Lindauer Zeitung

„Corona war ein Verzicht, der nicht gewollt war. Fasten dagegen geschieht aus einer Freiheit heraus.“

- Von Dirk Grupe

Kohlsuppe! Wenn Cornelia Frey früher in den Spiegel schaute, kam ihr oft nur dieser eine Gedanke: Kohlsuppe. Genauer gesagt: Kohlsuppen­diät und das damit einhergehe­nde Verspreche­n – „Sieben Kilo pro Woche verlieren!“Damals ist Frey 17, 18 Jahre alt und wiegt 130 Kilo. Also stellt sie sich an den Herd und kocht: Kohlsuppe. Bis zum Abwinken. Es dauert allerdings nicht lange, da verbindet sie mit der Flüssignah­rung noch einen ganz anderen Begriff: Jo-Jo-Effekt. „Klar habe ich jedes Mal abgenommen“, sagt sie, „danach dauerte es aber nicht lange, und ich habe noch mehr gewogen als vorher.“Wie viele Diäten sie zu dieser Zeit ausprobier­t hat, weiß Frey nicht mehr, aber es waren viele, bis sie auf einen Artikel stößt: „Fasten – starte in ein neues Leben“. Diese Zeile sollte sie nicht mehr loslassen. „Das hat mich fasziniert. Das war genau das, was ich wollte. Einen Neuanfang. Reset.“Alles auf Anfang. Inzwischen ist Frey 31 Jahre alt, seit mehr als zehn Jahren wiegt sie konstant um die 80 Kilo und sagt: „Fasten ist so viel mehr als nur abnehmen.“

Mit Fasten haben die Menschen lange Weltentsag­ung und Askese nach Vorbild des Klosterleb­ens verbunden, freudlos und karg in der Vorstellun­g. Diese Zeiten sind jedoch vorbei. So haben laut einer aktuellen Forsa-Umfrage knapp zwei Drittel der Deutschen schon mindestens einmal im Jahr für mehrere Wochen Genussmitt­el weggelasse­n. Spitzenrei­ter sind dabei Alkohol und Süßigkeite­n, praktizier­t wird aber auch Fleisch-Fasten, Auto-Fasten, Social-Media-Fasten, Netflix-Fasten, Verpackung­smüll-Fasten, KlimaFaste­n oder Intervallf­asten (der periodisch­e Verzicht auf Nahrung), was schon einige Zeit im Trend liegt. Es mag zwar erstaunen, doch trotz der Entsagunge­n während der Pandemie erkennen nicht wenige im Verzicht einen Vorteil und Gewinn, für das Äußere und wohl noch mehr für das Innenleben. Für Cornelia Frey war dieser Weg alles andere als vorgezeich­net. Die Arzthelfer­in lebt in Weingarten und arbeitet in Ravensburg, stammt aber aus der Nähe von Neu-Ulm, also Bayern. „Da gehört ein g’scheites Vesper schon zum Morgen“, erklärt sie. Salat dient der Heranwachs­enden damals allenfalls als Beilage, den Durst löscht sie mit Limonade und Apfelsafts­chorle. „Gesunde Ernährung war für mich ein Wurstbrot.“Entspreche­nd skeptisch reagieren Freunde und Familie auf ihre Ankündigun­g, sie wolle nun heilfasten nach Buchinger. „Die dachten, ich mache die tausendste

Diät.“Und werde zum tausendste­n Mal scheitern. Auch sie selbst hegt Zweifel, klingt „Heilfasten“für eine 18-Jährige, die sexy und attraktiv sein will, doch eher nach Reformhaus und Rollator. Dass sie es trotzdem probiert, liegt an der seltenen Chance: „Ich kann bei null anfangen.“

Sieben Tage hat sie bei diesem ersten Versuch gefastet. Begonnen mit einem Einführung­stag bei leichter Kost, den Darm mit Glaubersal­z gereinigt, tagelang Kräutertee, Früchtetee und Gemüsebrüh­e zu sich genommen, um danach allmählich wieder auf feste Nahrung umzusteige­n. „Die ersten Tage waren schlimm“, erzählt sie, „weil ich mir nicht sicher war, ob das der richtige Weg ist.“Schlecht gelaunt fühlt sie sich auch beim Abendessen mit der

Familie, während die anderen Aufschnitt und Schlachtpl­atte schlemmen, schlürft Frey Gemüsebrüh­e und leidet unter Fressneid. Damit nicht genug, am zweiten Tag quälen sie Kopfschmer­zen, verbunden mit einem großen Fragezeich­en: „Warum mache ich das überhaupt?“Am dritten Tag jedoch verschwind­en die Kopfschmer­zen. Und mit ihnen auch das Hungergefü­hl. Frey sprüht plötzlich vor Energie. Sie fühlt sich gut.

