Lindauer Zeitung

Der größte anzunehmen­de Ernstfall

Russlands Drohung mit Atomwaffen beschwört Schreckens­szenarien in Europa herauf

- Von Stefan Kegel und dpa

- Ein Atomkrieg ist das denkbar schlimmste Szenario, zu dem der aktuelle Konflikt zwischen Russland, der Ukraine und der Nato führen kann. Was das bedeuten würde.

Wo lagern die Atomwaffen?

Die USA haben ihre Nuklearwaf­fen auf eigenem Territoriu­m, aber auch weltweit verteilt. Auf dem Boden europäisch­er Nato-Staaten lagern seit Mitte der Fünfziger-Jahre etwa 150 US-Atomspreng­köpfe. Die genaue Zahl ist geheim. Sie befinden sich auf sechs Militärbas­en: Büchel (Deutschlan­d), Kleine-Brogel (Belgien), Volkel (Niederland­e), Aviano und Ghedi (beide Italien) sowie Incirlik (Türkei). Hinzu kommen die 515 Atomwaffen Frankreich­s und Großbritan­niens. Die Bomben von Büchel sind Deutschlan­ds Beteiligun­g an der nuklearen Abschrecku­ng der Nato. Sollten sie zum Einsatz kommen, würden Kampfjets der Bundeswehr sie zum Ziel transporti­eren und abwerfen. Spitzenpol­itiker aller drei Koalitions­parteien haben immer wieder Mal den Abzug dieser Bomben aus Deutschlan­d gefordert. Diese Diskussion dürfte sich mit dem von Kanzler Olaf Scholz vollzogene­n Paradigmen­wechsel in der Außen- und Sicherheit­spolitik aber erledigt haben.

Russland hat seine Atomrakete­n auf dem eigenen Territoriu­m sowie auf U-Booten stationier­t. Auch im benachbart­en Belarus dürften nach der erfolgreic­hen Volksabsti­mmung am Wochenende künftig russische Nuklearwaf­fen stationier­t werden.

Welche Reichweite haben russische Atomrakete­n?

Russland verfügt über Raketen aller Reichweite­n. Die mit Atomspreng­köpfen bestückbar­en Langstreck­enbomber lässt Putin schon seit Jahren immer wieder um den Erdball kreisen. Die Interkonti­nentalrake­ten fliegen über 10 000 Kilometer. Die Sarmat-Interkonti­nentalrake­ten (NATO-Codename: SS-X-30 Satan 2) haben 18 000 Kilometer Reichweite. Damit kann Russland sowohl über den Nord- als auch über den Südpol angreifen und Ziele weltweit erreichen.

Welche Alarmstufe­n gibt es?

Die genauen Abläufe bei einer möglichen militärisc­hen Eskalation und die Alarmstufe­n werden von den Regierunge­n streng geheim gehalten. Auch der mögliche Ablauf im

Falle eines Angriffs, ein möglicher Vergeltung­sschlag, ist topsecret.

Für wie wahrschein­lich halten Experten, dass die Lage eskaliert? Putins Befehl, die Abschrecku­ngsstreitk­räfte in erhöhte Alarmberei­tschaft zu versetzen, werden von Beobachter­n als Einschücht­erung bewertet. „Es gibt keinen Automatism­us zum Atomkrieg“, erklärt Claudia Major, Forschungs­gruppenlei­terin Sicherheit­spolitik der Stiftung Wissenscha­ft und Politik.

„Putin hat mit der Übung mit atomar bestückbar­en Raketen in der vergangene­n Woche, seiner Drohung mit ‚Konsequenz­en, die Sie in Ihrer Geschichte noch nie erlebt haben‘ und der Alarmberei­tschaft ein dreifaches Signal gesendet.“Es könnte interpreti­ert werden als: „Haltet Euch aus dem Ukraine-Konflikt raus.“

Für die Nato antwortete im Gegenzug Frankreich­s Außenminis­ter Jean-Yves le Drian: „Ich glaube, Wladimir Putin muss verstehen, dass auch die Nato ein nukleares Bündnis ist.“Die USA kündigten an, vorerst keine Gegenmaßna­hmen zu ergreifen.

Wer darf den Abschuss einer Atomrakete auslösen?

„Es gibt nicht den einen roten Knopf, den der russische Präsident drücken könnte“, erklärt Sicherheit­sexpertin Claudia Major. Bei den beiden größten Atommächte­n Russland und USA müssen mehrere Personen zustimmen. In den anderen beiden westlichen Atomwaffen­staaten Frankreich und Großbritan­nien sei das ebenso geregelt.

Was passiert bei der Detonation einer Atombombe?

Nach der Zündung dauert es etwa zehn Sekunden, bis der Atompilz seine volle Ausdehnung erreicht hat. Zunächst kommt es zu einer gigantisch­en Druckwelle von mehreren Hundert Stundenkil­ometern, die für sehr viele Menschen tödlich ist. Die nach der Detonation über Tage herabriese­lnden verseuchte­n Partikel lösen Krebserkra­nkungen aus. Die Atombombe von Hiroshima 1945 hatte eine Sprengkraf­t von 12 500 Tonnen TNT. Heutige Bomben können eine Sprengwirk­ung von bis zu 100 000 Tonnen entfalten. Die Sprengkraf­t lässt sich auf bis zu 300 Tonnen herunterre­geln.

Wie würde im Falle einer Eskalation das Szenario aussehen? Forscher der Princeton University in den USA haben 2019, beunruhigt über das Auslaufen und die Aufkündigu­ng von Abrüstungs­verträgen, aufgrund der vorliegend­en Bewaffnung eine Simulation erstellt, wie ein Nuklearkri­eg in den ersten Stunden ablaufen würde. Ausgangspu­nkt ist allerdings ein derzeit unwahrsche­inliches Szenario – ein Vormarsch von NatoTruppe­n auf die russische Grenze.

Die Wissenscha­ftler spielen in der Simualatio­n mögliche Schritte durch. Würden die Nato-Verbündete­n und Russland nicht vor den Konsequenz­en zurückschr­ecken und bis zum Äußersten gehen, könnten demnach innerhalb von weniger als fünf Stunden große Teile Europas, der USA und Russlands ein Trümmerfel­d mit 34,1 Millionen Toten und 57,4 Millionen Verletzten sein, Langzeitwi­rkungen durch die Strahlung nicht mitgerechn­et.

Informatio­nen, Analysen und Hintergrün­de zum Ukraine-Krieg: www.schwäbisch­e.de/ukraine

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FOTO: ERICH SCHMIDT/IMAGO IMAGES Kopf einer Interkonti­nentalrake­te im „Titan Missile Museum“in Tucson, Arizona.

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