Putins zäher Krieg
Russische Armee sammelt Kräfte für Großangriff – Ukraine fürchtet Bombenteppiche über Wohngebieten
- Russlands Armee belagert immer mehr ukrainische Städte. Aber statt Siegesmeldungen kursieren erste Zahlen über empfindliche Verluste in Moskau. Putin droht sein Image als zockender Tatmensch und Sieger zu verlieren. Den ukrainischen Plattenbausiedlungen könnte deshalb Schlimmes drohen.
Russland will in der Ukraine offenbar die nächste Front aufmachen. Nach Angaben des ukrainischen Verteidigungsministeriums vom Mittwoch sollen vier große russische Landungsschiffe in Begleitung von drei Raketenschnellbooten auf die Schwarzmeerstadt Odessa zusteuern. Offenbar will man auch den größten noch ukrainischen Hafen attackieren.
Nach acht Tagen Krieg zeichnet sich auf der ukrainischen Landkarte das Szenario einer mittelalterlich anmutenden Invasion ab: Die ersten Handstreiche und Sturmangriffe der russischen Angreifer auf die Städte sind gescheitert, sie sind zur Belagerung übergegangen, versuchen Charkiw, Sumy und Tschernigiw sturmreif zu schießen, berennen Mariupol, in Cherson sind sie bis ins Stadtzentrum vorgedrungen.
Und westlich von Kiew haben sie mehrere Tausend Kampffahrzeuge und Geschütze versammelt. Die ukrainische Hauptstadt erwartet einen neuen Großangriff aufs Stadtzentrum: Soldaten, Kämpfer der Territorialverteidiger und Zivilisten arbeiten fieberhaft an Barrikaden und Abwehrnestern. „Aber wir erwarten auch schwere Artilleriebeschüsse. Die Russen wechseln ihre Taktik, das zeigt sich in Charkiw“, sagt der Kiewer Sicherheitsexperte Oleksi Melnyk. „Dort führen sie schon keine Präzisionsschläge gegen militärische Objekte mehr, sondern beschießen auch Wohnviertel ohne Wahl.“
Währenddessen verzögerte sich am Mittwoch der Beginn der für diesen Tag angesetzten Waffenstillstandsverhandlungen zwischen Ukrainern und Russen an der belarussischen Grenze. Wladimir Putin drohte in einem Telefonat mit Macron deshalb mit neuen Forderungen an die Ukrainer. Aber die haben durchaus Grund, die Verhandlungen nicht ernst zu nehmen. So wie Putins Außenminister Sergei Lawrow, der gestern erklärte, man sei ja gesprächsbereit. „Aber unsere Operation werden wird fortsetzen.“
Die russische Seite beharrt weiter auf ihren Kapitulationsforderungen, auch auf „Denazifizierung“der Ukraine. Schließlich sei auch das besiegte Hitlerdeutschland denazifiziert worden, so Lawrow.
Die Gegenseite zeigte sich wenig beeindruckt. Gestern gab der ukrainische Generalstab bekannt, man habe 9000 russische Soldaten getötet. „Das ist keine Propaganda“, versichert Melnyk, „sondern eine optimistische Schätzung unserer Militärs.“Verifizieren lassen sich diese Angaben freilich nicht. Die offiziellen russischen Verlustzahlen von 498 Toten übersteigen jedoch nach einer Woche Kampf die 112 Gefallenen in drei Jahren Syrien-Krieg um ein Mehrfaches. „Irgendetwas ist nicht so gelaufen wie geplant“, sagt Konstantin Rementschukow, Chefredakteur der Moskauer Zeitung „Nesawissimaja Gaseta“.
