Extreme Zeiten
Wie die Klimakrise unsere Region verändert – Ein Treffen mit Wetterexperte Roland Roth
Von Dirk Grupe
- Schwer zu sagen, welcher Leidenschaft Roland Roth mehr nachgeht, seiner Faszination für das Wetter oder seiner Hingabe für den Fußballclub Eintracht Frankfurt. In seiner Wetterwarte Süd in Bad Schussenried versucht er zumindest, beides miteinander zu verbinden. In den Räumlichkeiten bleibt keine Ecke von den Devotionalien verschont, Fahnen, Tassen, Wimpel, Kissen, Schals und Mauspad in RotSchwarz-Weiß lassen eine gewisse Begeisterung für die Kicker aus Hessen erkennen, genauso wie das Adler-Wappen der Eintracht über seinem Schreibtisch. Darunter tut sich jedoch eine ganz andere Welt auf. Auf Monitoren werden Luftdruck, Windstärken und Niederschläge angezeigt, vielfarbige Wettermodelle setzen sich mit einem Mausklick in Bewegung, spucken Prognosen und Wahrscheinlichkeiten aus. „Ich bin ein Zahlenfetischist“, erklärt Roth. Und weil seine Wetterdaten der vergangenen Jahrzehnte umfangreich und unbestechlicher Art sind, hat er einen Beschluss gefasst: „Ich bin nicht mehr bereit, darüber zu reden, ob es den Klimawandel gibt oder nicht“, sagt der 67-Jährige. „Wir reden ja auch nicht darüber, ob die Erde eine Scheibe ist. Das ist bei den meisten ja auch durch.“
Der Klimawandel. Mögen aktuell zwar Pandemie und Krieg die Nachrichten bestimmen, wird wohl kaum ein Thema die Menschen so nachhaltig beschäftigen und auch belasten. Von den drohenden Ausmaßen hatte Roland Roth bereits eine Ahnung, als er 1968 die Wetterwarte Süd gegründet hat. Ab Anfang der 1980er-Jahre klapperte er dann mit dem Fahrrad die Region ab, um Vorträge über die Einflüsse auf das Wetter zu halten. Wie dramatisch sich die Dinge noch entwickeln sollten, wurde ihm endgültig im Jahr 1983 klar.
Im März war damals seine Welt noch in Ordnung, da konnte Eintracht Frankfurt im Waldstadion die ungeliebten Bayern mit 1:0 bezwingen (Tor: Bernd Nickel). Schon im Juli geriet jedoch seine meteorologische Welt aus den Fugen. „Wir hatten plötzlich Temperaturverhältnisse wie in Ägypten, es war sogar heißer als in Kairo.“In jenem Monat registrierte er 30 Sommertage mit über 25 Grad – und 17 Tage mit über 30 Grad. „Das waren in einem Monat so viele Hitzetage, wie ich seit 1968 in Summe aufgeschrieben hatte.“Und das war erst der Anfang.
Wenn Roth heute die rasante Entwicklung erklärt, greift er gerne 15 000 Jahre zurück. „Da lag der Bodensee unter einem mächtigen Gletscher, der wie eine überdimensionale Planierraupe die Landschaft formte und modellierte.“An dessen Nordrand schauten die Rentierjäger an der Schussenquelle auf das zurückweichende Eismeer, aus dem der Gipfel des Pfänders herausragte. Damals war es viereinhalb bis fünf Grad kälter als 1980. „Also gar nicht so viel, wie manche meinen.“Seither, also in den vergangenen 40 Jahren, sind die Temperaturen weltweit um rund ein Grad Celsius angestiegen. Im Verbreitungsgebiet der „Schwäbischen Zeitung“waren es in diesem relativ kurzen Zeitraum sogar 1,5 bis 2 Grad. Zum Vergleich: Nach Ende der Eiszeit hatte die Natur für eine Erwärmung um 2 Grad noch 3000 Jahre gebraucht. „Seit Anfang der 1980erJahre erleben wir eine Erderwärmung im Zeitraffertempo.“Wobei es regionale Unterschiede gibt.
