Einigkeit in schwierigen Zeiten
US-Präsident Biden versichert in seiner Rede zur Lage der Nation, „jeden Zentimeter“Nato-Gebiet zu verteidigen
- Die Gemeinsamkeit währte etwa 20 Minuten. Das war der Beginn der Rede zur Lage der Nation, den die Redenschreiber des Präsidenten seit Beginn des russischen Angriffskriegs auf die Ukraine mehrfach überarbeitet hatten.
In seltener Einheit erhielt Joe Biden stehenden Applaus für sein Solidaritätsversprechen an die Ukraine. Minutenlang beklatschte der Kongress die Botschafterin der Ukraine in den USA, Oksana Markarova, die auf der Besuchertribüne neben First Lady Jill Biden Platz genommen hatte.
Selbst über einen Versprecher sahen seine Zuhörer in dieser blau-gelben Nacht der Solidarität mit der Ukraine hinweg. Eigentlich wollte Biden sagen, Putin werde niemals die Herzen und Seelen des ukrainischen Volks erobern können. Stattdessen rutschte ihm „iranischen“heraus. Die Anwesenden hörten darüber hinweg. Nicht alle, aber die meisten fühlten sich in diesem Moment als „Ukrainer“im Geiste.
„Über unsere Geschichte hinweg haben wir diese Lektion gelernt“, griff Biden die epochale Herausforderung auf, mit der Putins Überfall die Friedensordnung in Europa konfrontiert. „Wenn Diktatoren keinen Preis für ihre Aggression zahlen, verursachen sie mehr Chaos. Sie machen weiter. Und die Kosten der Drohungen gegen Amerika und die Welt werden größer.“Der Führer der Supermacht versicherte, er werde dafür sorgen, dass Putin „einen Preis bezahlt“.
Die USA hätten die Ostflanke der Nato in Europa verstärkt, nicht um in den Ukrainekrieg einzugreifen. Die entsandten US-Truppen seien dafür da, die Nato-Verbündeten zu verteidigen, falls Putin entscheidet, gen Westen zu ziehen. Sie würden „jeden Zentimeter“an Nato-Gebiet verteidigen, „mit der gesamten Macht unserer vereinten Kräfte“. Analysten werteten das anschließend als verhüllte Antwort auf Putins Atomdrohung.
Detailliert führte Biden die diplomatische Offensive seiner Regierung im Vorfeld des Überfalls aus. Er lobte den Zusammenhalt der Nato und die harten Sanktionen gegen Russland. „Putins Krieg war vorgeplant und nicht provoziert“, hielt der Präsident dem russischen Führer vor. „Er hat diplomatische Bemühungen zurückgewiesen. Er dachte, der Westen und die Nato würden nicht reagieren. Und er dachte, er könnte uns zu Hause spalten. Putin lag daneben. Wir waren vorbereitet.“
Tatsächlich organisierten die USA ein Sanktionsbündnis, das so breit und tief reicht, wie der Angriff auf die Ukraine beispiellos in der neueren Geschichte ist. „Selbst die Schweiz fügt Russland Schmerzen zu“, lobt er die Breite der Sanktionsfront auf dem Finanzmarkt, inklusive der eingefrorenen Guthaben der russischen Zentralbank. Biden kündigte an, ab sofort wie Dutzende anderer Staaten den Luftraum für russische Maschinen zu blockieren.
Der Präsident nutzte die „Stateof-the-Union“auch als Erklärstunde, den Zusammenhang zwischen den Angriffen auf Freiheit und Demokratie im Inneren – Stichwort 6. Januar 2021 – und die Gefahren von außen herzustellen. Wichtig sei es, in beiden Fällen die Einheit zu wahren. Er habe unzählige Stunden darauf verbracht, „Europa zu einen“. Meinte er Deutschland, das bei Nord Stream 2, Swift und den Militärausgaben eine
Kehrtwende vollzogen hatte? Biden ließ es offen.
Kurz vor der Rede hatten der Präsident und seine internationalen Verbündeten 60 Millionen Barrel aus der strategischen Rohölreserve freigegeben. Mit Blick auf die Inflation warb er für den Aufbau einer besseren Infrastruktur und Innovation. „Statt von ausländischen Lieferketten abzuhängen, lasst uns die Dinge hier machen.“Spätestens hier, im zweiten, innenpolitischen Teil seiner „State of the Union“hörte die von Biden beschworene Einheit der Demokraten auf. Vom richtigen Umgang mit der Pandemie über Maßnahmen zur Inflationsbekämpfung bis hin zu seinem Paket an sozialen und ökologischen Reformen, das Biden wiederbeleben will, prallen die Ansichten mit den Republikanern hart aufeinander.
Für umso wichtiger halten Analysten die demonstrative Rückendeckung führender Republikaner, wie Fraktionsführer Mitch McConnell im Senat, für den „Commander-inChief“während der Ukraine-Krise. „Es gibt breite Übereinstimmung für das, was der Präsident gerade tut“, sagte McConnell. „Unsere größte Beschwerde ist die, dass es so lange gedauert hat.“
Während 71 Prozent der Zuschauer laut Umfragen nach der State-ofthe-Union einen positiven Eindruck von der Rede mitnahmen, gab es in den Kommentarspalten der Leitmedien auch kritische Töne. Biden habe kein Wort zu der mutigen Opposition in Russland gesagt, bemängelt die „Washington Post“. Der Präsident habe auch „keine Vision dargelegt, wie die Nato der russischen Bedrohung auf lange Sicht begegnen wird“.