Die neue Lockerheit der Schweiz
Wie die Eidgenossen das Ende fast aller Corona-Maßnahmen erleben
Von Ulrich Mendelin und Jan Dirk●Herbermann
- Es fühlt sich ungewohnt an, eine Gaststube ohne Mundschutz zu betreten, aber der Bundespräsident hat es erlaubt. Ignazio Cassis, das Staatsoberhaupt der Schweiz, hat gerade erst das Ende fast aller Corona-Beschränkungen verkündet. Bei der Pressekonferenz nahm er demonstrativ die Maske ab. Die Schweizer haben es ihm gleichgetan, auch diejenigen, die an diesem Abend die gut gefüllte Gaststube des „Rössli“in Alt Sankt Johann bevölkern, einem Wintersportort im Hochtal Toggenburg zwischen Säntis und Churfirsten im südlichen Kanton Sankt Gallen. Gäste, Kellner, auch die Köche in der einsehbaren Küche – keiner trägt eine Maske.
Den QR-Code mit dem Nachweis, ob jemand geimpft oder genesen ist, muss Gastwirt Philipp Bauer auch nicht mehr kontrollieren. „Aus betrieblicher Sicht ist das schon eine Erleichterung“, erzählt der 35-jährige gebürtige Ingolstädter und eingeheiratete Toggenburger. „Ich bin froh, dass wir nicht mehr Polizist spielen müssen.“Die Diskussionen an Schweizer Gaststättentüren waren dabei nicht anders als in Deutschland: „Viele sind schon mit dem Handy gekommen, um den QR-Code zu zeigen. Aber andere wollten dann anfangen zu diskutieren.“Das ist nun nicht mehr nötig. An die Pandemie erinnert weiterhin ein Desinfektionsspender, dezent aufgestellt im Eingangsbereich des Gasthauses.
„Natürlich müssen wir keine Angst haben vor einer Rückkehr zur Normalität“, versicherte Bundespräsident Cassis seinen Landsleuten. „Aber wir sollten auch nicht zu enthusiastisch sein.“Den Aufruf kommentierte die „Neue Zürcher Zeitung“mit leichter Ironie: „Kein Enthusiasmus, bitte! Der Bundesrat beendet die Pandemie so, wie er sie bewältigt hat.“
Jedenfalls ist die Schweiz mit ihrer neuen Lockerheit ein Vorreiter. Österreich will bald nachziehen, Deutschland reduziert die Einschränkungen schrittweise, am 20. März entfallen die 2G- und 3G-Regeln. Niemand aber hat so schnell gehandelt wie die Eidgenossen,
die ihre Freiheiten größtenteils wieder genießen können. Nicht nur in der Gastronomie, auch in Geschäften wurden Zertifikats- und Maskenpflicht gestrichen. Und wer die Grenze zur Schweiz überquert, muss keinen „Impf-, Genesungsoder negativen Testnachweis und kein ausgefülltes Einreiseformular“mehr vorlegen.
„Von nichts dürfen zu alles dürfen, und das von einem Tag auf den anderen“, so umschreibt Karl Alpiger die neue Schweizer Linie. Der ehemalige Skirennfahrer, in den 1980er-Jahren fünfmal Sieger bei Weltcuprennen, betreibt heute neben zwei Skigeschäften im Toggenburg auch die Schirmbar Wildhouse direkt am Auslauf einer Talabfahrt. „Als Gastronomen waren wir schon erstaunt, dass das so schnell ging“, sagt er. „Aber wir sind froh, dass wir ein bisschen was aufholen können.“Auf der Terrasse seiner Schirmbar herrscht reger Betrieb, Gruppen sitzen zum Ende des Skitages zusammen. Die letzte Wintersaison habe er mit 90 Prozent weniger Einnahmen im Gastrobereich abgeschlossen. Sie hatten nur einen Zapfhahn in die Tür des benachbarten Sportgeschäfts gestellt, für den Straßenverkauf. Die Skigebiete waren offen, die Beizli, wie die Einkehrschwünge in der Schweiz heißen, blieben praktisch die gesamte Wintersaison geschlossen. In dieser Saison komme man immerhin wieder auf 60 bis 70 Prozent eines guten Jahres, sagt Alpiger, der aber auch eine Veränderung im Verhalten der Gäste wahrnimmt. „Das mit dem AprèsSki ist nicht mehr so wie früher, wo die Leute auf den Tischen gestanden sind.“Die Gäste würden weniger Alkohol trinken. Besser gehen jetzt Punsch, Schoggi und Ovomaltine. Allerdings muss man sagen, auch vor Corona war das Toggenburg nicht Ischgl.