Seitdem fastet sie zweimal im Jahr, im Frühjahr und im Herbst. Sie hat gelernt, auf ihre Gefühle und auf ihr Befinden zu horchen. Ist während der Zeit des Verzichts manchmal schwungvol­l, will rennen, ins Fitnessstu­dio und unter Menschen. Viel öfter aber sucht sie Stille und Natur, hat durch das Fasten Yoga und Meditation für sich entdeckt. Wird in dieser Zeit ruhig und innerlich entspannt. „Man denkt mehr über sich nach und hat den Drang zur Veränderun­g.“

Dazu gehört auch die Ernährung. Und ganz simple Fragen wie: „Wovon kann ich viel essen, ohne gleich wieder Hunger zu bekommen und ohne dick zu werden?“So hat Frey das Fasten als Ausgangspu­nkt genommen, um ihre Ernährung, aber auch ihren Lebensstil dauerhaft zu verändern. „Ich finde nur schade, es auf das Abnehmen zu reduzieren.

Heilfasten gibt einem diese Ruhe und Kraft, um über sich selber zu reflektier­en.“

Dem kann Leonard Wilhelmi, Geschäftsf­ührer der Klinik Buchinger Wilhelmi in Überlingen, nur zustimmen. Der 34-Jährige ist der Urenkel von Otto Buchinger, dem Begründer des Heilfasten­s. Wilhelmi weiß, wie sich die Sicht in den vergangene­n Jahrzehnte­n verändert hat, weg vom Fokus auf das reine Abnehmen, hin zu dem Wunsch nach einem erfüllten Leben. „Massiv Übergewich­tige wie in den 1970er-Jahren kommen kaum noch zu uns.“Eher sind es Normalgewi­chtige, die Erholung und Entspannun­g suchen, die es sich leisten können, an diesem exklusiven Ort Risikofakt­oren zu senken und präventiv etwas für ihre Gesundheit zu tun. Wirkt Heilfasten doch bei Störungen des Stoffwechs­els, bei Bluthochdr­uck, Diabetes und Asthma. Oder auch bei Rheuma, unter dem Otto Buchinger litt, woraufhin er damals die Anwendung entwickelt­e.

Buchinger wusste auch schon um die über Körper und Krankheit hinausgehe­nde Wirkung. „Der Wunsch ist, dass jeder, der hierherkom­mt, in sich geht und die Zeit nutzt, um geistig zur Ruhe zu kommen“, sagt sein Urenkel. Und erst recht in Zeiten einer Pandemie. „Viele versuchen, den Stress zu reduzieren, der durch Corona gekommen ist“, erklärt Wilhelmi. „Fasten kann ein Weg sein, die Uhren wieder auf null zu stellen.“

Auch Pastoralre­ferent Michael Schindler, der in Ravensburg das Haus der katholisch­en Kirche leitet, sieht in der Pandemie, die für alle Belastung und Verzicht bedeutete, kein Hindernis zum Fasten. „Corona war ein Verzicht, der nicht gewollt war. Fasten dagegen geschieht aus einer Freiheit heraus“, erklärt Schindler, der von geistiger Erneuerung, von Umkehr und von Buße spricht.

Praktisch jede Religion kennt das Fasten, es bildet eine der fünf islamische­n Säulen, die christlich­e Tradition wiederum beruht auf der jüdischen. „Die religiöse Dimension des Fastens bedeutet eine Form der Konzentrat­ion“, sagt Pastoralre­ferent

Schindler: „Was ist das Wesentlich­e? Was führt mich zum Kern meines Lebens?“Dass diese Fragen zeitlos und bedeutend bleiben, zeigte sich vergangene­s Jahr, als sich die Anmeldezah­len zur Fastenwoch­e der katholisch­en Kirche Ravensburg plötzlich verdoppelt­en. Zwar begünstigt durch das Onlineange­bot (Infos für dieses Jahr: www.kath-rv.de), aber auch durch die Möglichkei­t, in Krisenzeit­en den eigenen Weg zu überdenken.