So ist es in Bad Schussenried und in Orten mit ähnlicher Höhenlage heute etwa so warm wie vor vier Jahrzehnten im rund 200 Meter tiefer gelegenen Konstanz. Dort liegen die Temperaturen nun in einem Bereich, der in den 1980erJahren in Freiburg üblich war. Freiburg wiederum misst Temperaturen, die denen Norditaliens vor 40 Jahren gleichen. „Das sind Fakten, den Klimawandel können wir nachweisen“, bekräftigt Roth. Davon überzeugen lässt sich trotzdem nicht jeder. Skeptiker gab es zwar schon immer, doch in den vergangenen Jahren bedrängen sie den Fachmann massiv, ihre oft abenteuerlichen Ansichten lässt Roth unkommentiert. „Den Klimawandel bringen wir in diese Köpfe nicht mehr rein.“
Aber auch gemäßigte Zeitgenossen hauen manchmal gerne einen Spruch raus und fragen dann nach kräftigem Schneefall im Januar forsch: „Ja, Herr Roth, wo ist denn jetzt der Klimawandel?“„Das ist kleinkariert, aus dem Fenster zu schauen und zu glauben, das Klima beurteilen zu können.“Das lässt sich nämlich nur global und langfristig einordnen. Von Wetter wird demnach in einem Zeitraum von drei bis sieben Tagen gesprochen, von Witterung bei einem Monat. „Klima aber bedeutet, wir müssen Wetter und Witterung über einen Zeitraum von 30 Jahren betrachten. Alle Parameter sorgsam aufschreiben, nach den geltenden Richtwerten vergleichen und daraus einen Mittelwert ziehen.“ Das zu verstehen, gelingt am ehesten, wenn die Menschen den Klimawandel am eigenen Leib erfahren.
Das war der Fall, als Roth vor Jahren nach einem Vortrag in Ochsenhausen-Mittelbuch eine Gaststätte aufsuchte
(„Die haben da ein hervorragendes Kellerbier“) und sich einem Stammtisch anschloss. Schnell kam das Gespräch auf Wetterextreme und die Meinungsführer in der Runde polterten: „Ach Herr Roth, hören Sie auf, das hat es bei uns früher schon gegeben.“
Roth antwortete nur: „Lass uns lieber über den FC Bayern München reden, wenn ihr nicht seht, dass sich hier was verändert hat.“
Wenig später, Anfang Mai, brach über das Gebiet ein Unwetter herein, der Schaden betrug 100 Millionen Euro. Im Juni ein ähnliches Desaster, erneut wurden die Wassermassen über die Bäche getragen und verschluckten die Landschaft. Eine Frau erzählte Roth, wie sie in Panik geriet, weil sie ihre beiden Kinder im Keller vermutete, der rasend schnell geflutet wurde. Nach der Katastrophe rief ihn auch einer der damaligen Stammtischbrüder an: „Hallo Role, darf ich überhaupt noch Role sagen, nach dem Mist, den ich erzählt habe. Ich habe so etwas noch nie erlebt. Ich hatte Angst um mein Leben.“
Der Klimawandel mag zwar eine schleichende Gefahr sein, längst bedroht er jedoch die Menschen in Existenz und Leben. Im Hitzesommer 2003 starben entlang der Rheinschiene 50 000 Menschen, 2006 folgte die nächste Hitzewelle, 2018 der längste Sommer seit Beginn der Aufzeichnung, in der Folge trocknete der Roggensee bei Bad Schussenried, der in der Eiszeit entstanden ist, komplett aus. Ähnliche Entwicklungen gelten für die stürmischen Elemente. „Bis vor einigen Jahren hat man noch über Oberschwaben von einer Insel der Glückseligen gesprochen“, sagt
Roth. Bei uns kommen die Stürme nicht so gehäuft an, hieß es, die Wetterextreme seien überschaubar, im Vergleich fast schon marginal. „Spätestens seit Orkan Lothar weiß man, dass dem nicht so ist. Mit den Schäden haben wir teilweise noch heute zu kämpfen.“Hagel, Frühfrost, Hochwasser und Sturmwinde gelten inzwischen als übliche Wetterphänomene. Was aber geschieht in der Atmosphäre, dass es immer häufiger zu solchen Ausbrüchen kommt?
23. Juni 2021, Herbertingen-Marbach, Landkreis Sigmaringen. In großer Höhe befinden sich zu dieser Zeit noch immer Reste kühler Polarluft. Am Boden dagegen verzeichnet die Wetterwarte Süd Hitzetage mit Spitzenwerten nahe 35 Grad, es entsteht schwül-warme, mit Feuchtigkeit gesättigte Luft. Heiße Luft plus mehr Wasserdampf ist jedoch gleich mehr Energie. Trifft nun die Höhenkaltluft auf die feuchtlabile Luft, dann brodelt es in der Wetterküche – und die Energie entlädt sich. „Das ist so, als ob ein Schwamm mit zu viel Wasser schlagartig ausgepresst wird“, erklärt Roth. So auch an diesem Junitag. Drei Stunden lang tobt das Gewitter und schüttet Wassermassen aus, die Marbacher Ortsdurchfahrt gleicht einem Fluss, Fahrzeuge werden mitgerissen, Keller und Einliegerwohnungen laufen voll.
