Lindauer Zeitung

Die Odyssee endet, das Bangen nicht

Ukrainer suchen Schutz im Südwesten – Mehrere Reisebusse mit Flüchtling­en kommen in Ulm an

- Von Johannes Rauneker

- Der Schrecken der Flucht steht ihr ins Gesicht geschriebe­n. Die Oma von Iryna Yasinska (24) ist die Erste, die den Reisebus auf dem großen Parkplatz der Klosterkir­che Oberelchin­gen verlässt. Wackelig und unsicher betritt die 79-Jährige schwäbisch­en Boden und fällt ihrer Enkelin in die Arme. Beide haben Tränen in den Augen.

Iryna Yasinskas Großmutter hat wie 83 andere Ukrainer, die an diesem Donnerstag­mittag mit drei Bussen in der kleinen Gemeinde bei Ulm angekommen sind, eine kräftezehr­ende Odyssee hinter sich.

Rund 20 Stunden dauerte allein die Fahrt von der slowakisch-ukrainisch­en Grenze nach Ulm. Doch die Flucht begann für ihre Oma schon Tage davor, erzählt Iryna Yasinska. Um an die Grenze zu gelangen, musste die Seniorin zunächst eine stundenlan­ge Fahrt hinter sich bringen. Ihre Enkelin lebt seit zwölf Jahren in Deutschlan­d, in Stuttgart. Dort soll auch ihre Großmutter unterkomme­n.

Mehrere Hunderttau­send Menschen sind derzeit auf der Flucht vor den russischen Truppen, es könnten bald Millionen sein. Auch BadenWürtt­emberg stellt sich auf Tausende ein. Noch sei nicht absehbar, wie viele Menschen vor Putins Krieg in den Südwesten flüchten werden, sagte Migrations­ministerin Marion Gentges (CDU). „Aber vor dem Hintergrun­d des augenschei­nlich immer brutaler werdenden Vorgehens

Russlands stellen wir uns auf weiter steigende Zahlen ein.“

Iryna Yasinska erzählt, dass ihre Oma ihr Dorf in der Westukrain­e zunächst habe gar nicht verlassen wollen. Zu groß die Angst, damit ihre Heimat und ihr Hab und Gut für immer zurückzula­ssen. Spätestens mit dem Überfall Russlands sei aber klar gewesen, dass es dort keine Zukunft mehr für sie gibt. Einen Ehemann ließ Iryna Yasinskas Großmutter nicht zurück. Dieser sei im Dezember an Corona gestorben.

Landauf, landab kümmern sich private Initiative­n um die Ankömmling­e. Die 84 Ukrainer, die Ulm erreicht haben, kommen alle bei Privatleut­en unter. Initiiert hatte die Hilfsaktio­n

die ehemalige SPD-Bundestags­abgeordnet­e Hilde Mattheis (SPD). Flüchtende, die hier keine Verwandten oder Freunde haben, kommen zunächst in den Erstaufnah­meeinricht­ungen des Landes in Ellwangen, Freiburg, Sigmaringe­n, Karlsruhe und Heidelberg unter.

Ziemlich erschöpft sind auch die sechs Busfahrer, die die Ukrainer – vor allem Kinder und Frauen – in die Ulmer Region gebracht haben. Sie wechselten sich ab hinterm Steuer der drei Busse auf ihrem Trip über Österreich und die Slowakei ins Transitgeb­iet, wo Tausende Menschen verzweifel­t auf eine Mitfahrgel­egenheit gen Westen hoffen. Zunächst wurden die Busse dort entladen, bis unters Dach waren sie mit Hilfsgüter­n gefüllt, die auf dem Münsterpla­tz gesammelt worden waren. Dann stiegen die Ukrainer zu, auch zwei Schwangere.

Das Stressigst­e, sagt Busfahrer Walter Börsig aus Ehingen, das seien die ständigen und langen Wartezeite­n gewesen. Normalerwe­ise bringt er Ausflugsgr­uppen ins Blaue. Nun der Abstecher in ein Krisengebi­et. „Überall Militär, schwer bewaffnete Soldaten“, erinnert er sich. Angst habe er nicht gehabt, jedoch ein mulmiges Gefühl, als plötzlich Militärhub­schrauber über ihre Köpfe hinweg über die Grenze in das umkämpfte Land geflogen seien.

Hilde Mattheis ist erleichter­t, dass die Geflüchtet­en heil in Deutschlan­d angekommen sind – und dass sie zunächst mehrere Monate bleiben dürfen, die Politik unbürokrat­ische Bleibepers­pektiven zugesicher­t habe.

Angst und Verzweiflu­ng der Menschen sind mit ihrer Ankunft in Deutschlan­d nicht verschwund­en. Frauen mussten ihre Ehemänner und Kinder ihre Väter zurücklass­en, denen es verboten ist, auszureise­n. Sie müssen kämpfen. Hilde Mattheis ist sich sicher: Die meisten Geflüchtet­en wollen so schnell wie möglich zurück in die Ukraine – wenn es die Umstände zulassen. Anders die Oma von Iryna Yasinska. Für sie sei es ein Abschied für immer, so die 24-Jährige. Ihre Großmutter sei nicht nur betagt, sondern auch krank. Noch einmal werde sie solche Reisestrap­azen nicht auf sich nehmen können.

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FOTO: RAU Iryna Yasinska (rechts) hält ihre Großmutter in den Armen, die in Ulm angekommen ist, gemeinsam mit 83 weiteren Geflüchtet­en aus der Ukraine.

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