Die Wilhelm-Tell-Saga als Krimi
Autor Joachim B. Schmidt wagt sich ans Allerheiligste der Schweizer
Hut, Stange, Sohn, Apfel, Armbrust, Tyrann – tot. Wem dämmert nicht bei diesen paar Stichworten: Es geht um Wilhelm Tell, jenen Schweizer Freiheitshelden, den viele aus dem Deutschunterricht kennen. Bis heute wird Friedrich Schillers erfolgreichstes Drama (1804) auf der Bühne immer wieder neu interpretiert. Seit dem Jahr 1900 wurde es mindestens zehnmal verfilmt, musste zeitweise den Nationalsozialisten, den Kommunisten, den 68ern und anderen für ihre jeweiligen Ziele und Ideologien herhalten. Kann der Stoff noch mehr?
Vielleicht. Der Schriftsteller Joachim B. Schmidt, 1981 in Graubünden geboren, hat jetzt den Roman „Tell“vorgelegt. Das Besondere: Der Plot rund um die – historisch nicht belegte – Person Wilhelm Tell wird nicht linear, sondern von rund 20 Protagonisten in knapp 100 Sequenzen aus der Ich-Perspektive erzählt; oder besser gesagt: vorangejagt.
So entsteht ein Thriller aus wesentlichen Motiven der Sage, deren sich auch Schiller bediente: Im 13.Jahrhundert besetzen die Habsburger die strategisch und wirtschaftlich interessante Region um den Vierwaldstättersee und gängeln die Menschen durch hohe Steuern, Gewalt und Despotismus. So befiehlt Landvogt Hermann Gessler, dass die Bevölkerung seinen auf einer Stange platzierten Hut grüßen muss. Als der Bergbauer Wilhelm Tell das unterlässt, verurteilt ihn Gessler zum berühmten Apfelschuss: Er soll mit der Armbrust einen Apfel vom Kopf seines Sohnes schießen. Später tötet Tell den Vogt.
Schmidt lässt aus Sage und Drama bekannte Personen wie die Hauptfigur Tell, seinen Sohn Walter, Gessler oder Rudolph der Harras auftreten.
Dagegen spielen die Schweizer Freiheitskämpfer, die den historischen Rütli-Schwur leisteten, keine Rolle. Stattdessen dürfen vermeintliche Randfiguren wie eine Bäuerin, Soldaten sowie ein junger Pfarrer erzählen. Insbesondere die Frauen wie Tells Mutter, Schwiegermutter und Ehefrau Hedwig sind als beeindruckende Persönlichkeiten skizziert.
Auch die Charaktere der großen Gegenspieler ändert der Autor: Tell ist ein wortkarger, unheimlich wirkender Bergbauer, auf dem sichtlich ein Geheimnis lastet. Und aus dem bösen, hartherzigen Gessler wird ein unsicherer, sensibler Mann, der am liebsten bei Frau und Tochter wäre. Dass er den widerspenstigen Tell zu dem unmenschlichen Apfelschuss verurteilt, ist eine verunglückte Machtdemonstration seinem Diener Harras gegebenüber. Denn anders als bei Schiller ist dieser der wahrhaft Böse der Geschichte.
Ebenso bestückt der Autor die Familie Tell mit einem verschollenen jüngeren Bruder Peter, der wie ein Menetekel durch die Geschichte geistert. Mit ihm hängt auch Tells dunkles Geheimnis zusammen. Es geht dabei auch um den jungen Pfarrer sowie einen alten Pastor aus der gemeinsamen Kindheit der drei. Dieser neue Handlungsstrang wirkt fast wie ein Kommentar zu aktuellen Debatten rund um die Kirche heute.
Besonders stark sind die Antagonisten Tell und Gessler ausgeleuchtet – bis zum blutigen Showdown. In seiner Todesstunde dämmert es dem sehr modern gezeichneten freudlosen Besatzer Gessler: „Niemand will uns hier, alle wollen in Ruhe gelassen werden. Sie leben nach ihren eigenen Gesetzen und verteidigen sich in der Not eben selbst. Sie alle sind Tell.“
Insgesamt haftet dem spannenden Buch etwas skandinavisch Düsteres an. Nicht von ungefähr, denn der Schweizer Schmidt, Autor von Romanen und Kurzgeschichten, lebt seit Jahren in Reykjavik, wo er auch als Touristenführer arbeitet. In seiner Danksagung am Ende des Buches wird klar, dass er sich von Sagen seiner Wahlheimat und dem isländischen Bürgerkrieg des 13. Jahrhunderts inspirieren ließ.
„Tell“schwankt zwischen mystisch-romantischem Schauermärchen, bei dem als wiederkehrendes Motiv ein rätselhafter Bär auftaucht, und moderner Interpretation eines inneren und äußeren Kampfes, den Tell wie auch Gessler wider Willen austragen müssen. Ein interessantes Romanexperiment, das auch ohne Kenntnis der klassischen Vorlage fesseln kann. (KNA)
Joachim B. Schmidt: Tell, Diogenes Verlag, 283 Seiten, 22 Euro.