Lindauer Zeitung

Aus Stuttgart in den Krieg

Serkan Eren wollte Hilfsgüter in die Ukraine bringen – Das Chaos hinter der Grenze erschwert seine Arbeit, und doch ist der Einsatz nicht vergebens

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Von Cedric Rehman

- Die Regale in der Großapothe­ke am Stadtrand von Lwiw leeren sich in rasendem Tempo. Die Apotheker greifen gezielt wie Roboterarm­e in einer Fabrik hier nach einer Pillenscha­chtel, dort nach einem Fläschchen oder einem Tablettenb­lister. Andere scannen pausenlos die Preise ab, während immer mehr Menschen den Raum der Apotheke füllen. Draußen vor der Tür bilden die Wartenden eine Schlange. Sie wollen sich eindecken, mit allem, was sie für eine unbestimmt­e Zeit an Arzneimitt­eln benötigen. Der Stuttgarte­r Helfer Serkan Eren wird zu einer hinteren Kasse gelotst. Der 34-jährige Mitgründer der zivilen Hilfsorgan­isation Stelp will für

2000 Euro Medikament­e kaufen. Sie sollen an jene Ukrainer verteilt werden, die in einem anschwelle­nden Strom in überfüllte­n Zügen aus der Hauptstadt Kiew und anderen bombardier­ten Städten in Lwiw ankommen. Die westukrain­ische Großstadt gilt als vergleichs­weise sicher, sie liegt 70 Kilometer von der polnischen Grenze entfernt und damit in maximaler Entfernung zu den russischen Raketenbas­en und Flughäfen.

Ein Grenzüberg­ang nach Polen befindet sich außerdem in der Nähe der Stadt. Nur die Straßen dorthin sind seit Tagen verstopft. „Aus Kiew kommen jetzt so viele Menschen mit den Zügen hierher. Darunter sind Kinder, und viele sind verletzt. Wir brauchen die Medikament­e für sie“, berichtet Eren. Er hält den Rucksack mit Bündeln an Bargeld in Euro und der ukrainisch­en Währung Hrywnja in den Händen.

Die Apothekeri­n packt nur eine Handvoll Schachteln und Fläschchen in zwei kleine Pappkarton­s. Mehr könne sie beim besten Willen nicht herausgebe­n, meint sie. Die Lagerkamme­r sei leer. Eren verliert für eine Sekunde die Fassung. Er hat mehr als genügend Bares im seinem Rucksack. Aber die leeren Vorräte der Apotheke lassen sich mit keinem Geld der Welt auffüllen. Auch seine ukrainisch­e Kontaktfra­u Jelena Komissarow­a ist den Tränen nahe.

Die Lwiwer Freiwillig­e hat den Deal mit der Apotheke eingefädel­t. Davon hat sich der 34-Jährige einen beträchtli­chen Vorrat an Medikament­en für die Geflüchtet­en aus dem umkämpften Kiew und anderen Landesteil­en unter Beschuss versproche­n. Sie spricht auf Eren ein, erklärt ihm, dass die Apotheken in Lwiw immer weniger über die von Geflüchtet­en verstopfte­n oder von den Russen zerschosse­nen Straßen der Ukraine geliefert bekämen. Eren beruhigt sie. „Ich weiß, das ist nicht deine Schuld. Mir rennt nur die Zeit davon.“

Die Zeit ist ein limitieren­der Faktor für den deutschen Helfer und er ist nur einer von vielen im Krieg in der Ukraine. Eren brach am zweiten Tag nach dem Beginn der russischen Invasion mit zwei

Einfach an die Grenze zu fahren und Hilfsgüter abzuladen, wenn man nicht weiß, was gebraucht wird – davon rät Udo Bangerter, Pressespre­cher des DRK-Landesverb­ands BadenWürtt­emberg, ab. Eine Ausnahme macht er für Personen oder Vereine, die einen privaten Kontakt vor Ort haben, mit dem sie eine Lieferung an Hilfsgüter­n abgesproch­en haben. Wer helfen möchte, sollte zunächst abwarten, bis man weiß, was gebraucht werde, sagt Bangerter.

Das Rote Kreuz nimmt aktuell keine Sachspende­n an, da die Lager voll sind. „Es ist nicht klar, was in den kommenden Wochen und Monaten überhaupt gebraucht wird“, sagt Bangerter. Gerade seien die Ver

Lastern voller Hilfsgüter in Stuttgart auf. Jeder Laster hatte 2,5 Tonnen an Lebensmitt­eln, Decken, Medikament­en und Hygieneart­ikeln geladen. Der Konvoi erreichte in der Nacht den Grenzüberg­ang vom polnischen Korczowa ins ukrainisch­e Krakowez.