Seit die Pandemie im Februar 2020 ihren Lauf nahm, steuerte die Schweizer Regierung einen moderaten Kurs. So wurden die Schulen nur in der Frühphase des Ausbruchs für mehrere Wochen geschlossen, die Maskenpflicht kam erst spät. Wie im Toggenburg hielten auch die meisten anderen Wintersportgebiete die Pisten offen: Ski und Rodel gut. Die Bilanz fällt gemischt aus. Die Organisation
„CH++“des Epidemiologen Marcel Salathé fasst in einer Studie zusammen: „Während der letzten zwei Jahre konnten die Auswirkungen der Maßnahmen auf das wirtschaftliche und gesellschaftliche Leben im internationalen Vergleich verhältnismäßig gering gehalten werden.“Weiter heißt es in einer Analyse: „Andererseits verzeichnete die Schweiz im November und Dezember 2020 infolge einer starken Ausbreitung von Sars-CoV-2 die höchste Übersterblichkeit in Westeuropa.“Zudem weise Helvetien die niedrigste Impfrate von Westeuropa auf, und die Booster-Kampagne sei spät ins Rollen gekommen. Insgesamt starben in der Schweiz 12 700 Covid-19-Erkrankte. Im Vergleich zur Gesamtbevölkerung verzeichnet die Eidgenossenschaft damit in etwa so viele Corona-Todesfälle wie Deutschland.
Die Autoren von CH++ sehen zwei Gründe für die nicht vollständig überzeugende Performance der Schweiz: Zum einen hätten die Politiker zu wenig auf die Wissenschaftler gehört. Zum anderen setzten die Behörden einmal gefällte Beschlüsse zu langsam und zu schwerfällig um. Hinzu kam der Flickenteppich verschiedener Regeln in den 26 Kantonen: So trug es sich zu, dass der Kanton Genf den Betrieb von Friseursalons vorübergehend untersagte. Im benachbarten Kanton Waadt durften die Haarstylisten jedoch weitermachen. Die Folge: Die Genferinnen und Genfer strömten zu den Coiffeuren in der Waadt.
Die Kantonsregierung in Sankt Gallen, so erzählt es Rössli-Wirt Bauer, gehörte im innerschweizerischen Vergleich zu denen, die es mit den Auflagen eher locker hielten. Am anderen Ende der Skala standen die frankophonen Kantone und das Tessin, das den frühen Corona-Hotspot Bergamo praktisch vor der Haustür hat. „Der RöschtiGraben“, sagt Bauer mit Blick auf die traditionelle Spaltung zwischen deutschsprachigen und lateinischen Schweizern, „den gab es auch in der Corona-Politik.“
Das Hin und Her sowie die Beschneidungen der Freiheit trieb zeitweise viele Schweizer auf die Straße. Bei Corona-Protestmärschen flogen sogar die Fäuste. Gewaltbereitschaft,
gefühlte Ohnmacht und Zorn gegen die politischen Entscheidungsträger vermengten sich regelmäßig zu einem gefährlichen Mix, der die sonst so ruhige Eidgenossenschaft besonders 2021 in Atem gehalten hat. Doch letztlich stärkte ein Großteil der Bevölkerung der Regierung den Rücken – in bester helvetischer Tradition bei einem Referendum. Nach einem hitzig geführten Abstimmungskampf sagten im November 2021 rund 62 Prozent der Schweizerinnen und Schweizer Ja zu neuen Teilen des Covid-19-Gesetzes. Parlament und Kabinett hatten das Paket schon gebilligt. Damit blieb etwa die gesetzliche Grundlage für das CovidZertifikat bestehen.
