Inszenierte Erfolge
Russlands Staatsmedien zeichnen verzerrtes Bild des Krieges – Kritische Journalisten leben zunehmend in Angst
- Die ●russische Armee scheint den Feind schon fast am Boden zu haben. „Ich möchte den Mannschaften für Mut und Heldentum danken, für die gewissenhafte und professionelle Erfüllung der ihr gestellten Aufgaben“, verkündete Verteidigungsminister Sergei Schoigu am Dienstag auf dem Staatssender Rossija 1. Russlands Kräfte führten ihre Schläge nur gegen militärische Objekte, ausschließlich mit Präzisionswaffen. Diese Botschaft verbreiten Russlands offizielle Medien seit Beginn des Krieges. Der oppositionelle Radiosender Echo Moskwy zeigt auf seinem Portal dagegen die zerfetzte Plattenbaufassade eines Wohnhochhauses. „Eine Ausnahme“, heißt es nicht ohne Sarkasmus in der Bildunterschrift.
Russlands Propagandakrieg gegen die Ukraine ist im vollen Gange. Die Reportagen der russischen Kriegsberichterstatter behaupten immer wieder das Gleiche: Alles laufe nach Plan, obwohl der Feind die friedliche Bevölkerung als Schutzschild missbrauche und die Rebellenrepubliken im Donbass noch immer mit Völkermordwaffen terrorisiere. Den unabhängigen Medien, die es wagen, ein anderes Bild des Krieges zu zeichnen, droht Zensur und Schließung.
Eine Reporterin des Staatsfernsehens spaziert in schusssicherer Weste durch ein Dorf, die russischen Truppen hätten es auf dem Vormarsch nach Kiew gerade erst befreit. Von den Soldaten ist nichts zu sehen. Die Reporterin versichert, keine Fensterscheibe habe gelitten, lässt allerdings offen, ob hier überhaupt gekämpft worden ist. Ein paar ältere Frauen bestätigen, alles sei jetzt ruhig. Und ein Geistlicher reicht ihr an der Türschwelle ein Glas Wasser, erklärt, die Gläubigen aller christlichen Kirchen seien Brüder. Aber ein wirklicher Dialog kommt nicht zustande. Höhepunkt der Reportage ist das Kriegerdenkmal, dessen Abriss durch die Neonazis die örtlichen Einwohner verhindert hätten. „Ewiger Ruhm den Helden“liest die Reporterin vor, die das Dorf von den deutsch-faschistischen Besatzern befreit hätten.
Russlands Truppen kurven seit Freitag um die feindliche Hauptstadt
Kiew herum, gleichzeitig berichteten die Staatsmedien am Dienstag von überschweren Phosphor-Raketen mit denen der Feind weiter die Zivilbevölkerung der 600 Kilometer entfernten Rebellenrepubliken terrorisiere, auch als Rebellen verkleidete ukrainische Diversanten trieben dort ihr Unwesen. Wieder sollen die „Nazis“20 Zivilisten getötet haben. Bilder dazu fehlen.
Bisher widmet sich die russische Berichterstattung vor allem der Donbassfront. Der Telegram-Kanal WarGonzo feiert die Einkesselung des Feindes zwischen Wolnowacha und Mariupol, Dmitri Steschin, Militärreporter der Komsomolskaja Prawda, hat einen leeren Feindpanzer und zwei tote Ukrainer fotografiert und zitiert eine ältere Frau, die ein paar Tränen herausquetscht: „Acht Jahre haben wir auf euch gewartet, glaubt es!“
Aber kaum russische Soldaten, keine Begegnungen derselben mit ukrainischen Zivilisten, auch keine Kampfhandlungen, die Reportagen der Kremlmedien wirken leer im Vergleich zu den Internetmedien der Ukrainer. Dort wimmeln stündlich neue und durchaus triumphale Handyvideos zerschossener russischer Panzer, abstürzender russischer Hubschrauber, gefangener Russen, auf russische Panzer fliegender Molotowcocktails. „Aber was die russische Armee macht, wissen wir nicht“, sagt Pawel Kanygin, früher Donbass-Kriegsreporter und jetzt
Internetredakteur der Moskauer Oppositionszeitung Nowaja Gaseta. Was die ukrainischen Streitkräfte machen, weiß die ganze Welt.
Zentrales russisches Video dieses Krieges bleiben die täglichen Auftritte Igor Konaschenkows. Der Pressesprecher des Verteidigungsministeriums liest Russlands Siege scheinbar vom Teleprompter ab: „Die vordersten Einheiten der Volksmiliz der DNR erreichten die Verwaltungsgrenze der Donezker Region und vereinigten sich mit den Abteilungen der Streitkräfte der Russischen Föderation.“Wieder keine Bilder.
Propagandistisch scheint Russland die Initiative in diesem Krieg verloren zu haben. Die Zensurbehörde Roskomnadsor verlangt von den russischen Medien, nur Informationen offizieller Quellen zu benutzen. Außerdem sollen sie statt des Worts „Krieg“die Formulierung „militärische Spezialoperation in der Ukraine“verwenden. „Die Bezeichnung ist wohl kein Zufall“, glaubt Kanygin. „Eine Spezialoperation ist eine Geheimoperation, bestimmte Angaben, etwa Verluste, dürfen also nicht bekanntgegeben werden.“Trotz des Verbotes von Roskomnadsor verwenden die Nowaja Gaseta, auch Echo Moskwy oder TV Doschd und mehrere andere unabhängige Medien weiter Informationen, die von ihren eigenen Korrespondenten, von Augenzeugen oder auch ukrainischen Offiziellen stammen. Auch Verlustzahlen. Ihren Websites drohen
Aus Protest gegen den russischen Krieg in der Ukraine haben Diplomaten in Genf vor der Rede des russischen Außenministers Sergej Lawrow den Saal des UN-Menschenrechtsrats verlassen. An der vorab koordinierten Aktion waren die deutsche Botschafterin Katharina Stasch sowie Dutzende weitere Delegationen beteiligt. „Der Menschenrechtsrat darf nicht als Plattform für Desinformation missbraucht werden“, sagte Stasch anschließend. „Die grotesken Behauptungen von Außenminister Lawrow müssen als das bloßgestellt werden, was sie sind: eine zynische Verdrehung der Tatsachen.“
Lawrow, der per Videolink zugeschaltet war, verlas eine lange Erklärung, in der er den Angriff auf die Ukraine mit Menschenrechtsverletzungen auf ukrainischer Seite rechtfertigte. In seiner Rede warf Lawrow der Ukraine jahrelange Terrorisierung Angehöriger der russischen Minderheit vor. Ihre Menschenrechte seien auf vielfältige
Weise verletzt worden. Der Westen habe nicht nur zugeschaut, sondern dies unterstützt. Er erwähnte mehrfach die USA, Kanada und die Europäische Union. (dpa)
Blockade oder gar Schließung. Die ersten Journalisten übernachten aus Angst vor einer Festnahme nicht mehr in ihren Wohnungen.
Telegramkanäle lassen sich jedoch nicht zensieren. Auch auf Tiktok und Messenger-Diensten kursieren immer mehr Erfolgsvideos der ukrainischen Seite. Erst am Dienstag verlangsamte Roskomnadsor Twitter in Russland wegen angeblicher Verbreitung von Fakes über den Ukraine-Krieg. Die Realität aber lässt sich nicht zum Stillstand bringen.
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