Wenn die richtige Tablette fehlt
Wegen Produktionsverlagerungen nehmen Engpässe bei Medikamenten zu – Apotheken sehen Schuld bei Kassen
- Mit dem Rezept in die Apotheke kommen – und dort nicht die dringend nötige Arznei erhalten. Diese Erfahrung müssen BrustkrebsPatientinnen derzeit häufig machen, wenn sie mit Tamoxifen behandelt werden. Denn hier gibt es einen Lieferengpass. Laut dem Lobbyverband Pro Generika haben Zulieferer die Produktion eingestellt – weil sie unwirtschaftlich geworden sei. Seitdem würden neue gesucht. Das aber könne dauern. Für Geschäftsführer Bork Bretthauer kein Wunder: Bei Tamoxifen erhielten die Arzneimittelhersteller von den Krankenkassen für eine 100er-Packung 8,80 Euro. Zu diesem Preis sei eine wirtschaftliche Produktion kaum mehr möglich.
Dass Deutschland über viele Jahrzehnte als „Apotheke der Welt“galt – längst vergessen. Zwei Drittel der hierzulande benötigten Wirkstoffe stammen aus China oder Indien, nur noch ein Drittel wird in Europa hergestellt. Laut Pro Generika legen viele Medikamente oft 10 000 Kilometer zurück, bevor sie in unsere Apotheken gelangen. Produktionsprobleme, Naturkatastrophen und politisch veranlasste Exportstopps machen das Ganze anfällig. „Grundsätzlich zeigt sich durch die Corona-Krise noch einmal verschärft, dass die Verlagerung der Produktion nach Asien die Lieferketten anfälliger macht“, betont Kai Joachimsen, Hauptgeschäftsführer des Bundesverbandes der Pharmazeutischen Industrie.
Dass es hierzulande immer wieder zu Lieferengpässen bei Medikamenten kommt, ist nicht neu. Sie werden seit 2013 offiziell erfasst. Damals wurden 42 Meldungen registriert. 2017 waren es bereits 108 Fälle. Aktuell listet das zuständige Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) 243 auf. Gängige Antibiotika, Schmerzmittel, Blutdrucksenker sind darunter. Auch Medikamente gegen Depressionen, Epilepsie oder Parkinson sind regelmäßig betroffen. Als Engpass gilt, wenn eine Arznei mindestens zwei Wochen nicht ausreichend beschaffbar ist.
Allerdings: Bei Lieferengpässen können oft alternative Medikamente verabreicht werden. Gibt es jedoch keine gleichwertigen Alternativen und kann der Patient nicht angemessen versorgt werden, wird aus dem Lieferengpass ein Versorgungsengpass. Einen solchen hat das Bundesgesundheitsministerium im Fall Tamoxifen ausgerufen. Denn eine „alternative gleichwertige Arzneimitteltherapie
Verfügung“.
Das Medikament Tamoxifen zur Therapie von hormonabhängigem Brustkrebs nämlich ist nach Angaben der Deutschen Gesellschaft für Hämatologie und Medizinische Onkologie ein „unverzichtbarer Bestandteil“der Behandlung, der Ersatz durch andere Wirkstoffe sei „mit einer höheren Nebenwirkungsrate belastet“. Das BfArM hat deshalb zusätzliche
steht
nicht
zur Importe erlaubt und Ärzte angehalten, keine Rezepte mehr über große Arzneimengen zur individuellen Bevorratung auszustellen. Schätzungsweise seien von dem Engpass 120 000 bis 130 000 Menschen betroffen.
Das Dilemma begann, so sehen es etwa die Apotheker, im Jahr 2007, als die Krankenkassen damit starten durften, mit den Arzneimittelproduzenten Rabattverträge abzuschließen. Das geht so: Die Kassen schreiben Rabattverträge aus. Dabei sagen Pharmahersteller einen satten Nachlass auf den offiziellen Apothekenpreis zu. Dafür nutzt die Kasse für ihre Versicherten nur das Präparat dieser Anbieter. Der niedrigste Preis gewinnt. Die Laufzeit beträgt zwei Jahre. Dabei geht es um Generika. Generika sind Nachahmerpräparate, die nach Patentablauf viel billiger als das Original angeboten werden. Acht von zehn verschriebenen Medikamenten sind Generika. Für Pro Generika treibt der Preiskampf die Branche immer weiter in die Monopolisierung.
