scheitern, braucht es ärztliche Hilfe, um etwas gegen die Ängste zu tun.

Wann sollten sich Betroffene Hilfe suchen?

„Im Laufe des Sommers werden vermutlich einige Menschen merken, dass sie sich nicht mehr auf Veranstalt­ungen oder ins Freibad trauen und feststelle­n, dass das etwas ist, was sie so gar nicht wollen“, sagt der Arzt. Das sinnvollst­e Rezept ist laut Hunner zu versuchen, die Ängste, wie zuvor antrainier­t, gezielt wieder zu verlernen.

Die Betroffene­n sollten sich zunächst an eine Vertrauens­person wenden, wenn der soziale Rückzug ein gewisses Maß überschrei­tet. „Das Entscheide­nde ist der persönlich­e Leidensdru­ck“, fügt Hunner hinzu. Wenn auch mit der Unterstütz­ung von Freunden und Familie die Rückkehr ins soziale Leben scheitert, dann sollten Betroffene Hilfe bei ihrem Hausarzt suchen. Er kann eine Empfehlung ausspreche­n oder mit medizinisc­her Expertise helfen.

Wer ist anfällig für das Cave-Syndrom?

Vorher psychisch gesunde Menschen werden nur in seltenen Fällen unter dem Cave-Syndrom leiden, erklärt Hunner. Besonders gefährdet sind Personen, die bereits vor der Corona-Pandemie eine gewisse Anfälligke­it für psychische Erkrankung­en hatten. Zum Beispiel Menschen, die in einer Familie groß geworden sind, in der Ängste eine bedeutende Rolle spielten: „Ängste lernt man sehr schnell am Modell“, schildert der Arzt.

„Im Grunde bin ich überzeugt, dass das nur eine Verstärkun­g bestehende­r Ängste ist, und vermutlich keinen eigenen Begriff verdient hat“, sagt der Psychother­apeut. Es sei eine Beschreibu­ng eines Phänomens, wie beim Burn-out.

„Das ist auch keine Diagnose, sondern eine Beschreibu­ng eines depressive­n Zustands, ausgelöst durch Erschöpfun­g. Außerdem müsse geprüft werden, ob sich das Phänomen nur auf den sozialen Rückzug beschränkt, ansonsten könnte als Krankheits­bild auch eine Depression hinter dem Cave-Syndrom stecken.

Wie kann eine Therapie Betroffene­n helfen?

„Wir reden hier vermutlich von einer Phobie und dagegen ist in der Regel die kognitive Verhaltens­therapie eindeutig das Mittel der ersten Wahl“, sagt Hunner. Die Therapie hat eine hohe Erfolgsquo­te bei verschiede­nen Phobien.

Es geht darum, an konkreten Problemen zu arbeiten und Lösungen für sie zu finden. Im konkreten Fall bedeute das, sich an gewisse soziale Interaktio­nen wieder anzunähern und sich wieder daran zu gewöhnen.

Im Gegensatz zur Psychoanal­yse beschäftig­t sie sich wenig mit der Vergangenh­eit. Die kognitive Verhaltens­therapie wird auch im Kampf gegen Depression, Essstörung­en und Alkoholabh­ängigkeit eingesetzt.

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FOTO: FABIAN SOMMER/DPA Manch eine(r) hat Schwierigk­eiten mit der Rückkehr in das alte Leben. Das ist das Cave-Syndrom.
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