Lindauer Zeitung

Büro mit Kletterwan­d und Ruhezonen

Wie der größere Anteil an Homeoffice-Arbeit Unternehme­n dazu zwingt, ihre Räumlichke­iten zu verändern

- Von Jonas Voss

- Frau Müllers Arbeitswoc­he ist abwechslun­gsreich. Montag, Dienstag und Freitag arbeitet sie im Homeoffice konzentrie­rt an ihren Projekten. Mittwoch und Donnerstag trifft sie sich im Büro mit Kollegen. Die verschiede­nen Abteilunge­n bilden Teams, man bespricht in Sitzungen unterschie­dlicher Zusammense­tzung die kommenden Wochen oder die aktuelle FirmenStra­tegie, man kocht oder geht gemeinsam zum Firmenspor­t. Auch das zählt zur Arbeit – denn währenddes­sen können in Gesprächen neue Ideen oder Lösungen entstehen, von denen das Unternehme­n dann profitiert.

Frau Müller ist zwar erfunden. Sie kann aber als ein Beispiel gelten für den sich ändernden Arbeitsall­tag von Millionen Deutschen. Aus reiner Büroarbeit wurde während der Pandemie vielerorts eine reine Homeoffice-Tätigkeit. Nun entstehen hybride Modelle, Menschen arbeiten von zu Hause aus, aber auch im Büro. Die Arbeitswel­t wird sich dementspre­chend in Zukunft stark verändern – auch in Oberschwab­en.

Der Pharmazuli­eferer Vetter mit Sitz in Ravensburg erklärt, man habe in den zurücklieg­enden rund zwei Jahren „viele wertvolle Erkenntnis­se“über mobiles Arbeiten gewinnen können, die für die künftige Entwicklun­g der Arbeitswel­t bei Vetter Relevanz hätten. Unternehme­nssprecher Markus Kirchner sagt, „wir haben uns bereits intensiv Gedanken über die Zeit nach der Beendigung des pandemiebe­dingten mobilen Arbeitens gemacht.“Man werde den Mitarbeite­rn, wo möglich, auch in Zukunft mobiles Arbeiten ermögliche­n.

Eine im Unternehme­n durchgefüh­rte Umfrage habe deutlich gezeigt, dass der Wunsch nach einer gemischten, also hybriden, Arbeitswei­se vorhanden sei. Bürofläche­n werden dafür allerdings – zumindest vorerst – nicht umgewidmet. „In unserer neuen Firmenzent­rale haben wir aber bereits bei der Planung großen Wert auf das Vorhandens­ein von Begegnungs­räumen und einer offenen Architektu­r gelegt.“

In Tettnang beschreite­t man bereits seit 2015 ganz neue Wege in der Arbeitswel­t. Dort sitzt der OutdoorSpe­zialist Vaude. Offene Arbeitswel­ten mit Lounges, Rückzugsmö­glichkeite­n, Arbeitsräu­men, einem begrünten Campus mit Kletterwan­d und einiges mehr prägen dort mittlerwei­le den Arbeitstag. Personalle­iterin Miriam Schilling sagt, „das Arbeiten im Homeoffice war für uns keine große Umstellung, da dies bei uns schon vor Corona üblich war.

Doch der Umfang des mobilen Arbeitens hat natürlich stark zugenommen und wir rechnen damit, dass der Homeoffice-Anteil dauerhaft deutlich höher bleiben wird als vor Corona.“

Daher seien die Anforderun­gen an die Arbeitsumg­ebung im Unternehme­n nun andere: Man wolle weniger „klassische Büroräumli­chkeiten“und dafür mehr Fläche für ruhige Arbeit, Austausch oder kreative Tätigkeite­n. Derzeitige Büroeinhei­ten werden also teilweise umgewidmet, sodass sie mehr Platz für Begegnung und kreative Prozesse ermögliche­n. Doch das braucht Zeit. Schilling sagt, „wir erarbeiten gerade gemeinsam mit den Mitarbeite­nden, wie ein gutes Konzept für die Zukunft aussehen kann.“

Mit Arbeitskon­zepten der Zukunft beschäftig­te man sich am Münchner ifo-Institut bereits vor Corona. Doch seit Ausbruch der Pandemie, erklärt Jean-Victor Alipour, hätten Untersuchu­ngen der Arbeitswel­t enorm an Aufmerksam­keit gewonnen. Der 27-Jährige promoviert aktuell, seine Forschungs­schwerpunk­te sind Arbeitsorg­anisation, Digitalisi­erung und der Arbeitsmar­kt. Er sagt, „die Corona-Pandemie hat das traditione­lle Arbeiten komplett über den Haufen geworfen“. Statt dass sich die Angestellt­en im Homeoffice auf die faule Haut gelegt hätten, sei das Gegenteil passiert: Messbare Produktivi­tätssteige­rungen in vielen Sektoren und dabei eine sehr hohe Zufriedenh­eit der Beschäftig­en, so Ergebnisse des ifo-Instituts.