Auch Philip Hermann ist mit dem Corona-Kurs seiner Regierung zufrieden. Er sitzt im Eck des Gipfelrestaurants im Skigebiet Chäserrugg, den Skitag hat er für ein zünftiges Mittagessen unterbrochen. Gerade hat die Kellnerin – trotz des weggefallenen Gebots noch mit Maske – das Essen gebracht. „Ach, die Maske hat mich nicht gestört“, sagt der Toggenburger, der im Vertrieb einer Brauerei arbeitet. „Mich hat eher die Zweiklassengesellschaft gestört und die leidige Diskussion mit der Zertifikatspflicht, wenn man zum Beispiel mit jemandem essen gehen wollte, der ungeimpft ist.“Er war kürzlich in Südtirol, erzählt Hermann weiter. „Da musst du im Skigebiet FFP2Masken tragen und jeden Tag deinen Green Pass aktualisieren.“Er kenne Hoteliers in Südtirol, die hätten ihm gesagt: Ihr Schweizer, ihr habt es so schön. Hermann überlegt, und nickt dann. „Ja, wir haben es schön gehabt.“
Auch im Kantonsklinikum Sankt Gallen ist man ebenfalls entspannt. Eine Woche nachdem die Regierung in Bern die Lockerungen verkündet hat, heißt es von dort, die Lage sei stabil. „Nach wie vor sehen wir einzelne Neueintritte mit schweren Covid-Erkrankungen; diese sind aber zur Zeit mit den uns regulär zur Verfügung stehenden Mitteln gut zu bewältigen“, teilt auf Nachfrage Miodrag Filipovic mit, der Leiter der Chirurgischen Intensivstation. „Wir hoffen – und erwarten –, dass es zu keinem markanten Anstieg der Hospitalisationen mehr kommen wird.“Für eine abschließende Beurteilung des Effektes der Lockerungen sei es aber noch zu früh.
Ganz vorbei mit den CoronaMaßnahmen ist es allerdings noch nicht. Bis Ende März gelten einige Maßnahmen weiter. Eine davon ist die Maskenpflicht im öffentlichen Verkehr, zu dem in der Schweiz auch die Seilbahnen gehören. Sofern die Gondeln geschlossen sind, müssen Skifahrer darin Mund und Nase bedecken. Die meisten ziehen einfach den Schal etwas nach oben, was ausreichend ist, denn eine FFP2-Pflicht gab es in der Schweiz nie. Manche empfinden aber auch das noch als Zumutung, so wie ein junger Snowboarder, der mit etwa 30 weiteren Personen in die Seilbahngondel zum Chäserrugg-Gipfel gestiegen ist.
„He, da, mit der blauen Jacke, Maske auf!“, ruft der Liftführer ihm zu. „Was?“, fragt der zurück. „Alle müssen Maske tragen!“– „Ist mir neu.“Belustigte, vielleicht auch ironische Lacher in der Kabine. Der Liftführer hält dem jungen Mann eine Einmalmaske hin. „Ich hab’ ein Dispens“, beharrt der. Jetzt ist der Seilbahn-Angestellte schon etwas ungehalten. „Dann geh wenigstens zum offenen Fenster.“Mit einem „Excusé“drängelt sich der Snowboarder durch. Beim Aussteigen an der Bergstation ignorieren sich die beiden Männer, der Snowboarder verschwindet im Schnee.
Ignazio Cassis, der Schweizer Bundespräsident, der die Lockerungen verkündet hatte, konnte diese zunächst nicht selbst genießen. Einen Tag nach der Pressekonferenz, bei der er die Maske abgenommen hatte, wurde er positiv auf Corona getestet. Die Regierung teilte mit, es gehe ihm gesundheitlich gut.
Karl Alpiger, Gastronom
und ehemaliger Skirennfahrer, über die Schweizer Corona-Regeln.