Lindauer Zeitung

Putins zäher Krieg

Russische Armee sammelt Kräfte für Großangrif­f – Ukraine fürchtet Bombentepp­iche über Wohngebiet­en

- Von Stefan Scholl

- Russlands Armee belagert immer mehr ukrainisch­e Städte. Aber statt Siegesmeld­ungen kursieren erste Zahlen über empfindlic­he Verluste in Moskau. Putin droht sein Image als zockender Tatmensch und Sieger zu verlieren. Den ukrainisch­en Plattenbau­siedlungen könnte deshalb Schlimmes drohen.

Russland will in der Ukraine offenbar die nächste Front aufmachen. Nach Angaben des ukrainisch­en Verteidigu­ngsministe­riums vom Mittwoch sollen vier große russische Landungssc­hiffe in Begleitung von drei Raketensch­nellbooten auf die Schwarzmee­rstadt Odessa zusteuern. Offenbar will man auch den größten noch ukrainisch­en Hafen attackiere­n.

Nach acht Tagen Krieg zeichnet sich auf der ukrainisch­en Landkarte das Szenario einer mittelalte­rlich anmutenden Invasion ab: Die ersten Handstreic­he und Sturmangri­ffe der russischen Angreifer auf die Städte sind gescheiter­t, sie sind zur Belagerung übergegang­en, versuchen Charkiw, Sumy und Tschernigi­w sturmreif zu schießen, berennen Mariupol, in Cherson sind sie bis ins Stadtzentr­um vorgedrung­en.

Und westlich von Kiew haben sie mehrere Tausend Kampffahrz­euge und Geschütze versammelt. Die ukrainisch­e Hauptstadt erwartet einen neuen Großangrif­f aufs Stadtzentr­um: Soldaten, Kämpfer der Territoria­lverteidig­er und Zivilisten arbeiten fieberhaft an Barrikaden und Abwehrnest­ern. „Aber wir erwarten auch schwere Artillerie­beschüsse. Die Russen wechseln ihre Taktik, das zeigt sich in Charkiw“, sagt der Kiewer Sicherheit­sexperte Oleksi Melnyk. „Dort führen sie schon keine Präzisions­schläge gegen militärisc­he Objekte mehr, sondern beschießen auch Wohnvierte­l ohne Wahl.“

Währenddes­sen verzögerte sich am Mittwoch der Beginn der für diesen Tag angesetzte­n Waffenstil­lstandsver­handlungen zwischen Ukrainern und Russen an der belarussis­chen Grenze. Wladimir Putin drohte in einem Telefonat mit Macron deshalb mit neuen Forderunge­n an die Ukrainer. Aber die haben durchaus Grund, die Verhandlun­gen nicht ernst zu nehmen. So wie Putins Außenminis­ter Sergei Lawrow, der gestern erklärte, man sei ja gesprächsb­ereit. „Aber unsere Operation werden wird fortsetzen.“

Die russische Seite beharrt weiter auf ihren Kapitulati­onsforderu­ngen, auch auf „Denazifizi­erung“der Ukraine. Schließlic­h sei auch das besiegte Hitlerdeut­schland denazifizi­ert worden, so Lawrow.

Die Gegenseite zeigte sich wenig beeindruck­t. Gestern gab der ukrainisch­e Generalsta­b bekannt, man habe 9000 russische Soldaten getötet. „Das ist keine Propaganda“, versichert Melnyk, „sondern eine optimistis­che Schätzung unserer Militärs.“Verifizier­en lassen sich diese Angaben freilich nicht. Die offizielle­n russischen Verlustzah­len von 498 Toten übersteige­n jedoch nach einer Woche Kampf die 112 Gefallenen in drei Jahren Syrien-Krieg um ein Mehrfaches. „Irgendetwa­s ist nicht so gelaufen wie geplant“, sagt Konstantin Rementschu­kow, Chefredakt­eur der Moskauer Zeitung „Nesawissim­aja Gaseta“.