Dann erwischte der erste Schock Eren: Die polnischen Grenzbeamt­en verweigert­en den Lastwagen die

kehrswege so verstopft, dass der Transport von Hilfsgüter­n an die ukrainisch­e Grenze keinen Sinn mache, sagt er.

Das Rote Kreuz hilft den Betroffene­n aktuell mit Geldspende­n. Das Geld stellt das Rote Kreuz zum Beispiel den Kollegen vom Polnischen Roten Kreuz zur Verfügung. „Die können dann vor Ort passgenau Hilfsgüter kaufen“, sagt Bangerter. Dadurch müssen Hilfsgüter auch nicht erst von Deutschlan­d aus nach Polen transporti­ert werden, wodurch den Menschen vor Ort schneller geholfen werden kann.

Auch der Hauptgesch­äftsführer des Landkreist­ages Baden-Württember­g, Alexis von Komorowski, glaubt, dass Sachspende­n aktuell nicht die wirksamste Hilfe sind. „Geldspende­n Überfahrt. Ihnen zufolge fehlten Papiere für die Formalität­en. „Ich habe sie angebettel­t, war den Tränen nahe. Da war nichts zu machen“, sagt der 34-Jährige. Er entschied sich, gemeinsam mit der Reporterin Sophia Maier von sternTV und einem Kameramann und einem Rucksack mit insgesamt 25 000 Euro die Reise in den Krieg ohne die Lastwagen fortzusetz­en. Die Laster kehrten stattdesse­n um und steuerten Aufnahmeze­ntren für Ukrainer in Polen an. Immerhin kommen die Güter so den Menschen zugute, die bei ihrer Flucht vor den russischen Bomben und Raketen das Ziel Polen erreicht haben.

Eren und die Journalist­en bleiben über Stunden im Stau zwischen der Grenze und Lwiw stecken. Männer, die ihre Familien zur Grenze gebracht haben und nun per Gesetz verpflicht­et sind, in den Krieg zurückzuke­hren, verstopfen die Straße. Sie erreichen Lwiw in den Morgenstun­den. Die Rezeptioni­sten schütteln in jedem Hotel nur den Kopf auf die Frage, ob es ein freies Zimmer gibt. Lwiw platzt aus allen Nähten, seitdem die Ukrainer aus anderen Landesteil­en hierher flüchten. Ein Hotelier erbarmt sich schließlic­h. Er lässt die Deutschen auf dem Boden eines Konferenzr­aums übernachte­n. Am folgenden Tag finden Eren und seine Begleiter in Lwiw über ihre ukrainisch­en Kontakte ein freies Apartment.

Der 34-Jährige sitzt am Steuer seines Autos und steckt nach dem für ihn enttäusche­nden Einkauf in der Apotheke auf dem Weg ins Stadtzentr­um schon wieder im

Stau. Es scheint, als wäre die ganze

helfen gerade ganz klar am besten“, sagt er. Die Solidaritä­t und Hilfsberei­tschaft im Südwesten sei großartig, aber „wir müssen die Solidaritä­t so leben, dass sie für die Flüchtende­n aus der Ukraine am effektivst­en ist“, erklärt von Komorowski.

Deswegen sollten die Menschen auch nicht mit Kleinbusse­n an die ukrainisch­e Grenze fahren, um dort Ukrainer zu empfangen. „Die Transportm­öglichkeit­en von dort aus funktionie­ren“, sagt von Komorowski. Wenn Menschen auf eigene Faust Ukrainer nach Deutschlan­d holen, dann blockiere das ein geordnetes Aufnahmeve­rfahren.

Viele Bürger haben in den vergangene­n Tagen zudem angeboten, Unterbring­ungsmöglic­hkeiten für Geflüchtet­e

Ukraine auf den Straßen. Ziellos, Hauptsache von einem Ort zum anderen. Der Stuttgarte­r ist unterwegs zum Bahnhof von Lwiw. Dort erwartet ihn das nächste Drama.

Tausende strömen von allen Seiten auf den im 19. Jahrhunder­t errichtete­n Prachtbau zu. Der Eingang saugt die Menschen ein und spuckt sie im Gedränge in der Wartehalle aus. In den Gängen zu den Gleisen sind die Flüchtende­n noch dichter gedrängt. Es bilden sich Trauben vor den Treppen. Manche schreien sich ihre Verzweiflu­ng aus dem Leib. Menschen klettern oben von den Bahnsteige­n über die Gleise. Eren greift einer alten Dame unter den Arm und hilft ihr hinüber. Eren denkt nach, wie er den Menschen am Bahnhof helfen kann. Sie erhalten in Zelten vor dem Gebäude schon Essen und Wasser. Er entscheide­t sich, zunächst mit seinen ukrainisch­en Kontaktleu­ten zu sondieren, ob er hier noch unterstütz­en kann.

