Büro mit Kletterwand und Ruhezonen
Wie der größere Anteil an Homeoffice-Arbeit Unternehmen dazu zwingt, ihre Räumlichkeiten zu verändern
- Frau Müllers Arbeitswoche ist abwechslungsreich. Montag, Dienstag und Freitag arbeitet sie im Homeoffice konzentriert an ihren Projekten. Mittwoch und Donnerstag trifft sie sich im Büro mit Kollegen. Die verschiedenen Abteilungen bilden Teams, man bespricht in Sitzungen unterschiedlicher Zusammensetzung die kommenden Wochen oder die aktuelle FirmenStrategie, man kocht oder geht gemeinsam zum Firmensport. Auch das zählt zur Arbeit – denn währenddessen können in Gesprächen neue Ideen oder Lösungen entstehen, von denen das Unternehmen dann profitiert.
Frau Müller ist zwar erfunden. Sie kann aber als ein Beispiel gelten für den sich ändernden Arbeitsalltag von Millionen Deutschen. Aus reiner Büroarbeit wurde während der Pandemie vielerorts eine reine Homeoffice-Tätigkeit. Nun entstehen hybride Modelle, Menschen arbeiten von zu Hause aus, aber auch im Büro. Die Arbeitswelt wird sich dementsprechend in Zukunft stark verändern – auch in Oberschwaben.
Der Pharmazulieferer Vetter mit Sitz in Ravensburg erklärt, man habe in den zurückliegenden rund zwei Jahren „viele wertvolle Erkenntnisse“über mobiles Arbeiten gewinnen können, die für die künftige Entwicklung der Arbeitswelt bei Vetter Relevanz hätten. Unternehmenssprecher Markus Kirchner sagt, „wir haben uns bereits intensiv Gedanken über die Zeit nach der Beendigung des pandemiebedingten mobilen Arbeitens gemacht.“Man werde den Mitarbeitern, wo möglich, auch in Zukunft mobiles Arbeiten ermöglichen.
Eine im Unternehmen durchgeführte Umfrage habe deutlich gezeigt, dass der Wunsch nach einer gemischten, also hybriden, Arbeitsweise vorhanden sei. Büroflächen werden dafür allerdings – zumindest vorerst – nicht umgewidmet. „In unserer neuen Firmenzentrale haben wir aber bereits bei der Planung großen Wert auf das Vorhandensein von Begegnungsräumen und einer offenen Architektur gelegt.“
In Tettnang beschreitet man bereits seit 2015 ganz neue Wege in der Arbeitswelt. Dort sitzt der OutdoorSpezialist Vaude. Offene Arbeitswelten mit Lounges, Rückzugsmöglichkeiten, Arbeitsräumen, einem begrünten Campus mit Kletterwand und einiges mehr prägen dort mittlerweile den Arbeitstag. Personalleiterin Miriam Schilling sagt, „das Arbeiten im Homeoffice war für uns keine große Umstellung, da dies bei uns schon vor Corona üblich war.
Doch der Umfang des mobilen Arbeitens hat natürlich stark zugenommen und wir rechnen damit, dass der Homeoffice-Anteil dauerhaft deutlich höher bleiben wird als vor Corona.“
Daher seien die Anforderungen an die Arbeitsumgebung im Unternehmen nun andere: Man wolle weniger „klassische Büroräumlichkeiten“und dafür mehr Fläche für ruhige Arbeit, Austausch oder kreative Tätigkeiten. Derzeitige Büroeinheiten werden also teilweise umgewidmet, sodass sie mehr Platz für Begegnung und kreative Prozesse ermöglichen. Doch das braucht Zeit. Schilling sagt, „wir erarbeiten gerade gemeinsam mit den Mitarbeitenden, wie ein gutes Konzept für die Zukunft aussehen kann.“
Mit Arbeitskonzepten der Zukunft beschäftigte man sich am Münchner ifo-Institut bereits vor Corona. Doch seit Ausbruch der Pandemie, erklärt Jean-Victor Alipour, hätten Untersuchungen der Arbeitswelt enorm an Aufmerksamkeit gewonnen. Der 27-Jährige promoviert aktuell, seine Forschungsschwerpunkte sind Arbeitsorganisation, Digitalisierung und der Arbeitsmarkt. Er sagt, „die Corona-Pandemie hat das traditionelle Arbeiten komplett über den Haufen geworfen“. Statt dass sich die Angestellten im Homeoffice auf die faule Haut gelegt hätten, sei das Gegenteil passiert: Messbare Produktivitätssteigerungen in vielen Sektoren und dabei eine sehr hohe Zufriedenheit der Beschäftigen, so Ergebnisse des ifo-Instituts.
