„Bedrohungslagen verstärken Identitäten“
Soziologe spricht über Bereitschaft der Gesellschaft zu Opfern inmitten von Krisen
- In Deutschland ist die Solidarität mit den Menschen in der Ukraine groß. Doch was passiert, wenn der Krieg länger anhält? Der Sozialwissenschaftler der Humboldt-Universität zu Berlin, Anselm Hager, erläutert, ob die Gesellschaft bereit ist, Opfer zu bringen.
Wir sind noch in der Pandemie und sind nun mit einem Krieg konfrontiert. Eine Krise zu viel?
Die Verbindung zwischen Pandemie und Krieg liegt in der Risikowahrnehmung. In beiden Fällen geht es um Unsicherheit, im einen Fall um gesundheitliche, im anderen Fall um physische. Insofern treten wir nun von einer Phase der Unsicherheit in die nächste ein. Das erklärt auch, warum die mediale Aufmerksamkeit scheinbar nahtlos von Pandemie zur Kriegsberichterstattung übergeht. Menschen können sich schlecht auf mehrere Gefahren gleichzeitig fokussieren – das ist kognitiv sehr aufwendig.
Kann dieser Krieg auch eine identitätsstiftende Wirkung haben?
Ja. Die Forschung zeigt recht eindeutig, dass Bedrohungslagen Identitäten verstärken, Gruppen unter einem Banner zusammenkommen. Das kann man schon jetzt feststellen: Binnen Tagen hat sich Deutschland klar westlich und pro Nato verortet und beispielsweise das Zwei-Prozent-Ziel übernommen. Zugleich gibt es derzeit wenige Personen, die sich dieser neuen Einigkeit entgegenstellen, sich beispielsweise als „Putin-Versteher“outen. Es gibt eine plötzlich eindeutige Supermehrheit, die prowestlich ist.
Ist die Situation vergleichbar mit den 1970er-und 80er-Jahren, als wir mit einer nuklearen Bedrohung leben lernen mussten?
Es gibt Parallelen, doch die Unterschiede überwiegen. In den 1970erund 80er-Jahren gab es eine größere nukleare Bedrohung und die USA und Russland standen sich direkt gegenüber. Derzeit ist es „nur“ein Konflikt zwischen der Ukraine und Russland. Westliche Länder unterstützen lediglich. Zudem steht Russland heute ganz anders da als in den 70er-Jahren. Es ist ökonomisch und militärisch abgeschlagen.
100 Milliarden für Rüstungsausgaben, Diskussionen über Wehrpflicht und höhere Energiepreise. Ist die Gesellschaft bereit, diese Opfer zu erbringen?
Ob wir wirklich dazu bereit sind, wird sich erst herausstellen, wenn höhere Stromrechnungen kommen. Umfragen zeigen, dass die Unterstützung für die Ukraine derzeit hoch ist und es eine große moralische Empörung über Putins Angriffskrieg gibt. Daher rührt vermutlich auch die Bereitschaft, ökonomisch zurückzustecken. Wenn sich der Konflikt aber lange hinzieht, könnte diese Bereitschaft schwinden.
Viele kennen den Krieg nur aus Geschichtsbüchern. Sind wir auf einen möglichen Nato-RusslandKrieg überhaupt vorbereitet?
Nein. Seit 1945 gab es derart gelagerte Kriege in Europa nicht mehr. Deshalb kennen wir sie nicht – sind also gesellschaftlich nicht auf Krieg eingestellt, was zunächst ja ein positives Zeichen ist. Gleichzeitig gilt: Krieg ist eine traurige Konstante der Geschichte. Es gab zwar immer wieder Friedenszeiten, doch dann folgten für gewöhnlich kriegerische Epochen – man denke an den Dreißigjährigen Krieg. Der Überfall Russlands auf die Ukraine ist eine mahnende Erinnerung an diese Regularität. Der Krieg erinnert Westeuropa auch daran, dass Demokratie keine Selbstverständlichkeit ist.
Was bedeutet es für die Gesellschaft, wenn sie auf Dauer in Angst und Sorge leben muss?
Das ist auf vielen Ebenen schwierig. Zunächst wirkt sich Angst auf der psychologischen Ebene negativ aus. Man denke etwa an den Anstieg depressiver Erkrankungen während der Pandemie. Dann ist Angst auch auf ökonomischer Ebene problematisch. Denn Wirtschaften bedeutet, Risiko einzugehen, was Angst verhindert. Ein einprägsames Beispiel ist Angst vor Inflation, die dazu neigt, Inflation weiter anzuheizen – gewissermaßen eine selbsterfüllende Prophezeiung.
Welche Art Politiker braucht man in so einer Situation?
Zeiten der Ungewissheit erfordern für gewöhnlich entscheidungsfreudige Politikertypen. Genau diese Rolle versucht nun Kanzler Olaf Scholz einzunehmen. Er war bis vor ein paar Tagen ja eine Art „Merkel 2.0“. Jetzt ändert er seinen Ton, trifft ungewöhnlich deutliche Entscheidungen. In Zeiten von Unsicherheit ergibt das Sinn, denn zaghafte Führung würde nur weitere Unsicherheit schaffen.
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