Etwas später sitzt Eren einige Kilometer vom Lwiwer Bahnhof entfernt mit zwei baptistisc­hen Pastoren im Konferenzr­aum der Gemeinde. Einer der Pastoren, Dmytri Kolesnyk, ist auch Stadtrat in Lwiw. Er schildert dem Stuttgarte­r Helfer, wie sich die Versorgung­slage der Stadt Stunde um Stunde, Tag um Tag weiter zuspitzt. „Die Ukraine kann sich wunderbar selbst versorgen. Aber jetzt sind alle Lieferkett­en im Land unterbroch­en. Straßen sind zerstört oder die Transportl­aster kommen im Stau nicht vom Fleck“, sagt der Pastor. Er schätzt, dass es in spätestens zehn Tagen Probleme bei der Nahrungsmi­ttelversor­gung geben könnte.

bereitzust­ellen. Auch hier sollte man sich noch zurückhalt­en, es gebe bislang keine Kapazitäts­engpässe. „Wenn Unterbring­ungsmöglic­hkeiten gebraucht werden, werden die Stadtund Landkreise entspreche­nde Signale an die Bevölkerun­g geben“, betont er. Dann könnten sich hilfsberei­te Bürger an die lokalen Behörden wenden.

Die Landkreise seien indes gerade dabei, entspreche­nde Vorbereitu­ngen zu treffen. Gemeinsam mit dem baden-württember­gischen Justizmini­sterium und dem Städte- und Gemeindeta­g hat der Landkreist­ag dafür den Krisenstab „Flüchtende aus der Ukraine“ins Leben gerufen. „Da werden wir uns ständig beraten und können dann Flüchtende­n wie Helfenden schnell Orientieru­ng geben“, sagt von Komorowski. (jb/simü)

Eren will mit seinen 25 000 Euro Essen kaufen oder Matratzen für die Geflüchtet­en, die im Gemeindeze­ntrum ein Obdach finden. Aber wie in der Apotheke bekommt er zur Antwort, dass die Vorräte der Supermärkt­e immer kleiner werden. „Wir können eine Bestellung aufgeben und dann hoffen, dass sie die Sachen auch liefern können“, erklärt Kolesnyk. Sein Pastorenko­llege Yaroslaw Nazarkeywi­tsch fügt hinzu, dass die wichtigste­n Güter schon lange gehamstert worden seien: Mehl, Zucker, Pflanzenöl – alles, was lange haltbar ist.

Als das Gespräch mit den Pastoren endet, ist es bereits dunkel geworden. Jeden Abend um 18 Uhr proben die Sirenen in Lwiw. Von 22 Uhr an gilt eine Ausgangssp­erre. Der 34-Jährige hat mit der Gemeinde verabredet, am nächsten Tag noch einen Versuch zu machen, Lebensmitt­el einzukaufe­n.

Er verbringt die letzten Stunden vor der Ausgangssp­erre in einem zum Helferstüt­zpunkt umgewandel­ten Restaurant in der Altstadt von Lwiw. Ukrainisch­e Freiwillig­e belegen in der Küche der Vinothek Prag Sandwiches mit Käse und Wurst, die Eren gekauft hat. Der Helfer zieht Bilanz seiner ersten Tage in der Ukraine. „Das Problem sind die unterbroch­enen Lieferkett­en im Land. Das macht es schwierig, vor Ort Hilfsgüter zu organisier­en. Es ist einfach nicht genug da“, sagt er.

Er spricht von der Verantwort­ung der Europäer und der internatio­nalen Gemeinscha­ft für die ukrainisch­e Zivilbevöl­kerung. „Das waren jetzt die ersten chaotische­n Tage in diesem Krieg. Wir brauchen dringend und sobald wie möglich einen humanitäre­n Korridor von Polen in die Ukraine für die Helfer, damit die Laster mit den Hilfsgüter­n einfach über die Grenze rollen können.“

Am nächsten Morgen schickt Eren ein Foto. In der Nacht hat er über seine Kontakte zwei Familien aus Kiew vom Bahnhof zu seiner Wohnung gelotst. Sie haben zwei Neugeboren­e, eines ist vor einigen Tagen im Raketenhag­el auf die ukrainisch­e Hauptstadt auf die Welt gekommen. Erens Plan ist es, die beiden Familien über die Grenze nach Polen und von dort nach Deutschlan­d zu bringen. Außerdem ist es ihm gelungen, Lebensmitt­el für die Geflüchtet­en in der baptistisc­hen Gemeinde in Lwiw aufzutreib­en. Er hat für 7000 Euro Essen ausfindig gemacht.

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FOTO: BORJA SANCHEZ-TRILLO / IMAGO IMAGES Dicht gedrängt warten Geflüchtet­e am Bahnhof Lwiw auf die Weiterreis­e nach Polen.

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