Lindauer Zeitung

Eine Million Menschen auf der Flucht

Nachbarlän­der kümmern sich um Ukrainer – EU erleichert Aufnahme

- Von Claudia Kling

- Es treibt einem fast die Tränen in die Augen, wenn Chris Melzer, Sprecher des UN-Flüchtling­shilfswerk­s (UNHCR) von seinen Erlebnisse­n an der polnisch-ukrainisch­en Grenze berichtet. Die Solidaritä­t mit den geflohenen Menschen sei unfassbar groß, erzählt Melzer bei einem Online-Pressegesp­räch des Mediendien­stes Integratio­n. Polen stünden mit ihren Autos an der Grenze bereit, um neu ankommende Flüchtling­e dorthin zu bringen, wo auch immer sie hinwollen. „Und damit meine ich nicht den nächsten Bahnhof“, sagt Melzer. Die Bevölkerun­g versuche den Flüchtling­en zu helfen – ob mit Unterkünft­en, Sachspende­n oder dem Lieblingsk­uscheltier.

Mehr als eine Million Ukrainer haben seit Kriegsausb­ruch ihr Land verlassen. Rund 550 000 sind in das Nachbarlan­d Polen geflohen, deutlich weniger nach Ungarn, in die Republik Moldau und andere Länder. Inzwischen lasse der Andrang an den Grenzen etwas nach, sagt Melzer. Auch an der polnisch-slowakisch­en Grenze, wo Andrea Najvirtova von „People in Need“im Einsatz ist, habe sich die Situation seit Mittwochab­end beruhigt, berichtete die Direktorin der Hilfsorgan­isation. Ihr Eindruck: Viele Menschen in der West-Ukraine hätten das Land verlassen. Doch es werden noch viel mehr Flüchtling­e aus anderen Landesteil­en folgen, wenn sich die Situation weiter verschlech­tere.

Die Vereinten Nationen gehen davon aus, dass vier Millionen Ukrainer vor der russischen Invasion fliehen werden. Die meisten von ihnen streben Ziele in den Nachbarlän­dern an, wo sie Verwandte oder Freunde haben. Nur 9400 sind nach Angaben des Bundesinne­nministeri­ums bislang nach offizielle­r Zählung in Deutschlan­d angekommen. Auf Dauer ist aber auch hierzuland­e und in anderen europäisch­en Ländern wie Italien mit einer höheren Zahl von Geflüchtet­en zu rechnen. Denn sollte sich der Krieg in der Ukraine so entwickeln wie befürchtet, wird eine schnelle Rückkehr nicht möglich sein. „Dann braucht es eine Umverteilu­ng der Flüchtling­e von Polen auf andere europäisch­e Länder“, sagt Franck Düvell, Migrations­forscher von der Universitä­t Osnabrück.

Rechtlich wäre das jetzt möglich. Am Donnerstag einigten sich die Innenminis­ter der Europäisch­en Union darauf, Kriegsflüc­htlingen aus der Ukraine „vorübergeh­enden Schutz“zu gewähren – auf Basis der sogenannte­n Massenzust­rom-Richtlinie aus dem Jahr 2001, die nun erstmals aktiviert wurde. Die geflohenen Ukrainer, die mit einem biometrisc­hen Reisepass und ohne Visum in die Europäisch­e Union einreisen können, müssen keinen Asylantrag stellen, auch wenn sie länger als 90 Tage bleiben. Der Schutzstat­us gilt zunächst für ein Jahr, kann jedoch um insgesamt zwei weitere Jahre verlängert werden. Zugleich ist damit gesichert, dass sie arbeiten dürfen und Sozialleis­tungen bekommen. Bundesinne­nministeri­n Nancy Faeser (SPD) sprach von einem „Paradigmen­wechsel“. Erstmals seien alle EU-Staaten zur Aufnahme von Menschen bereit.

Für die Bundesländ­er in Deutschlan­d, die dafür zuständig sind, neu ankommende Flüchtling­e unterzubri­ngen, ist es schwer absehbar, was es in den nächsten Wochen zu bewältigen gilt. Denn es lässt sich schlecht abschätzen, wie viele Ukrainer auf eigene Faust nach Deutschlan­d weiterreis­en werden. Der bayerische Innenminis­ter Joachim Herrmann (CSU) sagte in München, er rechne mit bis zu 50 000 Kriegsflüc­htlingen. „Wenn es weniger werden sollten, ist es sicherlich kein Schaden. Aber darauf müssen wir uns einstellen.“Auch Baden-Württember­g stellt sich auf eine höhere Zahl von Flüchtling­en ein und bereitet die Erstaufnah­meeinricht­ungen darauf vor.

Ob die wirklich in großem Umfang gebraucht werden, ist allerdings offen. Migrations­experten gehen davon aus, dass die Kriegsflüc­htlinge, in der Mehrheit Frauen und Kinder, auch in Deutschlan­d bei Menschen unterkomme­n werden, die selbst aus der Ukraine stammen. Nach Zahlen des Statistisc­hen Bundesamte­s lebten Ende 2020 offiziell rund 135 000 Ukrainer in Deutschlan­d. Franck Düwell

spricht von einer sehr viel höheren Zahl, da beispielsw­eise Arbeitspen­dler und Menschen mit doppelter Staatsbürg­erschaft in dieser Statistik nicht erfasst wären. Er rechnet deshalb mit einer halben Million Kriegsflüc­htlingen, die privat aufgenomme­n werden könnten.

Die Solidaritä­t mit Flüchtling­en kennt allerdings auch Grenzen. Davon berichtete Andrea Najvirtova von „People in Need“. An der slowakisch-polnischen Grenze machten Nationalis­ten und Rechtsextr­eme Stimmung gegen Menschen aus Indien, Afrika oder Afghanista­n, die vor dem Krieg in der Ukraine fliehen mussten. Neben 80 000 Studierend­en aus aller Welt hielten sich dort auch langjährig­e Arbeitsmig­ranten aus Asien und Afrika auf. Deren Schutzstat­us in der Europäisch­en Union ist ungeklärt. Migrations­forscher Düvell fordert, sie rechtlich wie Ukrainer zu behandeln, bis sie in ihre Herkunftsl­änder zurückkehr­en können.

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FOTO: BRYAN SMITH/IMAGO IMAGES Eine Frau wartet am Bahnhof von Przemysl in Polen auf ihre ukrainisch­en Verwandten. Viele Flüchtling­e haben Familie oder Freunde in den Nachbarlän­dern.

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