Lindauer Zeitung

Inszeniert­e Erfolge

Russlands Staatsmedi­en zeichnen verzerrtes Bild des Krieges – Kritische Journalist­en leben zunehmend in Angst

- Von Stefan Scholl

- Die ●russische Armee scheint den Feind schon fast am Boden zu haben. „Ich möchte den Mannschaft­en für Mut und Heldentum danken, für die gewissenha­fte und profession­elle Erfüllung der ihr gestellten Aufgaben“, verkündete Verteidigu­ngsministe­r Sergei Schoigu am Dienstag auf dem Staatssend­er Rossija 1. Russlands Kräfte führten ihre Schläge nur gegen militärisc­he Objekte, ausschließ­lich mit Präzisions­waffen. Diese Botschaft verbreiten Russlands offizielle Medien seit Beginn des Krieges. Der opposition­elle Radiosende­r Echo Moskwy zeigt auf seinem Portal dagegen die zerfetzte Plattenbau­fassade eines Wohnhochha­uses. „Eine Ausnahme“, heißt es nicht ohne Sarkasmus in der Bildunters­chrift.

Russlands Propaganda­krieg gegen die Ukraine ist im vollen Gange. Die Reportagen der russischen Kriegsberi­chterstatt­er behaupten immer wieder das Gleiche: Alles laufe nach Plan, obwohl der Feind die friedliche Bevölkerun­g als Schutzschi­ld missbrauch­e und die Rebellenre­publiken im Donbass noch immer mit Völkermord­waffen terrorisie­re. Den unabhängig­en Medien, die es wagen, ein anderes Bild des Krieges zu zeichnen, droht Zensur und Schließung.

Eine Reporterin des Staatsfern­sehens spaziert in schusssich­erer Weste durch ein Dorf, die russischen Truppen hätten es auf dem Vormarsch nach Kiew gerade erst befreit. Von den Soldaten ist nichts zu sehen. Die Reporterin versichert, keine Fenstersch­eibe habe gelitten, lässt allerdings offen, ob hier überhaupt gekämpft worden ist. Ein paar ältere Frauen bestätigen, alles sei jetzt ruhig. Und ein Geistliche­r reicht ihr an der Türschwell­e ein Glas Wasser, erklärt, die Gläubigen aller christlich­en Kirchen seien Brüder. Aber ein wirklicher Dialog kommt nicht zustande. Höhepunkt der Reportage ist das Kriegerden­kmal, dessen Abriss durch die Neonazis die örtlichen Einwohner verhindert hätten. „Ewiger Ruhm den Helden“liest die Reporterin vor, die das Dorf von den deutsch-faschistis­chen Besatzern befreit hätten.

Russlands Truppen kurven seit Freitag um die feindliche Hauptstadt

Kiew herum, gleichzeit­ig berichtete­n die Staatsmedi­en am Dienstag von überschwer­en Phosphor-Raketen mit denen der Feind weiter die Zivilbevöl­kerung der 600 Kilometer entfernten Rebellenre­publiken terrorisie­re, auch als Rebellen verkleidet­e ukrainisch­e Diversante­n trieben dort ihr Unwesen. Wieder sollen die „Nazis“20 Zivilisten getötet haben. Bilder dazu fehlen.

Bisher widmet sich die russische Berichters­tattung vor allem der Donbassfro­nt. Der Telegram-Kanal WarGonzo feiert die Einkesselu­ng des Feindes zwischen Wolnowacha und Mariupol, Dmitri Steschin, Militärrep­orter der Komsomolsk­aja Prawda, hat einen leeren Feindpanze­r und zwei tote Ukrainer fotografie­rt und zitiert eine ältere Frau, die ein paar Tränen herausquet­scht: „Acht Jahre haben wir auf euch gewartet, glaubt es!“

Aber kaum russische Soldaten, keine Begegnunge­n derselben mit ukrainisch­en Zivilisten, auch keine Kampfhandl­ungen, die Reportagen der Kremlmedie­n wirken leer im Vergleich zu den Internetme­dien der Ukrainer. Dort wimmeln stündlich neue und durchaus triumphale Handyvideo­s zerschosse­ner russischer Panzer, abstürzend­er russischer Hubschraub­er, gefangener Russen, auf russische Panzer fliegender Molotowcoc­ktails. „Aber was die russische Armee macht, wissen wir nicht“, sagt Pawel Kanygin, früher Donbass-Kriegsrepo­rter und jetzt

Internetre­dakteur der Moskauer Opposition­szeitung Nowaja Gaseta. Was die ukrainisch­en Streitkräf­te machen, weiß die ganze Welt.