Die Krankenkassen aber halten sich für unschuldig. Von der AOK heißt es, „globale Arzneimittel-Lieferschwierigkeiten haben nichts mit Rabattverträgen zu tun“. Im Übrigen, so Sprecher Michael Bernatek, habe sich die Pandemie nicht spürbar auf die Verfügbarkeit von Arzneimitteln ausgewirkt. Ein Grund dafür dürfte seiner Ansicht nach sein, dass die „Rabattverträge der AOK-Gemeinschaft ihre Vertragspartner zu Mindestbevorratungen verpflichten“. Bei Tamoxifen jedoch könne das nicht greifen, da man hier gar keine Rabattverträge habe.
Auch der CDU-Gesundheitspolitiker Michael Hennrich findet, dass man in Sachen Lieferengpässen „relativ gut“durch die Pandemie gekommen sei. Das ändere nichts an der Tatsache, dass „das Problem virulent ist“. Für ihn sind Anreize für eine Produktion in der EU „der Schlüssel, das muss das Kernanliegen sein“. Das werde Geld kosten. Aber Europa lege derartige Programme auch für Batteriezellen oder Chips auf, dann müsse das bei Medikamenten ebenfalls möglich sein.
Für die Bundesvereinigung Deutscher Apothekerverbände (ABDA) hatte die Pandemie immerhin einen Vorteil: weniger Bürokratie beim Versuch, fehlende Medikamente zu ersetzen. Eine seit April 2020 gültige Verordnung, so ABDA-Vizepräsident Mathias Arnold, gebe den Apotheken mehr Spielraum, um Patienten mit anderen Packungsgrößen, Wirkstärken oder sogar ähnlichen Wirkstoffen zu versorgen. „Diese zusätzliche fachliche Beinfreiheit der Apotheken verbessert die schnelle Versorgung der Menschen und sollte deshalb auf Dauer – das heißt über den 31. Mai 2022 hinaus – erhalten bleiben.“
Wenn, wie bei Tamoxifen, aber eine sinnvolle Alternative fehlt, hilft diese „Beinfreiheit“auch nicht weiter.
Herr Professor Riedel, das Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte listet 243 Lieferengpässe auf – bei mehr als
100 000 zugelassenen Arzneimitteln. Ist die Debatte größer als das Problem?
Die Anzahl der nicht lieferfähigen Arzneimittel ist in den letzten zwei Jahren konstant, wobei Medikamente immer wieder lieferfähig werden und andere dafür nicht lieferfähig sind. Das stellt eine Herausforderung dar. Apotheker haben täglich damit zu kämpfen, ein nicht lieferfähiges Medikament ersetzen zu müssen.
Sind denn Patienten in Gefahr? Generell betreffen die Engpässe sowohl krankenhausrelevante Arzneimittel als auch Medikamente der Apotheken. Zumeist handelt es sich um Generika, also Nachahmerpräparate. Dennoch können wir beruhigt sein, zurzeit ist bei uns die Versorgung aufgrund der vielen verschiedenen Medikamente trotz diverser Unannehmlichkeiten sichergestellt. Aktuell wurde jedoch ein Lieferengpass für tamoxifenhaltige Arzneimittel gemeldet. Um die Versorgung dennoch möglichst zu gewährleisten, hat die Behörde einen Maßnahmenkatalog verabschiedet.
Brauchen wir mehr Produktion in Europa?
Mehr europäische Produktion wäre tatsächlich ein Lösungsansatz. Darüber hinaus muss man prüfen, in welchem Zeitfenster Arzneimittelpreise an Marktentwicklungen wie die aktuelle „Preiserhöhungswelle“der Rohstoffe anzupassen sind.