„Der olympische Frieden wird missachtet“
Zwölffache Paralympics-Siegerin Verena Bentele sieht die Spiele mit gemischten Gefühlen
- Zwölf Paralympicssiegen bei vier Spielen: Verena Bentele (40) ist eine der erfolgreichsten Parasportlerinnen Deutschlands. Wenn am Freitag die Paralympics in Peking eröffnet werden, wird die gebürtige Lindauerin, die in Laimnau bei Tettnang aufgewachsen ist, mit den deutschen Athletinnen und Athleten mitfiebern – als Fan, Präsidentin des Sozialverbands VdK und Vizepräsidentin des Deutschen Olympischen Sportbunds (DOSB). Im Interview mit Martin Deck spricht die ehemalige Behindertenbeauftragte der Bundesregierung über die Entwicklung des Parasports, die umstrittenen Spiele in China und den Ausschluss russischer und belarussischer Sportler.
Frau Bentele, während der Olympischen Spiele haben Sie sich regelmäßig die Nächte um die Ohren geschlagen. Haben Sie denn schon wieder genug Energie getankt, um jetzt erneut für die Paralympics wach zu bleiben?
Ich bin voller Energie. Für uns ehemaligen Parasportler ist es einfach toll, dass inzwischen auch so viel von den Paralympics im Fernsehen übertragen wird. Das ist eine große Veränderung, die mich sehr glücklich macht. Als ich 1998 nach meinen ersten Paralympics in Nagano nach Hause kam, saß ich bei meinen Großeltern auf dem Sofa und es kam eine einstündige Zusammenfassung von den Spielen. Das war es aber auch schon mit der Berichterstattung. Heute können alle, die wollen, sich informieren, zuschauen, mitfiebern – das macht den Sport doch aus.
Dabei fahren ARD und ZDF die Liveberichterstattung aus Peking deutlich zurück, halbieren die Sendezeiten im Fernsehen sogar im Vergleich zu Pyeongchang 2018 und verlagern die Paralympics vor allem ins Internet. Wie bewerten Sie das? Das finde ich schon sehr schade, weil man somit auch die Menschen nicht zum paralympischen Sport bringt. Wenn man wirklich neue Fans und auch neue Talente für den Parasport gewinnen möchte, ist das leider der falsche Weg.
Sehen Sie die positive Entwicklung der vergangenen Jahre, die auch Sie mit Ihren Erfolgen angestoßen haben, in Gefahr?
Nein, noch nicht. So wie ich das verstanden habe, gilt das nun erst mal für die Wettbewerbe in China. Ich hoffe einfach, dass diese Entscheidung bei den nächsten Spielen 2026 in Italien, wenn es keine Zeitverschiebung gibt, wieder revidiert wird.
Ich fand die Leistungen unsere Sportlerinnen und Sportler top. Aber das ganze Drumherum war schon schwierig, weil der Sport ganz ohne Fans und Zuschauer einfach nicht so eine Stimmung hat. Außerdem fand ich es schade, dass unsere Athletinnen und Athleten nicht die Möglichkeit hatten, dieses Flair im olympischen Dorf zu erleben, das den Reiz der Spiele eigentlich ausmacht.
Nun sind Sie aber nicht nur Sportfan, sondern auch DOSB-Vizepräsidentin. Wie fällt da das Fazit aus? Welche Rückmeldungen kamen von Sportlern und Funktionären?
Sie erzählen, dass es schon sehr beeindruckend war, was dort aus dem Boden gestampft wurde. Die Organisation war wohl sehr straff – aber effektiv. Es hat alles funktioniert. Aber es kam trotz aller Mühen einfach kaum Stimmung auf.
Sie haben als Sportlerin die Spiele in Nagano, Salt Lake City, Turin und Vancouver mitgemacht. Das waren recht unbeschwerte Spiele. Haben Sie Mitleid mit Ihren Nachfolgerinnen und Nachfolgern, die nun mit Sotchi, Pyeongchang und Peking drei Spiele in Folge mit schwierigem politischem Hintergrund erleben? Schön ist das natürlich nicht, das hätte ich mir schon anders gewünscht für unsere Sportlerinnen und Sportler. Sie können sich ja nicht aussuchen, wo die Spiele hinvergeben werden, und müssen dann dort starten.
Und dennoch sollen sie sich dann dafür rechtfertigen. Ist das ungerecht?
