Der weite Weg in die EU
Ukraine wünscht sich rasche Aufnahme in das Bündnis – Wie die Chancen darauf stehen
- In einer Sondersitzung demonstrierte das Europäische Parlament am Dienstag seine Solidarität mit der Ukraine. Staatspräsident Wolodymyr Selenskyj war per Video zugeschaltet und sprach so emotional, dass dem Dolmetscher fast die Stimme versagte. „Wir sind die Europäische Union, und die Europäische Union wird sehr viel stärker mit uns sein“, rief Selenskyj den Abgeordneten zu. „Wir lassen unser Leben für den Wunsch, genauso frei zu sein wie Sie frei sind. Beweisen Sie, dass Sie auf unserer Seite stehen.“
„Die Ukraine gehört zu uns. Wir wollen sie dabei haben“, hatte Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen am Sonntag zu der Forderung Selenskyjs gesagt, sein Land im Schnellverfahren in die Gemeinschaft aufzunehmen. Am Dienstag stellte er den offiziellen Antrag. Ratspräsident Charles Michel allerdings dämpfte den Enthusiasmus. „Die Ukraine bemüht sich seit Langem um Mitgliedschaft“, erinnerte er. Es gebe aber „verschiedene Meinungen und Sensibilitäten innerhalb der EU“. Erst nach einer Stellungnahme der EUKommission könne der Rat eine Entscheidung über den Kandidatenstatus treffen. Das Assoziationsabkommen zwischen der EU und der Ukraine solle gestärkt werden.
Dieses Abkommen spielt in dem Drama um die schrittweise Loslösung der Ukraine aus dem russischen Machtblock eine große Rolle.
Seit der Orangen Revolution im Herbst 2004 bemüht sich das Land um eine engere Bindung an Europa und die Nato. Die überraschende Weigerung des damaligen russlandfreundlichen Präsidenten Viktor Janukowitsch, das Abkommen zu unterzeichnen, führte 2014 zur Absetzung Janukowitschs und zur Wahl von Petro Poroschenko. Zuvor war bereits der politische Teil des Abkommens in Kraft gesetzt worden, danach unterschrieb der neue Präsident den wirtschaftlichen Teil.
Russland war damit mit seinem Versuch gescheitert, die Ukraine in eine Zollunion mit Belarus und Kasachstan zu drängen. Auch von der kurz zuvor erfolgten Annexion der Krim ließ sich die Mehrheit der
Ukrainer nicht umstimmen. Seither versucht das Land schrittweise, sich aus dem russischen Wirtschaftsblock zu lösen und zum Beispiel sein Stromleitungssystem auf die EUNorm umzustellen. Das Assoziationsabkommen soll durch „Vorbeitrittsförderung“in vielen Bereichen dazu beitragen, das Justizsystem, die Verwaltung, Wirtschaft und öffentliche Finanzen den europäischen Standards anzunähern. Erst wenn ein bestimmter Entwicklungsgrad erreicht ist, kann normalerweise der Beitrittsprozess beginnen.
Kapitel für Kapitel werden dann alle Bereiche abgearbeitet, die angeglichen werden müssen, um eine reibungslose Aufnahme in die EU zu gewährleisten. Das reicht von Umweltgesetzgebung
über Lebensmittelsicherheit bis zu rechtsstaatlichen Grundsätzen und Medienfreiheit. Nach der großen Erweiterungsrunde ab 2004, die 2013 mit dem Beitritt Kroatiens abgeschlossen wurde, hat sich die EU so stark in interne Streitigkeiten verstrickt, dass während der gesamten Kommissionszeit von Jean-Claude Juncker (2014-2019) ein kompletter Erweiterungsstopp verhängt wurde. Aktuell laufen die Beitrittsverhandlungen mit Serbien und Montenegro. Mit der Türkei liegen sie auf Eis. Mehrere Balkanstaaten möchten die Prozedur starten, werden aber durch das Veto einzelner EU-Länder blockiert. Kroatien hatte von der Antragstellung an gerechnet zehn Jahre warten müssen, bis es aus Sicht der EU endlich alle Voraussetzungen erfüllte.
Eine rasche Aufnahme der Ukraine scheint angesichts der prozeduralen Hürden und der erforderlichen Einstimmigkeit im Rat ausgeschlossen. Das Bemühen, Russland nicht weiter zu provozieren, dürfte bei den Überlegungen künftig keine Rolle mehr spielen. Aber groß ist die Sorge, sich neue Instabilität und in der Ostukraine einen erstarrten Konflikt in die Gemeinschaft zu holen. Zudem hat der seit Jahren schwelende Streit mit Ungarn und Polen um Fragen der Rechtsstaatlichkeit, liberale Familienwerte und Lastenteilung bei der Zuwanderung die EU-Mitglieder der „ersten Generation“sehr skeptisch gegenüber neuerlichen Erweiterungen gemacht.