„Dieses Unwetter ist eindeutig auch dem veränderten Klima geschuldet“, sagt Roth. Weil die im Schnitt höheren Temperaturen (bei uns 1,5 bis 2 Grad) nun mal bedeuten, dass die Luft mehr Wasserdampf aufnehmen kann, was sie bei bestimmten Wetterlagen auch tut. Unter den Folgen leiden Bürger, Gemeinden, Landwirte und Gewerbetreibende, die Kosten der Schäden können genauso zerstörerisch sein wie die Naturkatastrophen. Die Fichte, der Brotbaum der Waldwirtschaft, hat ausgedient, nicht windbeständig, nicht trockenresistent, die Wurzeln zu flach. Was den Borkenkäfer freut, der Wärme liebt, der nach Sturm über das Holz herfällt, 2018 brachte er gleich vier Generationen hervor. Hinzu kommt ein weiterer Klimaeffekt.
Er betrifft den Jetstream, das Starkwindband, das in großer Höhe von West nach Ost um die Nordhalbkugel rast. Der Jetstream lebt vom Temperaturunterschied im immer kalten Norden und in den warmen Subtropen. Die Polargebiete haben sich jedoch weitaus stärker erwärmt als die Subtropen, wodurch die Temperaturunterschiede geringer geworden sind – und damit auch die Antriebskraft des Jetstreams.
Die Folge sind länger anhaltende Wetterlagen, mal bestimmt durch Hochdruck, mal durch Tiefdruck. Vergangenes Jahr herrschte dadurch von Mai bis weit in den August hinein Regen, 2018 dagegen der ewige Sommer. Diese Unberechenbarkeit bleibt, und, da ist sich Roth sicher, die Wetterextreme nehmen weiter zu. Es sei denn, wir steuern gegen? Was wir auch tun?
„Wir machen wirklich zu wenig“, sagt Roth, „ich sehe da ernsthaft keine Veränderung.“Oberschwaben werde mit Neubaugebieten und interkommunalen Industriegebieten zugepflastert, statt Brachflächen zu nutzen und klimafreundlich in die Höhe zu wachsen. „Aber je weniger Versickerungsflächen, um so mehr
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Versicherungsfälle“, warnt der Experte vor allzu großer Versiegelung, er rät zu einer weitsichtigen Planung. „Dass wir die Freiluftschneisen vom Altdorfer Wald runter freihalten, wird in zehn Jahren noch weitaus wichtiger sein als heute. Außerdem hat der Altdorfer Wald eine Schwammfunktion, er nimmt das Wasser auf, hätten wir ihn nicht …“
Roland Roth trägt seinen Teil für das Klima bei, auf eigene Weise. „In Bad Schussenried haben wir eine Brauerei und wir haben einen Bahnhof“, sagt er. „Das braucht eine Stadt, dann bist du in einem guten Leben.“Vor allem dem Bahnhof ist es zu verdanken, dass Roth nicht mehr als 1000 Kilometer im Jahr mit dem Auto fährt, auch schwingt er sich täglich auf seinen Drahtesel, gerne in kurzer Hose, bei Wind und Wetter. „Ich genieße es, mit dem Fahrrad über Bergatreute zu fahren. Manchmal sehe ich dann, wie sie unten im Berufsverkehr im Stau stecken“, sagt er. „Die Menschen glauben nicht, wie viel sie durch ihre Lebensweise an Lebensgenuss verlieren, und durch eine Veränderung gewinnen könnten.“
Einen Tag nach dem Treffen schickt Roth noch eine E-Mail mit Fotos, Fakten und einem freundlichen Abschluss: „Herzliche, wenn auch traurige Fußballergrüße.“Frankfurt hat am Wochenende verloren, gegen die Bayern, ausgerechnet, 0:1 (Tor: Sané). „Es kann nur besser werden!“Für die Eintracht, für die Teams im Keller, und ja, ganz besonders für das Klima.
Mehr Informationen zur Klima-Serie und alle Beiträge gibt es unter www.schwaebische.de/klima