Das ist genau der Punkt. Für die Sportlerinnen und Sportler stehen die Wettkämpfe im Vordergrund, ihnen geht es vor allem darum, dass sie ihre Leistung zeigen wollen. Wenn man wirklich etwas an der Lage in China verändern möchte, kann man mit wirtschaftlichen Einschnitten sicherlich mehr erreichen, als das mit einem Sportereignis zu versuchen.
Auch Sie haben vor Olympia die Vergabe der Spiele an China kritisiert, aber bemängelt, dass die Diskussion darum viel zu spät kam. Wieso?
Ich finde einfach, es kommt deutlich zu spät, wenn man zwei Wochen vor der Eröffnung beginnt zu diskutieren, warum mit China ein Land die Spiele bekommt, in dem die Menschenrechte nicht so geschützt sind wie bei uns. Das hätte man schon diskutieren müssen, als es darum ging, wo die Spiele hinvergeben werden. Da haben sich aber Staaten wie Deutschland und andere zurückgehalten. Zwei Wochen vorher kann man dann nichts mehr verändern. Das wäre, als ob man für viel Geld ein Autowerk in China bauen lässt und dann kurz vor der Inbetriebnahme sagt: Produzieren könnt ihr hier nichts.
Neben Peking stand am Ende nur noch Almaty in Kasachstan zur Wahl, weil sich andere Länder wie Norwegen und Deutschland vorzeitig zurückgezogen haben. Was muss sich an den Vergaberichtlinien ändern, damit die Spiele auch für diese Länder wieder interessant werden?
Das IOC hat mit seiner Nachhaltigkeitsagenda das Thema erkannt und hat die nächsten Spiele an Orte vergeben, in denen es schon die Infrastruktur gibt. Das ist schon mal ein gutes Zeichen. Aber man müsste noch mehr Wert darauf legen, den Ländern aufzuzeigen, welche positiven Veränderungen mit den Spielen möglich sind. Ich selbst habe während meiner Studienzeit in München im olympischen Dorf von 1972 gewohnt. Die ganze Stadt profitiert bis heute von der Infrastruktur, die damals für die Spiele geschaffen wurde.
Zuletzt wurden immer mehr Stimmen laut, die sich eine erneute Bewerbung Deutschlands wünschen. Gehören Sie auch dazu?
Ich würde mich sehr freuen, wenn sich Deutschland wieder bewirbt. Als DOSB-Präsidium möchten wir das gerne auch vorantreiben. Und ich bin mir sicher, wenn die Themen Nachhaltigkeit und soziales Engagement durch Sport und im Sport wieder mehr in den Fokus rücken, dass der Sport dann auch wieder positiver aufgenommen wird und die Chancen wachsen, in der Bevölkerung Zustimmung zu erreichen. Das ist das Wichtigste: Man darf das nicht über den Kopf der Leute hinweg entscheiden, es braucht eine breite Zustimmung.
Für die Paralympics kommen all diese Überlegungen zu spät. Zu den bekannten Problemen rund um Corona und die Menschenrechtsverletzungen kommt nun auch noch der Krieg in der Ukraine und überschattet die Spiele.
Natürlich wünscht man sich, dass es überhaupt keine Auseinandersetzungen mit Krieg und Waffen gibt. In erster Linie ist dieser Krieg für die Menschen in der Ukraine eine Katastrophe. Daneben finde ich es schon sehr bedauerlich, dass die russische Regierung und ihr Staatschef den olympischen und paralympischen Frieden missachten. Das hat die Spiele ja bereits beeinflusst.
Was sagen Sie zu der Entscheidung des IPC, die Athleten aus Russland und Belarus nun doch ganz auszuschließen, anstatt sie unter neutraler Flagge starten zu lassen?
Wir hatten uns als DOSB klar für einen Ausschluss positioniert, weil wir klar sagen, dass es nicht sein kann, dass Putin in China Medaillen feiert und zeitgleich Krieg in Europa führt. Das ist das absolut falsche Zeichen. Auch wenn man klar sagen muss, dass die russischen Sportlerinnen und Sportler nichts dafür können, sie sind sicherlich auch gegen den Krieg. Insgesamt aber war die Kehrtwende des IPC eine notwendige Korrektur.
Sehen Sie irgendeine Chance, dass die Spiele in China auch freudige Aspekte haben werden?
Man muss es einfach hoffen und alles dafür tun. Auch wenn Freude ein schwieriges Wort ist, wenn man sieht, was auf der Welt gerade passiert.