Verlust und Vermächtnis
Nach Plaudern steht einem derzeit nicht der Sinn. Aber Serien haben ihre eigenen Gesetze, und Gesetze muss man achten. Reden wir aus gegebenem Anlass noch einmal, wie schon letzte Woche, über Namen, diesmal allerdings nicht über Familiennamen, sondern über Vornamen – und das mit persönlicher Note.
Zu Beginn des Mittelalters kamen unsere Vorfahren noch mit einem Namen aus. Schon damals war es üblich, dass dieser Name vom Vater auf den erstgeborenen Sohn überging, und im Lauf der Jahrhunderte ergaben sich auf diese Weise Familientraditionen. Stilbildend waren dabei nicht zuletzt die großen Dynastien. Herrschernamen wie Karl, Ludwig, Otto, Konrad, Friedrich, Heinrich, Ludwig, Maximilian, Ferdinand oder Wilhelm wurden auch von anderen Schichten übernommen. Als vom 16. Jahrhundert an solche Nachbenennungen immer häufiger wurden, ging zwangsläufig die Namensvielfalt zurück. So kam die Sitte auf, mehrere Vornamen zu vergeben – man denke an Johann Sebastian Bach, Gotthold Ephraim Lessing oder Johann Wolfgang von Goethe.
In meinem Schreibtisch liegt ein Erbstück, das mich in meiner Jugend magisch anzog – das Petschaft, also der Siegellackstempel, meines Urgroßvaters mütterlicherseits, mit noblem Holzgriff und in Messing eingravierten Initialen:
für Damit hatte er auch vorgesorgt. Seinen ersten Sohn nannte er
den zweiten wiederum seinen Sohn
taufen ließ. Das Petschaft stimmte immer. Jener
kam dann 1942 in einem UBoot ums Leben. Damit erlosch die Tradition. Zu meinem Namen passten die Initialen zu meinem größten Bedauern nicht.
der
Um 1900 war in Deutschland ein sehr beliebter Vorname – bei evangelischen Eltern stand oft der Schwedenkönig Gustav Adolf Pate, bei katholischen der Sozialreformer Adolph Kolping. Mein Großvater väterlicherseits hieß Mein Vater wurde getauft. Aber damit nicht genug: Der zweite Sohn hieß wieder Nach 1933 nahm dieser Name – aus bekannten Gründen – einen immensen Aufschwung, um dann nach 1945 fast völlig zu verschwinden. Für meine Eltern hatte er schon vorher jegliche Anziehungskraft verloren.
Stattdessen wurde ich 1944 getauft – und damit bin ich beim Punkt: Am Sonntag sind es genau 80 Jahre, dass mein Onkel, der Bruder meiner Mutter, am 6. März 1942 bei Kämpfen vor Charkow erschossen wurde. Zu seinem Gedenken bekam ich kurz vor Kriegsende seinen Namen – womit ich übrigens kein Einzelfall war. Damit nicht genug: 1943
Rolf Waldvogel Unsere Sprache ist immer im Fluss. Wörter kommen, Wörter gehen, Bedeutungen und Schreibweisen verändern sich. Jeden Freitag greifen wir hier solche Fragen auf.
starb der Bruder meines Vaters, ebenfalls in Russland. Deswegen mein zweiter Vorname So gehört es zu meinen frühesten Kindheitserinnerungen, dass – wann immer zu Hause die Namen dieser beiden Toten fielen – unendliche Trauer mitschwang um deren Verlust. Aber es waren eben auch meine Namen. Mit dieser melancholischen Begleitmusik meiner Jugend lernte ich zu leben – und aus der Last wurde schließlich ein Vermächtnis für das eigene Denken.
Wahnsinn wiederholt sich leider, das lehrt uns die Weltgeschichte. Aggressoren gehen locker über die Leichenberge des Gegners und treten den Friedenswillen brutal in den Schmutz. Aber sie blenden auch jeden Gedanken an den Blutzoll auf der eigenen Seite gewissenlos aus – und verbrämen ihn zynisch obendrein. Drei Monate nach dem Tod meines Onkels bei Charkow kam ein Brief an meine Großeltern, darin die Medaille für Verdienste bei der Winterschlacht 41/42 im Osten. Mit deutschem Gruß. Da stockt einem das Blut – gerade in diesen Tagen.
Wenn Sie Anregungen zu Sprachthemen haben, schreiben Sie! Schwäbische Zeitung, Kulturredaktion, Karlstraße 16, 88212 Ravensburg