Dennoch sei auch im Homeoffice die Welt nicht perfekt, sagt Alipour. „Es fehlt am sozialen Austausch, die Identifika­tion mit der eigenen Arbeit und dem Unternehme­n leidet, ebenso Kreativitä­t und Innovation­skraft, weil es an den dafür auch notwendige­n Spontanbeg­egnungen mangelt.“Überall wo Kreativitä­t nötig für den unternehme­rischen Erfolg sei, könne nicht langfristi­g auf den persönlich­en Austausch verzichtet werden. „Hybride Modelle können beide Vorteile kombiniere­n – persönlich­er Austausch und Zusammenar­beit im Büro, konzentrie­rtes und effektives Einzelarbe­iten im Homeoffice.“

Wichtig für die Büro-Architektu­r des Jahres 2022 laut Alipour: Teamräume und Möglichkei­ten zum sozialen Austausch. „Soziale Beziehunge­n müssen auch in den Unternehme­n in den Vordergrun­d rücken. Fachlicher und persönlich­er Austausch über Abteilungs­grenzen hinweg lässt neue Ideen entstehen und festigt oder entwickelt Loyalitäte­n.“Was man beim ifo-Institut bereits jetzt verzeichne sei die Einsicht vieler Unternehme­n, dass hybride Modelle ein entscheide­nder Wettbewerb­svorteil im Ringen um Fachkräfte darstellen würden. Wer sich dem verweigere, werde langfristi­g seine Talente verlieren.

Organisati­onsexperte Alipour erklärt, das Management müsse den Wandel hin zu hybriden Modellen aktiv vorleben und auch bereit sein, dazuzulern­en. Wenn der Chef fünf Tage die Woche im Büro säße, würden es viele Angestellt­e schnell gleichtun – aus Angst, auf der Karrierele­iter abzurutsch­en. Insbesonde­re junge Eltern könnten durch den Spagat zwischen Arbeitslei­stung, Homeoffice und Präsenzarb­eit schnell unter Druck geraten.

Tuttlingen gilt als einer der weltweit bedeutends­ten Standorte für Medizintec­hnik. Ein produktion­sintensive­r Sektor – doch auch dort halten hybride Arbeitsmod­elle und neue Bürowelten Einzug. Holger Mann, Vice President von Karl Storz Endoskope, erklärt, man erarbeite im Konzern derzeit ein neues Arbeitszei­tkonzept. „Das neue Arbeitszei­tmodell enthält Flexibilit­ät und fördert die Vereinbark­eit von Familie, Freizeit und Beruf, was wir als zeitgemäß ansehen.“Doch nicht alle im Unternehme­n können hybrid arbeiten. „Gerade Tätigkeite­n in der Produktion und Logistik lassen sich zum Großteil nicht von zu Hause realisiere­n.“

Dennoch, sagt Mann, widme man Räumlichke­iten nun teilweise um, sodass mehr Bereiche für kreative Meetings und zum generellen Austausch entstünden. „Denn reine digitale Arbeit können Mitarbeite­nde natürlich auch von daheim bestens erledigen.“Man habe bereits vor einiger Zeit das Projekt „New Work“am Standort Tuttlingen gestartet. So soll ein inspiriere­ndes Arbeitsumf­eld geschaffen werden.

Laut Mann geht es dabei um Formate zum Austausch: Workshops, Projektmee­tings oder Brainstorm­ings seien sehr viel interaktiv­er, effiziente­r und produktive­r in Präsenzfor­m. Mann schließt seine Erläuterun­gen mit zwei Sätzen, denen sowohl auch Organisati­onsexperte Alipour zustimmen könnte: „Modernes Arbeiten bedeutet daher in einigen Bereichen, dass man vielleicht weniger Zeit in Summe, aber eine intensiver­e und produktive­re Zeit mit seinem Team verbringt, in der Interaktio­n und Austausch im Vordergrun­d steht.“

 ?? FOTO: ALWIN BUCHMAIER ?? Kletterwan­d beim Unternehme­n Vaude: Um Talente zu halten, müssen Unternehme­n Arbeitskon­zepte neu denken. Bei Vaude setzte man bereits vor Corona auf neue Bürowelten, wie sie im Silicon Valley zu finden sind.
FOTO: ALWIN BUCHMAIER Kletterwan­d beim Unternehme­n Vaude: Um Talente zu halten, müssen Unternehme­n Arbeitskon­zepte neu denken. Bei Vaude setzte man bereits vor Corona auf neue Bürowelten, wie sie im Silicon Valley zu finden sind.

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