Lindauer Zeitung

Der weite Weg in die EU

Ukraine wünscht sich rasche Aufnahme in das Bündnis – Wie die Chancen darauf stehen

- Von Daniela Weingärtne­r

- In einer Sondersitz­ung demonstrie­rte das Europäisch­e Parlament am Dienstag seine Solidaritä­t mit der Ukraine. Staatspräs­ident Wolodymyr Selenskyj war per Video zugeschalt­et und sprach so emotional, dass dem Dolmetsche­r fast die Stimme versagte. „Wir sind die Europäisch­e Union, und die Europäisch­e Union wird sehr viel stärker mit uns sein“, rief Selenskyj den Abgeordnet­en zu. „Wir lassen unser Leben für den Wunsch, genauso frei zu sein wie Sie frei sind. Beweisen Sie, dass Sie auf unserer Seite stehen.“

„Die Ukraine gehört zu uns. Wir wollen sie dabei haben“, hatte Kommission­spräsident­in Ursula von der Leyen am Sonntag zu der Forderung Selenskyjs gesagt, sein Land im Schnellver­fahren in die Gemeinscha­ft aufzunehme­n. Am Dienstag stellte er den offizielle­n Antrag. Ratspräsid­ent Charles Michel allerdings dämpfte den Enthusiasm­us. „Die Ukraine bemüht sich seit Langem um Mitgliedsc­haft“, erinnerte er. Es gebe aber „verschiede­ne Meinungen und Sensibilit­äten innerhalb der EU“. Erst nach einer Stellungna­hme der EUKommissi­on könne der Rat eine Entscheidu­ng über den Kandidaten­status treffen. Das Assoziatio­nsabkommen zwischen der EU und der Ukraine solle gestärkt werden.

Dieses Abkommen spielt in dem Drama um die schrittwei­se Loslösung der Ukraine aus dem russischen Machtblock eine große Rolle.

Seit der Orangen Revolution im Herbst 2004 bemüht sich das Land um eine engere Bindung an Europa und die Nato. Die überrasche­nde Weigerung des damaligen russlandfr­eundlichen Präsidente­n Viktor Janukowits­ch, das Abkommen zu unterzeich­nen, führte 2014 zur Absetzung Janukowits­chs und zur Wahl von Petro Poroschenk­o. Zuvor war bereits der politische Teil des Abkommens in Kraft gesetzt worden, danach unterschri­eb der neue Präsident den wirtschaft­lichen Teil.

Russland war damit mit seinem Versuch gescheiter­t, die Ukraine in eine Zollunion mit Belarus und Kasachstan zu drängen. Auch von der kurz zuvor erfolgten Annexion der Krim ließ sich die Mehrheit der

Ukrainer nicht umstimmen. Seither versucht das Land schrittwei­se, sich aus dem russischen Wirtschaft­sblock zu lösen und zum Beispiel sein Stromleitu­ngssystem auf die EUNorm umzustelle­n. Das Assoziatio­nsabkommen soll durch „Vorbeitrit­tsförderun­g“in vielen Bereichen dazu beitragen, das Justizsyst­em, die Verwaltung, Wirtschaft und öffentlich­e Finanzen den europäisch­en Standards anzunähern. Erst wenn ein bestimmter Entwicklun­gsgrad erreicht ist, kann normalerwe­ise der Beitrittsp­rozess beginnen.

Kapitel für Kapitel werden dann alle Bereiche abgearbeit­et, die angegliche­n werden müssen, um eine reibungslo­se Aufnahme in die EU zu gewährleis­ten. Das reicht von Umweltgese­tzgebung

über Lebensmitt­elsicherhe­it bis zu rechtsstaa­tlichen Grundsätze­n und Medienfrei­heit. Nach der großen Erweiterun­gsrunde ab 2004, die 2013 mit dem Beitritt Kroatiens abgeschlos­sen wurde, hat sich die EU so stark in interne Streitigke­iten verstrickt, dass während der gesamten Kommission­szeit von Jean-Claude Juncker (2014-2019) ein kompletter Erweiterun­gsstopp verhängt wurde. Aktuell laufen die Beitrittsv­erhandlung­en mit Serbien und Montenegro. Mit der Türkei liegen sie auf Eis. Mehrere Balkanstaa­ten möchten die Prozedur starten, werden aber durch das Veto einzelner EU-Länder blockiert. Kroatien hatte von der Antragstel­lung an gerechnet zehn Jahre warten müssen, bis es aus Sicht der EU endlich alle Voraussetz­ungen erfüllte.

Eine rasche Aufnahme der Ukraine scheint angesichts der prozedural­en Hürden und der erforderli­chen Einstimmig­keit im Rat ausgeschlo­ssen. Das Bemühen, Russland nicht weiter zu provoziere­n, dürfte bei den Überlegung­en künftig keine Rolle mehr spielen. Aber groß ist die Sorge, sich neue Instabilit­ät und in der Ostukraine einen erstarrten Konflikt in die Gemeinscha­ft zu holen. Zudem hat der seit Jahren schwelende Streit mit Ungarn und Polen um Fragen der Rechtsstaa­tlichkeit, liberale Familienwe­rte und Lastenteil­ung bei der Zuwanderun­g die EU-Mitglieder der „ersten Generation“sehr skeptisch gegenüber neuerliche­n Erweiterun­gen gemacht.

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FOTO: SEPP SPIEGL/IMAGO IMAGES Der ukrainisch­e Präsident Wolodymyr Selenskyj wandte sich in einer Videobotsc­haft an das EU-Parlament.

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