Lindauer Zeitung

„Bedrohungs­lagen verstärken Identitäte­n“

Soziologe spricht über Bereitscha­ft der Gesellscha­ft zu Opfern inmitten von Krisen

- Von Dorothee Torebko

- In Deutschlan­d ist die Solidaritä­t mit den Menschen in der Ukraine groß. Doch was passiert, wenn der Krieg länger anhält? Der Sozialwiss­enschaftle­r der Humboldt-Universitä­t zu Berlin, Anselm Hager, erläutert, ob die Gesellscha­ft bereit ist, Opfer zu bringen.

Wir sind noch in der Pandemie und sind nun mit einem Krieg konfrontie­rt. Eine Krise zu viel?

Die Verbindung zwischen Pandemie und Krieg liegt in der Risikowahr­nehmung. In beiden Fällen geht es um Unsicherhe­it, im einen Fall um gesundheit­liche, im anderen Fall um physische. Insofern treten wir nun von einer Phase der Unsicherhe­it in die nächste ein. Das erklärt auch, warum die mediale Aufmerksam­keit scheinbar nahtlos von Pandemie zur Kriegsberi­chterstatt­ung übergeht. Menschen können sich schlecht auf mehrere Gefahren gleichzeit­ig fokussiere­n – das ist kognitiv sehr aufwendig.

Kann dieser Krieg auch eine identitäts­stiftende Wirkung haben?

Ja. Die Forschung zeigt recht eindeutig, dass Bedrohungs­lagen Identitäte­n verstärken, Gruppen unter einem Banner zusammenko­mmen. Das kann man schon jetzt feststelle­n: Binnen Tagen hat sich Deutschlan­d klar westlich und pro Nato verortet und beispielsw­eise das Zwei-Prozent-Ziel übernommen. Zugleich gibt es derzeit wenige Personen, die sich dieser neuen Einigkeit entgegenst­ellen, sich beispielsw­eise als „Putin-Versteher“outen. Es gibt eine plötzlich eindeutige Supermehrh­eit, die prowestlic­h ist.

Ist die Situation vergleichb­ar mit den 1970er-und 80er-Jahren, als wir mit einer nuklearen Bedrohung leben lernen mussten?

Es gibt Parallelen, doch die Unterschie­de überwiegen. In den 1970erund 80er-Jahren gab es eine größere nukleare Bedrohung und die USA und Russland standen sich direkt gegenüber. Derzeit ist es „nur“ein Konflikt zwischen der Ukraine und Russland. Westliche Länder unterstütz­en lediglich. Zudem steht Russland heute ganz anders da als in den 70er-Jahren. Es ist ökonomisch und militärisc­h abgeschlag­en.

100 Milliarden für Rüstungsau­sgaben, Diskussion­en über Wehrpflich­t und höhere Energiepre­ise. Ist die Gesellscha­ft bereit, diese Opfer zu erbringen?

Ob wir wirklich dazu bereit sind, wird sich erst herausstel­len, wenn höhere Stromrechn­ungen kommen. Umfragen zeigen, dass die Unterstütz­ung für die Ukraine derzeit hoch ist und es eine große moralische Empörung über Putins Angriffskr­ieg gibt. Daher rührt vermutlich auch die Bereitscha­ft, ökonomisch zurückzust­ecken. Wenn sich der Konflikt aber lange hinzieht, könnte diese Bereitscha­ft schwinden.

Viele kennen den Krieg nur aus Geschichts­büchern. Sind wir auf einen möglichen Nato-RusslandKr­ieg überhaupt vorbereite­t?

Nein. Seit 1945 gab es derart gelagerte Kriege in Europa nicht mehr. Deshalb kennen wir sie nicht – sind also gesellscha­ftlich nicht auf Krieg eingestell­t, was zunächst ja ein positives Zeichen ist. Gleichzeit­ig gilt: Krieg ist eine traurige Konstante der Geschichte. Es gab zwar immer wieder Friedensze­iten, doch dann folgten für gewöhnlich kriegerisc­he Epochen – man denke an den Dreißigjäh­rigen Krieg. Der Überfall Russlands auf die Ukraine ist eine mahnende Erinnerung an diese Regularitä­t. Der Krieg erinnert Westeuropa auch daran, dass Demokratie keine Selbstvers­tändlichke­it ist.

Was bedeutet es für die Gesellscha­ft, wenn sie auf Dauer in Angst und Sorge leben muss?

Das ist auf vielen Ebenen schwierig. Zunächst wirkt sich Angst auf der psychologi­schen Ebene negativ aus. Man denke etwa an den Anstieg depressive­r Erkrankung­en während der Pandemie. Dann ist Angst auch auf ökonomisch­er Ebene problemati­sch. Denn Wirtschaft­en bedeutet, Risiko einzugehen, was Angst verhindert. Ein einprägsam­es Beispiel ist Angst vor Inflation, die dazu neigt, Inflation weiter anzuheizen – gewisserma­ßen eine selbsterfü­llende Prophezeiu­ng.

Welche Art Politiker braucht man in so einer Situation?

Zeiten der Ungewisshe­it erfordern für gewöhnlich entscheidu­ngsfreudig­e Politikert­ypen. Genau diese Rolle versucht nun Kanzler Olaf Scholz einzunehme­n. Er war bis vor ein paar Tagen ja eine Art „Merkel 2.0“. Jetzt ändert er seinen Ton, trifft ungewöhnli­ch deutliche Entscheidu­ngen. In Zeiten von Unsicherhe­it ergibt das Sinn, denn zaghafte Führung würde nur weitere Unsicherhe­it schaffen.

Informatio­nen, Analysen und Hintergrün­de zum Ukrainekri­eg auf www.schwäbisch­e.de/ukraine

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FOTO: SVEN HOPPE/DPA Demonstran­ten protestier­ten auch am Mittwochab­end in München gegen den Krieg in der Ukraine.
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