In Russland galt es als sicher, dass die siegreiche Vollendung der „Geheimen kriegerischen Operation“in der Ukraine eine Frage von Tagen sein würde. Schon am 2. März sollten die zu Beginn des Krieges geschlossenen Flughäfen im Südwesten Russlands wieder geöffnet werden. Jetzt aber drückt sich der russische Militärexperte Viktor Baranzew gegenüber der kremltreuen Zeitung „Komsomolskaja Prawda“um eine Aussage zum Datum des Sieges. „Heute gibt es weder Nostradamus noch Tante Wanga, die genau auf diese Frage antworten können.“Wladimir Putin und seine Generäle haben mit ihrem Großangriff sehr viel auf ein Blatt gesetzt, mit dem sie vorher nur blufften. Schon wackelt der Nimbus ihrer Armee als hoch professionelle und modernst ausgerüstete Streitmacht. Im Vergleich zu den Ukrainern wirkt ihre Kampfmoral lau.
Die Mehrzahl der Russen aber glaubt weiter lieber der eigenen Propaganda. Nach einer Umfrage der unabhängigen Gruppe Russian Field unterstützen fast 59 Prozent der Russen den Militäreinsatz in der Ukraine, Putins Popularitätsrate stieg laut dem Moskauer Think Tank Mintschenko Consulting von 60 Prozent auf 71. Aber schon zu Kriegsbeginn sagte der Soziologe Lew Gudkow gegenüber der „Schwäbischen Zeitung“, solch einen Anstieg in der ersten Konfliktwoche voraus. Entscheidend für Putins Ansehen seien jedoch der weitere Verlauf des Krieges und seine Folgen für Russland.
Rubel und Aktienkurse sind schon abgestürzt, nach dem europäischen Luftraum machte am Mittwoch der Möbelkonzern Ikea für die Russen dicht. Ein weiterer Schlag für die vaterländischen Mittelklassekonsumenten. Gerüchte über Generalmobilmachung und Kriegsrecht drücken auf die Stimmung.
Angesichts des Überdrusses, der sich laut Gudkow langfristig im Unterbewusstsein der Russen gesammelt hat, könnte Putin selbst in Existenznöte geraten. Für den russischen Präsidenten, so scheint es, gibt es in
Der Chefankläger des Weltstrafgerichts hat Ermittlungen zu Kriegsverbrechen in der Ukraine eingeleitet. Ankläger Karim Khan rief am Donnerstag in Den Haag auch Menschen im Konfliktgebiet auf, Informationen zu möglichen Verbrechen bei der Anklagebehörde zu melden. „Keiner im Ukraine-Konflikt hat eine Lizenz, Kriegsverbrechen im Rahmen der Zuständigkeit des Internationalen Strafgerichtshofes zu begehen“, erklärte der Chefankläger.
Bereits zu Beginn der Woche hatte der Ankläger Ermittlungen angekündigt. Er werde dazu eine richterliche Verfügung beantragen. Da nun 39 Vertragsstaaten den Fall offiziell an seine Behörde übertragen hätten, werde er die Ermittlungen sofort einleiten. Zu den Staaten, die die Untersuchung fordern, gehören die EU-Mitgliedsstaaten.
Die Anklage ermittelt nun zu möglichen Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit, die seit November 2013 in der Ukraine begangen wurden. Russland erkennt das Gericht nicht an. Die Ukraine ist ebenfalls kein Vertragsstaat, hat aber die Zuständigkeit des Gerichts zu möglichen Verbrechen anerkannt. (dpa)
diesem Krieg kein Zurück. Und dass die Russen für Mariupol und Kiew „humanitäre Korridore“einrichten wollen, lässt die Ukrainer Schlimmes erwarten. Etwa Flächenbombardements ihrer Plattenbausiedlungen mit Fassbomben wie im syrischen Aleppo. Der ukrainische Präsidentenberater Mikhailo Podoliyak äußerte gestern wieder die Hoffnung, die Nato werde den Luftraum über der Ukraine zur Flugverbotszone erklären. Auch wenn Nato-Jets dann Luftkämpfe mit eindringenden russischen Flugzeugen führen müssten.
Einen Liveblog zum RusslandUkraine-Konflikt gibt es unter www.schwaebische.de/ russland