Dennoch sei auch im Homeoffice die Welt nicht perfekt, sagt Alipour. „Es fehlt am sozialen Austausch, die Identifikation mit der eigenen Arbeit und dem Unternehmen leidet, ebenso Kreativität und Innovationskraft, weil es an den dafür auch notwendigen Spontanbegegnungen mangelt.“Überall wo Kreativität nötig für den unternehmerischen Erfolg sei, könne nicht langfristig auf den persönlichen Austausch verzichtet werden. „Hybride Modelle können beide Vorteile kombinieren – persönlicher Austausch und Zusammenarbeit im Büro, konzentriertes und effektives Einzelarbeiten im Homeoffice.“
Wichtig für die Büro-Architektur des Jahres 2022 laut Alipour: Teamräume und Möglichkeiten zum sozialen Austausch. „Soziale Beziehungen müssen auch in den Unternehmen in den Vordergrund rücken. Fachlicher und persönlicher Austausch über Abteilungsgrenzen hinweg lässt neue Ideen entstehen und festigt oder entwickelt Loyalitäten.“Was man beim ifo-Institut bereits jetzt verzeichne sei die Einsicht vieler Unternehmen, dass hybride Modelle ein entscheidender Wettbewerbsvorteil im Ringen um Fachkräfte darstellen würden. Wer sich dem verweigere, werde langfristig seine Talente verlieren.
Organisationsexperte Alipour erklärt, das Management müsse den Wandel hin zu hybriden Modellen aktiv vorleben und auch bereit sein, dazuzulernen. Wenn der Chef fünf Tage die Woche im Büro säße, würden es viele Angestellte schnell gleichtun – aus Angst, auf der Karriereleiter abzurutschen. Insbesondere junge Eltern könnten durch den Spagat zwischen Arbeitsleistung, Homeoffice und Präsenzarbeit schnell unter Druck geraten.
Tuttlingen gilt als einer der weltweit bedeutendsten Standorte für Medizintechnik. Ein produktionsintensiver Sektor – doch auch dort halten hybride Arbeitsmodelle und neue Bürowelten Einzug. Holger Mann, Vice President von Karl Storz Endoskope, erklärt, man erarbeite im Konzern derzeit ein neues Arbeitszeitkonzept. „Das neue Arbeitszeitmodell enthält Flexibilität und fördert die Vereinbarkeit von Familie, Freizeit und Beruf, was wir als zeitgemäß ansehen.“Doch nicht alle im Unternehmen können hybrid arbeiten. „Gerade Tätigkeiten in der Produktion und Logistik lassen sich zum Großteil nicht von zu Hause realisieren.“
Dennoch, sagt Mann, widme man Räumlichkeiten nun teilweise um, sodass mehr Bereiche für kreative Meetings und zum generellen Austausch entstünden. „Denn reine digitale Arbeit können Mitarbeitende natürlich auch von daheim bestens erledigen.“Man habe bereits vor einiger Zeit das Projekt „New Work“am Standort Tuttlingen gestartet. So soll ein inspirierendes Arbeitsumfeld geschaffen werden.
Laut Mann geht es dabei um Formate zum Austausch: Workshops, Projektmeetings oder Brainstormings seien sehr viel interaktiver, effizienter und produktiver in Präsenzform. Mann schließt seine Erläuterungen mit zwei Sätzen, denen sowohl auch Organisationsexperte Alipour zustimmen könnte: „Modernes Arbeiten bedeutet daher in einigen Bereichen, dass man vielleicht weniger Zeit in Summe, aber eine intensivere und produktivere Zeit mit seinem Team verbringt, in der Interaktion und Austausch im Vordergrund steht.“