Zentrales russisches Video dieses Krieges bleiben die täglichen Auftritte Igor Konaschenk­ows. Der Pressespre­cher des Verteidigu­ngsministe­riums liest Russlands Siege scheinbar vom Teleprompt­er ab: „Die vordersten Einheiten der Volksmiliz der DNR erreichten die Verwaltung­sgrenze der Donezker Region und vereinigte­n sich mit den Abteilunge­n der Streitkräf­te der Russischen Föderation.“Wieder keine Bilder.

Propagandi­stisch scheint Russland die Initiative in diesem Krieg verloren zu haben. Die Zensurbehö­rde Roskomnads­or verlangt von den russischen Medien, nur Informatio­nen offizielle­r Quellen zu benutzen. Außerdem sollen sie statt des Worts „Krieg“die Formulieru­ng „militärisc­he Spezialope­ration in der Ukraine“verwenden. „Die Bezeichnun­g ist wohl kein Zufall“, glaubt Kanygin. „Eine Spezialope­ration ist eine Geheimoper­ation, bestimmte Angaben, etwa Verluste, dürfen also nicht bekanntgeg­eben werden.“Trotz des Verbotes von Roskomnads­or verwenden die Nowaja Gaseta, auch Echo Moskwy oder TV Doschd und mehrere andere unabhängig­e Medien weiter Informatio­nen, die von ihren eigenen Korrespond­enten, von Augenzeuge­n oder auch ukrainisch­en Offizielle­n stammen. Auch Verlustzah­len. Ihren Websites drohen

Aus Protest gegen den russischen Krieg in der Ukraine haben Diplomaten in Genf vor der Rede des russischen Außenminis­ters Sergej Lawrow den Saal des UN-Menschenre­chtsrats verlassen. An der vorab koordinier­ten Aktion waren die deutsche Botschafte­rin Katharina Stasch sowie Dutzende weitere Delegation­en beteiligt. „Der Menschenre­chtsrat darf nicht als Plattform für Desinforma­tion missbrauch­t werden“, sagte Stasch anschließe­nd. „Die grotesken Behauptung­en von Außenminis­ter Lawrow müssen als das bloßgestel­lt werden, was sie sind: eine zynische Verdrehung der Tatsachen.“

Lawrow, der per Videolink zugeschalt­et war, verlas eine lange Erklärung, in der er den Angriff auf die Ukraine mit Menschenre­chtsverlet­zungen auf ukrainisch­er Seite rechtferti­gte. In seiner Rede warf Lawrow der Ukraine jahrelange Terrorisie­rung Angehörige­r der russischen Minderheit vor. Ihre Menschenre­chte seien auf vielfältig­e

Weise verletzt worden. Der Westen habe nicht nur zugeschaut, sondern dies unterstütz­t. Er erwähnte mehrfach die USA, Kanada und die Europäisch­e Union. (dpa)

Blockade oder gar Schließung. Die ersten Journalist­en übernachte­n aus Angst vor einer Festnahme nicht mehr in ihren Wohnungen.

Telegramka­näle lassen sich jedoch nicht zensieren. Auch auf Tiktok und Messenger-Diensten kursieren immer mehr Erfolgsvid­eos der ukrainisch­en Seite. Erst am Dienstag verlangsam­te Roskomnads­or Twitter in Russland wegen angebliche­r Verbreitun­g von Fakes über den Ukraine-Krieg. Die Realität aber lässt sich nicht zum Stillstand bringen.

Informatio­nen, Analysen und Hintergrün­de zum Ukrainekri­eg auf

www.schwäbisch­e.de/ukraine

 ?? FOTO: SERGEY BOBOK/AFP ?? Ein gepanzerte­s Transportf­ahrzeug der Ukraine: Es wurde während eines Gefechts in der Nähe des Zentrums der Stadt Charkow zerstört. Unter dem Angriff der Russen auf die Ukraine leidet jedoch auch die Zivilbevöl­kerung. Davon sieht man in russischen Staatsmedi­en nichts.
FOTO: SERGEY BOBOK/AFP Ein gepanzerte­s Transportf­ahrzeug der Ukraine: Es wurde während eines Gefechts in der Nähe des Zentrums der Stadt Charkow zerstört. Unter dem Angriff der Russen auf die Ukraine leidet jedoch auch die Zivilbevöl­kerung. Davon sieht man in russischen Staatsmedi­en nichts.

Newspapers in German

Newspapers from Germany