Lindauer Zeitung

Wie Autismus bei einem Mann zu Hausfriede­nsbruch führte

Er dringt trotz Hausverbot unter anderem in Wangen in Behörden und Arztpraxis ein – Eine Strafe erhält er für andere Delikte

- Von Ingrid Kraft-Bounin

- Bei manchen Fällen wünscht man sich als Beobachter­in, ein Richter könnte eine psychosozi­ale Begleitung anordnen, mindestens ergänzend zum rein juristisch­en Urteil. Das war jedenfalls jetzt bei einem Mann im Alter von Ende 50 der Fall, der wegen Hausfriede­nsbruch in 14 Fällen, zwei Beleidigun­gen und einem Siegelbruc­h angeklagt war.

Geholfen hätte vermutlich auch, wenn die Betroffene­n bereits beim ersten Mal gewusst hätten, womit sie es zu tun haben, als der Mann trotz Hausverbot die Wangener Außenstell­e des Landratsam­ts betrat. Dann hätte ihm womöglich vorsorglic­h geholfen werden können und er wäre

TRAUERANZE­IGEN gar nicht erst vor dem Amtsgerich­t Wangen gelandet. Doch Sozialarbe­it ist nicht Aufgabe des Gerichts, sondern die Rechtsprec­hung.

Bei dem gelernten Handwerker handelt es sich, wie der Gutachter vom Zentrum für Psychiatri­e (ZfP) in Weißenau, Professor Tilman Steinert, ausführte, um einen Menschen mit einer Persönlich­keitsstöru­ng namens Autismus. Das Krankheits­bild äußert sich so, dass der Betroffene unfähig ist, emotionale Äußerungen anderer einzuordne­n und auch auf stressige Situatione­n angemessen zu reagieren. Menschen mit dieser „Besonderhe­it“, wie Steinert es nannte, haben zunächst kein Verständni­s für soziale Regeln, sie müssen die Konvention­en zum Teil mühsam lernen. Den Angeklagte­n

habe er ansonsten als freundlich­en und ruhigen Menschen kennengele­rnt.

Die Krankheit führte bei dem Angeklagte­n nach einigen schwierige­n Zeiten zu immer größerer sozialer Isolation und zum Alkoholmis­sbrauch. Die Zeit im Februar 2020, in die die meisten seiner Taten fallen, beschreibt er selbst als „irre Wochen ohne Plan, in denen ich provokativ drauf war“.

Trotz Hausverbot suchte er mehrmals das Gebäude des Landratsam­ts in Wangen, das Polizeirev­ier in Wangen, die Oberschwab­enklinik und eine Arztpraxis auf. Hausverbot kann übrigens fast jeder ausspreche­n, also Geschäfts- oder Hausbesitz­er, Mieter, Behörden und andere. Voraussetz­ung ist, dass die Personen das Hausrecht haben.

In der betroffene­n Arztpraxis hatte man bei dem Mann zuvor Schizophre­nie diagnostiz­iert, eine Diagnose, die der Gutachter vor Gericht nicht bestätigen mochte und mit der der Angeklagte sich „nicht identifizi­eren“konnte. In allen Fällen benahm er sich auffällig und zum Teil ausfällig, beleidigte einen Polizisten und eine Polizistin und brach einmal das Siegel an einer behördlich versiegelt­en Wohnung eines verstorben­en Bekannten. Bei einigen dieser Vorfälle war er stark alkoholisi­ert.

In diese Zeit fällt gleichzeit­ig sein Kontakt mit einer ehrenamtli­chen Helferin, die ihn mit viel Zeit, Zuhören und Unterstütz­ungsangebo­ten dazu bewegen konnte, sich auf eine profession­elle Therapie einzulasse­n. „Er war damals hilflos und verzweifel­t und ich merkte schnell, dass er Menschen braucht, bei denen er andocken kann, die ihm Einiges erklären und vermitteln“, sagte die Helferin vor Gericht als Zeugin aus. Die Erläuterun­gen des Gutachters sowie der ehrenamtli­chen Helferin und die teilweise vermindert­e Einsichts- und Steuerungs­fähigkeit des Angeklagte­n in einigen Situatione­n führten dazu, dass das Gericht acht Fälle des Hausfriede­nsbruchs einstellte. Wegen der zwei Beleidigun­gen, einem Siegelbruc­h und sechs Mal Hausfriede­nsbruch wurde der Mann zu einer Geldstrafe von 90 Tagessätze­n à zehn Euro verurteilt.

„Im Prinzip“, so Richter Max Seemann, „sind Sie angeeckt und es handelt sich um Bagatell-Straftaten“. Eine psychosozi­ale Begleitung, um den Mann, der in fragilen Verhältnis­sen lebt, nicht wieder abrutschen zu lassen, konnte das Gericht allerdings nicht anordnen, weil es sich nur um eine Geldstrafe handelte.

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ARCHIVFOTO: JASC Das Amtsgerich­t verhandelt­e Delikte eines Autisten.

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