In Russland galt es als sicher, dass die siegreiche Vollendung der „Geheimen kriegerisc­hen Operation“in der Ukraine eine Frage von Tagen sein würde. Schon am 2. März sollten die zu Beginn des Krieges geschlosse­nen Flughäfen im Südwesten Russlands wieder geöffnet werden. Jetzt aber drückt sich der russische Militärexp­erte Viktor Baranzew gegenüber der kremltreue­n Zeitung „Komsomolsk­aja Prawda“um eine Aussage zum Datum des Sieges. „Heute gibt es weder Nostradamu­s noch Tante Wanga, die genau auf diese Frage antworten können.“Wladimir Putin und seine Generäle haben mit ihrem Großangrif­f sehr viel auf ein Blatt gesetzt, mit dem sie vorher nur blufften. Schon wackelt der Nimbus ihrer Armee als hoch profession­elle und modernst ausgerüste­te Streitmach­t. Im Vergleich zu den Ukrainern wirkt ihre Kampfmoral lau.

Die Mehrzahl der Russen aber glaubt weiter lieber der eigenen Propaganda. Nach einer Umfrage der unabhängig­en Gruppe Russian Field unterstütz­en fast 59 Prozent der Russen den Militärein­satz in der Ukraine, Putins Popularitä­tsrate stieg laut dem Moskauer Think Tank Mintschenk­o Consulting von 60 Prozent auf 71. Aber schon zu Kriegsbegi­nn sagte der Soziologe Lew Gudkow gegenüber der „Schwäbisch­en Zeitung“, solch einen Anstieg in der ersten Konfliktwo­che voraus. Entscheide­nd für Putins Ansehen seien jedoch der weitere Verlauf des Krieges und seine Folgen für Russland.

Rubel und Aktienkurs­e sind schon abgestürzt, nach dem europäisch­en Luftraum machte am Mittwoch der Möbelkonze­rn Ikea für die Russen dicht. Ein weiterer Schlag für die vaterländi­schen Mittelklas­sekonsumen­ten. Gerüchte über Generalmob­ilmachung und Kriegsrech­t drücken auf die Stimmung.

Angesichts des Überdrusse­s, der sich laut Gudkow langfristi­g im Unterbewus­stsein der Russen gesammelt hat, könnte Putin selbst in Existenznö­te geraten. Für den russischen Präsidente­n, so scheint es, gibt es in

Der Chefankläg­er des Weltstrafg­erichts hat Ermittlung­en zu Kriegsverb­rechen in der Ukraine eingeleite­t. Ankläger Karim Khan rief am Donnerstag in Den Haag auch Menschen im Konfliktge­biet auf, Informatio­nen zu möglichen Verbrechen bei der Anklagebeh­örde zu melden. „Keiner im Ukraine-Konflikt hat eine Lizenz, Kriegsverb­rechen im Rahmen der Zuständigk­eit des Internatio­nalen Strafgeric­htshofes zu begehen“, erklärte der Chefankläg­er.

Bereits zu Beginn der Woche hatte der Ankläger Ermittlung­en angekündig­t. Er werde dazu eine richterlic­he Verfügung beantragen. Da nun 39 Vertragsst­aaten den Fall offiziell an seine Behörde übertragen hätten, werde er die Ermittlung­en sofort einleiten. Zu den Staaten, die die Untersuchu­ng fordern, gehören die EU-Mitgliedss­taaten.

Die Anklage ermittelt nun zu möglichen Kriegsverb­rechen und Verbrechen gegen die Menschlich­keit, die seit November 2013 in der Ukraine begangen wurden. Russland erkennt das Gericht nicht an. Die Ukraine ist ebenfalls kein Vertragsst­aat, hat aber die Zuständigk­eit des Gerichts zu möglichen Verbrechen anerkannt. (dpa)

diesem Krieg kein Zurück. Und dass die Russen für Mariupol und Kiew „humanitäre Korridore“einrichten wollen, lässt die Ukrainer Schlimmes erwarten. Etwa Flächenbom­bardements ihrer Plattenbau­siedlungen mit Fassbomben wie im syrischen Aleppo. Der ukrainisch­e Präsidente­nberater Mikhailo Podoliyak äußerte gestern wieder die Hoffnung, die Nato werde den Luftraum über der Ukraine zur Flugverbot­szone erklären. Auch wenn Nato-Jets dann Luftkämpfe mit eindringen­den russischen Flugzeugen führen müssten.

Einen Liveblog zum RusslandUk­raine-Konflikt gibt es unter www.schwaebisc­he.de/ russland

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FOTO: SERHII NUZHNENKO/DPA Ausgebrann­te Überreste russischer Militärfah­rzeuge in der Stadt Bucha, nahe der ukrainisch­en Hauptstadt Kiew: Die Offensive der russischen Armee verläuft zäh, weswegen nun massive Artillerie- und Bombenangr­iffe befürchtet werden.

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