„Einer der Stressfakt­oren der Gesellscha­ft ist ja, dass ich immer entscheide­n muss“, sagt Schindler. Wenn ich essen gehe, wenn ich mich verabrede, wenn ich Freizeit oder Finanzen plane. „Ich muss dauernd aussuchen und auswählen.“Im Positiven wie im Negativen, im Kleinen wie im Großen, im Privaten wie im Berufliche­n. „Das ist einerseits eine Freiheit, anderseits ein wahnsinnig­er Stress.“Wenn der Mensch dagegen Dinge weglässt, wird er sensibler und dünnhäutig­er, wird wacher für Mitmensche­n und für eingeschle­ifte Muster. Wird in Ruhe und Enthaltsam­keit auf sich selbst zurückgewo­rfen. Lernt die Kunst des Loslassens und der Gelassenhe­it. Oder wie der Theologe Meister Eckhardt sagt: „Suche dich selbst, und wenn du dich findest, lass dich.“

Cornelia Frey folgt keinem Glauben, sie fastet ohne religiösen Hintergrun­d oder Meister Eckhardt, in dessen Worten sie sich womöglich trotzdem wiederfind­et. „Das Fasten hat mich stärker gemacht“, sagt sie. „Weil ich das für mich mache, das ist meine Zeit.“In der auch sie ihre Gewohnheit­en und ihren Alltag reflektier­t. Seit zwei Jahren verzichtet sie auf Fleisch, kauft keine Billigklam­otten mehr, fährt weniger Auto, sie achtet mehr auf sich und ihre Umwelt. Ohne dabei dogmatisch zu sein. So steht unter ihrem Instagram-Account

zum Thema Fasten der ironisch gemeinte Satz: „Noch eins von diesen Ökokindern“, den sie so erklärt: „Vegane Klamotten tragen, kein Fleisch mehr essen, jeder geht gegen irgend etwas demonstrie­ren; viele sind genervt von solchen Leuten – und jetzt bin ich auch noch so eine“, sagt sie und muss lachen.

Auf ihrem Account klinken sich Menschen ein, die ebenfalls fasten und Austausch suchen. Die davon berichten, wie sie während dieser Zeit alles stärker wahrnehmen, intensiver riechen und schmecken, sehen und atmen, die manchmal frieren oder denen kurzzeitig schwindeli­g wird, die ihre Erfolge beim Gewichtsve­rlust teilen wollen. Ihnen kann Cornelia Frey durch ihre Erfahrung etwas Orientieru­ng geben, mehr nicht. Von missionari­schem Eifer in Fragen der Lebensführ­ung ist sie ohnehin nicht getrieben, im Gegenteil. „Mit dem Finger auf etwas zeigen finde ich schlimm“, bei Freunden und Fremden sowieso, allein bei der Familie hakt sie bisweilen vorsichtig nach, etwa: „Mutter, ein Hühnchen für 1,50 Euro? Überleg doch mal.“

Nicht so leicht ist es allerdings für ihren Opa, seit sie sich vegetarisc­h ernährt. Ein Gespräch dazu lief neulich so ab: „Conny, sollen wir mal wieder zusammen vespern?“„Ja, gerne.“„Fleisch isst du ja nicht, aber ich bringe dir Landjäger mit.“„Opa, das ist doch auch Fleisch.“„Aber Presssack geht schon?“„Nein.“„Und Salami?“„Nein.“„Lebst du eigentlich noch?“Und als der Senior erfährt, dass sie ihr Brot selbst backt, fragt er: „Hast du kein Geld mehr? Soll ich dir welches geben?“Darüber kann Cornelia Frey herzlich lachen, ihren Opa liebt sie, der muss sich nicht ändern, der muss nicht fasten und verzichten. Sie jedoch hat das geschafft, was ihr so lange eine Sehnsucht war: einen Neuanfang.

Pastoralre­ferent Michael Schindler

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FOTOS: PRIVAT „Fasten ist so viel mehr als nur abnehmen“, sagt Cornelia Frey, die Wirkung ist allerdings unverkennb­ar. Die heute 31-Jährige auf einem Foto neueren Datums (rechts) und links vor etwas mehr als zehn Jahren.
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